Sie missüberschätzen uns. Über den Versuch, das Mittelstandsperlen-kettchen wie ein Lasso um das Ballhaus Naunynstraße zu werfen. Eine Komödie / by Marianna Salzmann

Sie missüberschätzen uns. Über den Versuch, das Mittelstandsperlenkettchen wie ein Lasso um das Ballhaus Naunynstraße zu werfen – Eine Komödie

Marianna Salzmann


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Acknowledgements:

This text originally appeared in freitext, no. 18 (October 2011).


http://vimeo.com/19538758/

Lachen: ist ein angeborenes Ausdrucksverhalten des Menschen, das nicht nur, aber vor allem in der Gemeinschaft mit anderen seine Wirkung entfaltet. Lachen ist die natürliche Reaktion eines gesunden Menschen auf komische oder erheiternde Situationen, erscheint aber auch als Entlastungsreaktion nach überwundenen Gefahren oder zur Abwendung drohender sozialer Konflikte sowie als Abwehrmechanismus gegen spontane Angstzustände.
—Wikipedia, »Lachen«, 5.7.11

Das Ding mit dem Humor ist bekanntermaßen eine verlorene Sache: Man kann nicht darüber diskutieren, man kann nicht darüber streiten, man kann Lachen nicht verbieten. Mein Lieblingswitz ist der aus »Pulp Fiction« über die Tomatenfamilie. Vincent Vega sagt zu Mia Wallace: »Erzählen Sie ihn! Ich werde auch nicht lachen.« »Genau davor habe ich Angst.« entgegnet sie. Und es stimmt – niemand lacht über diesen Witz. Außer mir.

Für Theatermacher ist Humor eines dieser Themen, das die Welt in Deutschland und den Rest spaltet. Es ist kein Geheimnis, dass die deutschen Bühnen sich schon immer schwer mit Komödien getan haben. Es gibt nicht viele Komödien, aber es gibt sie. Und wenn man die verstaubten Kurortbelustigungen weglässt, ist der einzige mir bekannte Ort in Berlin, der gegenwartsrelevante Komödien im Repertoire, führt das Ballhaus Naunynstraße. Ich habe Nurkan Erpulats Arbeiten seit seinen Anfängen in Hannover verfolgt und wenn ich freiwillig in eine Komödie gehe, dann in die seinen. 2006 interviewte ich ihn zu seiner Produktion »Heimat im Kopf«, die damals zu dem Berliner Jugendtheatertreffen eingeladen wurde (Abdruck in freitext Heft 11, Race and Space, S. 34ff). Eine bemerkenswerte Arbeit mit Jugendlichen über ihre Vorstellungen von Zugehörigkeit und Heimat, die mir Lachtränen in die Augen trieb.

Womit Nurkan Erpulat momentan in aller Munde ist, ist sein »Verrücktes Blut«. Eingeladen wurde das Stück unter anderem zum Theatertreffen und den Mühlheimer Theatertagen 2011 (es gewann bei Letzterem den Publikumspreis), also zu den elitärsten, wichtigsten Theaterveranstaltungen des deutschsprachigen Raums. »Verrücktes Blut« ist eine kritische Adaption von »La Journée de la Jupe«, einem französischen Film von 2008 in der Regie von Jean-Paul Lilienfeld, der die üblichen Opfer/Täter- Klischees durchkaut. Erpulat hat zusammen mit dem Dramaturgen Jens Hillje die Grundsituation aufgenommen – eine Lehrerin, die mit einer pöbelnden Klasse zu kämpfen hat -, um alle Klischees durchzuexorzieren: das Kopftuch(abnehmen), Affenmanieren, Deutsch (richtig aussprechen) können – es gibt nahezu kein Thema, das nicht zwischen den jungen Schauspieler/innen hin und her geworfen wird. Als Antwort feuert die Lehrerin mit der einem Schüler entwendeten Pistole in die Luft.

