Ungehaltene neue deutsche Literatur: Ein Interview mit Deniz Utlu / von Daniel Schreiner | TRANSIT

Ungehaltene neue deutsche Literatur: Ein Interview mit Deniz Utlu
TRANSIT vol. 11, no. 1

Daniel Schreiner


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Einführung

Interview mit Deniz Utlu, Autor von Essays, Theaterstücken sowie des Romans Die Ungehaltenen (Graf Verlag, München, 2014), Herausgeber des Kultur- und Gesellschaftmagazins freitext. Das Interview wurde in Berlin, kurz nach dem Erscheinen seines Debüt-Romans von Daniel Schreiner, Universität Bonn, geführt. Das Interview war ursprünglich nur für Forschungszwecke bestimmt und nicht zur Veröffentlichung gedacht. TRANSIT Journal veröffentlicht drei Jahre nach dem das Interview geführt wurde mit freundlicher Genehmigung von Deniz Utlu eine gekürzte Fassung des ursprünglichen Transkripts.


Interview

DS: In deinem Text „Land in Sicht“[1] sprichst du von der Immunität gegen Zuschreibungen. Und dem Recht auf eigene Traditionen… Welche Zuschreibungen hast du in deiner Jugend erhalten und wie hast du dich aus ihnen befreit, wie war der Prozess, der es dir ermöglicht hat, dich irgendwann darüber bewusst zu erheben?

DU: Ich komme aus Hannover. In Berlin waren die Konflikte und Diskussionen polarisierter. Dort kannst du die „Minderheit leben“, wenn du willst. Ich war immer politisch, Ungerechtigkeit verletzt mich. Wenn ich in der Schulzeit kritisch war, war das aber eher eine Art Kapitalismuskritik, die abstrakt war und die mich später dazu gebracht hat, Wirtschaft zu studieren. Da habe ich gemerkt, dass es auch um andere Dinge geht: Nicht nur um Kapitalismus, was soll das losgelöst auch bedeuten, sondern um Formen der Ausgrenzung und Ungerechtigkeit, die interagieren mit unserer Art zu Wirtschaften.

DS: Ich habe deinen Text „Sieben Sekunden“[2] nicht nur als Kritik an der „Ameisenbau-Gesellschaft“ und den Programmierungen, denen wir zeitlebens ausgesetzt sind, verstanden, sondern nehme ihn im Umkehrschluss auch als spirituell wahr. Bist du spirituell oder religiös? An was glaubst du oder anders gefragt:  „An welchen Narrationen musstest du dich abarbeiten?“

DU: Meine ganze Jugend über war ich überzeugter Atheist, fast schon ideologisch. Das bin ich in der Form nicht mehr. Ich habe mich durchaus mit dem Koran und mit anderen religiösen Texten, auch der Bibel, auseinandergesetzt. Für mich gibt es eine Spiritualität jenseits von Religion. In lyrischen Texten finde ich diese Spiritualität noch am ehesten.

DS: Stichwort „Angry Birds“[3]—Im Gespräch mit Marianna Salzmann sprichst du von der „Tuberkulose“, die einem eine Stadt, ein Mensch oder auch Deutschland einjagen kann. Hast du diese metaphorische Krankheit auch bekommen? Wie schützt man sich dagegen und wohin führt die Tür, von der du sprichst, dass du sie finden müsstest?

DU: Von der NSU-Debatte habe ich die Tuberkulose bekommen. Nicht nur von der Debatte, sondern von den Fakten selbst und wie Medien und Politik damit umgegangen sind.