Eine Lehrerin greift zur Waffe, um ihren Schüler/innen die Leitkultursprache Deutsch und die dazugehörigen Klassiker näher zu bringen. Die größten Klischees und Fremdzuschreibungen werden hier in stanislawskischer Manier ausgespielt, um spätestens nach zehn Minuten brutal dekonstruiert zu werden. Ein befreundeter Regisseur sagte mir, er habe noch nie vorher einen so glaubwürdigen Schiller auf der Bühne gesehen. Man vergäße dabei aber nicht die Prämisse, dass Schiller gespielt wird mit vorgehaltener Waffe. Die Lehrerin erzwingt die Umarmungen zwischen Ferdinand und Luise mit Schüssen.

Hier geht es nicht um die Wiedergabe des Stücks. Das haben mittlerweile alle etablierten Zeitungen und Theatermagazine mit seitenlangen Berichten, Interviews, Coverstories gewürdigt. Und das zu Recht! Zu der Inszenierung selbst von meiner Seite nur zwei Dinge, die ich hervorheben will: Auf der Bühne hängt der P.o.C.- Schulklasse ein schwerer deutscher Flügel über dem Kopf, der immer wieder zwischendurch deutsche Volkslieder anspielt. Und: bevor die Schauspieler/innen auf die Bühne gehen, ist es für die Zuschauer/innen sichtbar, wie diese in ihre (Ghetto-) Kostüme schlüpfen. Nurkan Erpulat sagt,  »das ist ein Stück über den Blick auf uns.«

Warum ist das Stück nun so erfolgreich? Weil es sehr gut ist, würde ich gerne sagen. Das stimmt auch, aber die anderen Arbeiten von Erpulat sind es auch. »Lö Bal Almanya« zum Beispiel, ein Stück über fünfzig Jahre Gastarbeiter/innengeschichte. Was ist mit »Jenseits – bist du schwul oder bist du Türke?« Ganz zu schweigen von anderen Produktionen vom Ballhaus, die immer politisch, immer aktuell, immer auf den Punkt sind? Was ist das mit »Verrücktes Blut«, warum trifft es so ›den Nerv der Zeit‹ wie alle Kritiker/innen aus einem Mund schreien? Warum lacht man hier? Worüber?

Ich denke an das Interview, das Shermin Langhoff, die Künstlerische Leitung des Ballhaus Naunynstraße 2009 der taz gab, in dem sie sagt: »Mit den Wanderungsbewegungen gab es auch migrantisches Theater, aber vor allem als Kabarett und heute als Comedy. Das kennt man auch aus anderen Ländern. Auch in den Vereinigten Staaten waren die Schwarzen zunächst beim Amüsement und in der Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft präsent. Sie sollten am Besten über sich selbst sprechen und lachen. In diesem Bereich gibt es derzeit auch die größten Erfolge in Deutschland.«  (taz.de, 18.02.09)

Bis jetzt habe ich das Stück vier Mal gesehen. Jedes Mal war es ein anderes Stück. Das Lachen des Publikums verändert von Grund auf den Kontext. Bei der Premiere dachte ich noch, wir lachen alle gemeinsam über den Irrsinn dessen, was diese von allen Seiten ausgerufene Integration von uns will. Bei der dritten musste ich mich schon umdrehen, um zu sehen, wer gerade an der Stelle (rasende Lehrerin mit Pistole schreit) »Und ihr haltet jetzt ein Mal die Klappe!« geklatscht hat.

Das unwillkürliche Lachen und Klatschen in deutschen Zuschauersälen ist nicht besonders gängig. »Verrücktes Blut« erzwingt das Positionieren. Lachen ist hier aber viel mehr als Meinungsbekundung, Lachen ist hier Kriegsführung. Eine Vorstellung ist beispielhaft für die Kontroverse um »Verrücktes Blut«: Schulklassen und das Mittelstandspublikum im Alter der Eltern- und Großelterngeneration im Zuschauerraum. Bald teilt er sich in zwei Lager auf, die gegeneinander anlachen, man verhandelt durch Zurufe und Klatschen den Kampf, den man alltäglich führt. Die Schulklassen freuen sich über die Stupidität der Lehrerin, die mit Schaum vor dem Mund und Pistole in der Hand Theaterunterricht erzwingen will und unterstützen die Darsteller/innen der Schulklasse mit Grölen. Der Mittelstand lacht aus der Befreiung heraus, dass die Lehrerin all das ausspricht, was man wegen Political Correctness nicht sagen darf, doch wohl aber denkt.