Eine andere Dimension: Es macht einen Unterschied, ob du mit Gewichten durchs Leben läufst oder ohne. Ein Bekannter von mir, den ich sehr schätze und bewundere, hat mir ein Bild von einem seiner Verwandten gezeigt, der in dem Land der Vorfahren meines Bekannten lebt und dort steinreich ist und andere Privilegien genießt. Ein junger Mann, der sich mit Flugzeugen, mit Privatflugzeugen bewegt, wie mit Taxis und in Schlössern lebt. „Wenn ich dort aufgewachsen wäre, dann wäre das mein Leben gewesen“, hat mein Bekannter damals gesagt. Da habe ich verstanden, was es eigentlich heißt von einer Gesellschaft getragen und nicht erdrückt zu werden.  Im Übrigen hat mein Bekannter das nicht lamentierend erzählt, vielmehr ging es ihm darum, mir Mut zuzusprechen. Das hat er geschafft. Mit keinem Privatflugzeug hätte er bei mir so viel Bewunderung auslösen können, wie mit seiner Haltung zum Leben: Wissend um die Gewichte, war er der Mann, der er war und ging mit einem Lächeln durchs Leben und ermutigte, die Menschen, denen er begegnete.

DS: Ich habe einmal die Germanistin Yasemin Yildiz an der Universität in Urbana-Champaign kennengelernt und sie hat mir erzählt, dass man sie in Deutschland immer gefragt hat „Wo kommen Sie denn wirklich her?“ oder dass man ihr gesagt hat „Sie können aber gut Deutsch.“ Während man ihre Arbeitsansätze in Deutschland verhindert hat, ist sie in den USA mit ihren Themen und Fragestellungen auf offene Türen gestoßen. Wie Yildiz müssen viele Türk-Deutsche[4] gegen viel Widerstand und rassistische Strukturen kämpfen. Einige sind sich bewusst darüber, wo es herkommt, einige andere sind sehr dadurch belastet, entwickeln vielleicht Krankheiten oder werden depressiv. Nimmst du so etwas wahr, oder sind das Einzelfälle, das diese „Tuberkulose“ durchschlägt bzw. eine ganze Generation belastet?

DU: Ich habe meinen Zivildienst in einer Psychiatrie geleistet. Viele Patienten waren von Rassismus betroffene Menschen – das ist sicher kein Zufall. Rassismus kann körperliche wie geistige Auswirkungen haben. Viele wachsen auch an ihren Erfahrungen, es gibt ja von Mutlu Ergün und Noah Sow die Performance-Show Edutainment Attacke. In dieser Show beschreiben sie ein Phänomen ironisch als PBV, „Privilegien bedingte Verweichlichung“. Sie zählen auf, wo Leute an PBV leiden. Oder stellen das in Sketchen dar: jemand wird angerempelt und fängt an zu heulen: PBV. Wenn du permanent angerempelt wirst, gehst du entweder unter oder du heulst einfach nicht mehr. Das kostet uns aber viel Zeit, das kostet uns Kraft und Jahre.

DS: In einer Sequenz der „Angry Birds” verwendest du den Begriff „Integrationsverweigerer“. Wie wird man ein guter „Integrationsverweigerer“ und wie kann man sich einem „Integrationseinforderer“ gegenüber positionieren? Hast du einen Leitfaden?

DU: Mit dieser Einforderung wird ja letztlich ein Konformismus eingefordert. Übrigens ein Konformismus, der jeden trifft und damit also fast etwas Terroristisches hat, weil er auch Konformität von denen fordert, die bereits konform sind – eine uneinlösbare Konformität. Wer sich dagegen stellt, läuft Gefahr ausgeschlossen und nicht akzeptiert zu werden – die Sanktionen gegenüber den Verweigerern. Man muss wissen, was der Preis ist, den man zahlt. Wenn du damit Leben kannst, nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, kannst du „Integrationsverweigerer“ sein, ansonsten wird es anstrengend. Allerdings ist es auch anstrengend nicht „Integrationsverweigerer“ zu sein, du bist es ja schon, wenn du beim Deutschlandspiel nicht am lautesten jubelst. Denn alles was du machst, wird in Hinsicht auf Loyalität geprüft. Aber niemand kann dich dazu zwingen für die deutsche Nationalmannschaft zu sein. Niemand hat das Recht daraus irgendwelche Schlussfolgerungen bezüglich deiner Identität, deiner Einstellungen, deiner Loyalität zu ziehen. Fertig.

DS: Du sagst, dass sich nicht nur subalterne Gruppen immer wieder neu erfinden müssen, sondern auch die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft. Macht sie das auch außerhalb der Großstädte wie Berlin? Wo geht es hin? Machen dir die Rückfälle in Nationalismen  – die man überall in Europa feststellen kann – Angst oder sagst du, dass ist das letzte Aufflackern und Wehren gegen ein neues globalisiertes meta-nationales Verständnis von Nationalität?