Ich unterstelle, dass dies der Grund dafür ist, warum das Stück von der Elite umjubelt wird. Anstatt die kluge Dekonstruktion von Klischees, mit denen unser aller Köpfe voll sind, zu sehen, fühlt man sich in seiner klischeehaften Denkweise bestätigt. Sonst könnte ich mir solche Publikumsgespräche wie die beim Theatertreffen nicht erklären, bei denen sich Fragende herausnehmen zu sagen: »Ich habe Mitgefühlt mit der Lehrerin, so geht es mir auch.« Dann schimpft man ein wenig auf die »Holzhammerästhetik« und »Didaktik«, um dann zu behaupten, das Stück besäße keinen Doppelboden. Nurkan Erpulat wird gefragt, ob er denn auch »eine Not empfände« (!), aus der heraus er das Stück entwickelte. Er schmunzelt und fragt zurück, ob das eine ernst gemeinte Frage sei. Natürlich will die Majorität die harten, traurigen Geschichten der Minoritäten hören. Sobald die Aussprache nicht lupenrein ist, darf reingeredet, unterbrochen werden und dem Regisseur wird vor allem kein Sarkasmus zugetraut. Auch beim Theatertreffen. Gerade beim Theaterreffen.

»Das ist ein Stück über den Blick auf uns.« Warum hat keiner nachgefragt, wie der Regisseur diesen Satz meint? Denn verstanden haben ihn – unter Garantie – die Wenigsten.

Ballhaus Naunynstraße: »opened as a production space in November 2008 and has been pioneering agency on the part of immigrant and post-migrant writers, directors, actors and producers in German theatre. Its artistic director Shermin Langhoff has developed the concept of post-migrant theatre, which is alive both as an aesthetic practice and as a buzzword in theatrical discourse. It draws from a broad network of 2nd and 3rd generation artists, combining genres and transnational/translocal contexts. This cultural practice acknowledges Germany’s polymigrational reality and regards complex constructs of identity as challenge and stimulus to artistic discourse. The Ballhaus Naunynstrasse offers an opportunity to artists otherwise underrepresented to develop their artistic production under a translocal perspective.« (Oliver Kontny, Dramaturg)

Noch bevor ich Berlinerin war, war ich Kreuzbergerin. Das hören ›echte Berliner/innen‹ nicht gern. Ist mir egal. Das Konzept dieser Insel ist in der Luft und ich wollte nirgendwo sonst in Deutschland atmen. Ich biege in die Naunynstraße ein. Eine, die ich als Neuhinzugezogene mit keiner großen Geschichte verbunden hatte. Ein riesiges Transparent mit dem Zitat von Aras Ören hängt in die Luft geschrieben: »Die Naunynstraße füllt sich mit Thymianduft, mit Sehnsucht und Hoffnung, aber auch mit Hass.« Von einem Haus zum anderen. Ich schaue nach links – ja, das kenn ich, das ist die NaunynRitze, dieses Jugendzentrum. Rechts ein Theater. Kenn ich das?

Kurz nach dieser Entdeckung sollte ich viele Abende mit Freund/innen an der Bar im Ballhaus verbringen. Wir diskutierten über Sinn und Kunst und plötzlich wollten wir etwas. Veränderung der Verhältnisse. Dieses Mal ernsthaft.

Ich tendiere oft dazu, die Welt, in der ich lebe als für alle gegeben zu sehen. Dieser Kurzschluss, dass alle in derselben Welt leben –  also meinen. Darum schien es mir nie notwendig, das Ballhaus Naunynstraße in freitext vorzustellen. Weil  es das Selbstverständlichste für mich geworden ist. Der Ort (der Repräsentation). Die Insel (die die interkulturelle Theorie lebt und nicht behauptet). All das, was wir mit freitext seit Jahren versuchen. »Das Wort ›postmigrantisch‹ habe ich selber im Zusammenhang mit der angloamerikanischen Literaturwissenschaft vor etwa zehn Jahren wahrgenommen. Es scheint mir einleuchtend, dass wir die Geschichten der zweiten und dritten Generation, die im Kontext der Migration stehen, aber erzählt werden von denen, die selber gar nicht mehr gewandert sind, auch anders bezeichnen. Eben als postmigrantisch.« (Shermin Langhoff, Intendantin)

Und wie jeder andere Mensch tendiere auch ich dazu, die Dinge, die ich nicht hören möchte, zu überhören. Weil sie mein Weltbild stören. Zum Beispiel »Es ist ein wirklich süßes Kieztheater, das ihr da habt.« Da habe ich noch nicht reagiert. »Shouldn´t we overcome all this post-migrant stuff instead of manifesting racist labels?« (Sollten wir nicht all diesen postmigrantischen Kram überwinden, statt rassistische Labels festzuschreiben?) All das. Diese Sätze stammen entweder von denen, die nie rassistischer Erfahrung ausgesetzt waren oder Verdränger/innen. Beide Varianten widersprechen einer Realität, folglich lügen sie. Das Theater darf nicht lügen.

»Verrücktes Blut« öffnete die Türen für Kreditkartenzahler/innen, die mir den Weißwein wegtrinken. Ist das nun nicht Gleichberechtigung und echtes Volkstheater oder ist das ein Weiterführen des Klassenkampfs? Als Spionin im Foyer und Alis Bar im Keller des Ballhauses N. hört man allerhand: »Was soll der besondere Augenmerk auf Zusammenarbeit mit non-professionals?«, das einhergeht mit der Unterstellung: Macht man da nicht aus der Not eine Tugend, da es unter denen einfach keine professionals gibt? Scheitert das nicht schon an der Aussprache und an dem zwangsläufig nicht vorhandenen Zugang zu deutschen Klassikern? (Solche Unterstellungen durfte sich Nurkan Erpulat, der 2008 als erster mit Turkish background die Ernst-Busch-Regieschule abgeschlossen hat, bereits während seiner Ausbildung anhören.)

Was ich nicht höre ist, dass es ein Stück über die Perversion der Aufklärung ist. Ein Schrei gegen die rassistischen Schablonen, die uns nicht nur brutal vor die Nasen gehalten werden. Nein – die wir mittlerweile selber an uns anlegen. Ein Stück mit weniger Thymian, als mit Hass, Sehnsucht, aber auch Hoffnung. Ein Stück, das nicht von ›Migrant/innen‹ handelt, sondern der Raserei der vermeintlich Aufgeklärten.

Die Theaterelite scheint das anders zu sehen. Der Grundtenor ist, es sei ein Stück über die Aussichtslosigkeit der Integration (und wenn sie es auch nicht in aller Deutlichkeit so ausspricht, so rutscht das im hitzigen Publikumsgespräch raus). Slavoj Zizek sagt, das erste politische Moment war nicht die Polis – Weiße Männer sitzen im Kreis und reden über den Rest. Das erste politische Moment war die Reibung damit – als die Ausgeschlossenen, die Sklav/innen sich dagegen auflehnten, dass man sie nicht einbezieht. (Plädoyer für die Intoleranz, S.27ff.) Das Theater ist so ein politisches Moment. Theater ist nicht, wenn privilegierte Gruppen entscheiden, was relevante Kunst in der Gesellschaft ist. Theater ist die Bühne für den Appell und eine Aufforderung sich zu positionieren für die, die sonst nicht zu Wort kommen.

Was gibt es also zu tun? Weitermachen. Walter Benjamin erklärte uns, der Mensch bräuchte Zeit, um das Aufgenommene zu verarbeiten und umzusetzen. »Kanak Sprak« hat 20 Jahre gebraucht, um in den Köpfen der Menschen nicht mehr wie eine ansteckende Krankheit zu klingen, sondern eine Bedeutung zu haben – im vollen Sinn dieses Wortes. Das Ballhaus Naunynstraße ist ein Meilenstein, das »süße Kieztheater«, schlägt Wellen über Europa hinaus. Das Konzept des post-migrant theatre fruchtet in England, Schweden, Holland und neuerdings schreiben auch Akademiker/innen in den USA ihre Dissertationen über das Haus.

Dank solcher Arbeit, wie Shermin Langhoff und ihre Crew sie leistet, gehen wir, die Leute mit dem background in den Vordergrund.

Yeah, sure. We will overcome.