DU: Selbst wenn es das letzte Aufflackern wäre, würde das nichts daran ändern, dass tausende Menschen jeden Tag Gefahr laufen zu sterben. Viele sind bereits gestorben – an den Grenzen, auf der Flucht oder durch unmittelbare Gewalt. Ob in Europa ein neuer Faschismus aufkommt, weiß ich nicht. Viele Diskurse in verschiedenen Ländern gehen simultan in die rechtsgerichtete Richtung. Ein Grund ist, dass die rechtsgerichteten Gruppen es  schaffen, sich zu erneuern und neue Methoden zu finden und ihre Ideologie zu entwickeln. Diese bleibt primitiv, aber sie wird zeitgemäßer primitiv. So verändert sich z.B. die Rolle der Frau darin.

DS: Als Bonner nehme ich den Kosmos Berlin noch einmal anders wahr, als andere Städte in  der Republik. Viele Romane spielen jedoch in Berlin und die Großstadt scheint ein bestimmtes Bewusstsein zu ermöglichen. Ist das so? Kann so etwas wie eine moderne pluralistische multikulturelle Gesellschaft nur in Berlin funktionieren, während man woanders nicht hinterher kommt und es so beim Schubladenblick auf Migranten bleibt?

DU: Der urbane Raum eröffnet Möglichkeiten. Aber es ist nicht wahr, dass sich ein Zusammenleben nur auf diesen Raum reduziert. Berlin ist ein Ort der Kulturproduktion. Und die Kulturproduktion bietet eine Chance, wenn sie offen ist für Erneuerung. Das heißt nicht, dass das dörfliche Leben nicht auch in diese Richtung gehen könnte oder bereits in diese Richtung geht. Natürlich sind hier andere Strategien notwendig, eine andere Poesie.

DS: In einem Interview mit dir sagt Marianna Salzmann auf Qantara,[5] dass der Umgang Deutschlands mit der Mordserie des NSU und der seltsamen Umstände darum vieles verändert habe, und viele Freunde von euch auf gepackten Koffern säßen. Siehst du das genauso oder hat sich seitdem etwas verändert? Macht eine Veranstaltung wie Birlikte[6] in Köln einen Unterschied?

DU: Seit 2009 wurden wir überhäuft von rassistischen Islamkontroversen, die auch dazu geführt haben, dass sich die Beziehungen zwischen den Menschen verändert haben. Diese Diskurse bleiben ja nicht nur medial, sie ändern auch den Blick auf bestimmte Gruppen, etwa durch eine radikale Diskreditierung von Islam und der Zuordnung von Menschen zum Islam, die gar nicht religiös sind. Plötzlich ist der Islam keine Religion mehr, sondern so etwas wie eine ethnische Zugehörigkeit. Ganz unabhängig davon, ob du an Gott glaubst, ob du Alkohol trinkst und Schweinefleisch isst, von mir aus auch ob du beschnitten bist oder nicht, du bist jetzt Moslem. Das hat dazu geführt, dass die Beziehungen mit Leuten, die nicht in dieser Gruppe sind, schwieriger wurden, weil sowohl die Angreifbarkeit als auch die Angriffe zu schnell zunahmen, um eine entsprechende Empathie und kritische Selbstreflexion auf der anderen Seite zu entwickeln. Und dann in Mitten dieser virulenten Debatten erfahren wir 2011 von den NSU Morden: Zehn Jahre wurden diese Menschen ermordet und der Verfassungsschutz und die Polizei, die Politik alle haben schmutzige Hände. Es saßen schon einige auf gepackten Koffern. Das war keine Panik, sie hatten Recht.

Birlikte kann ich nicht beurteilen. Ich war nicht da. Aber ich denke, dass Gedenkveranstaltungen wichtig sind, wenn sie nicht instrumentalisiert oder vereinnahmt werden, allerdings ist das rar. Die Rede von Semiya Şimsek auf der offiziellen staatlichen Trauerfeier zu den NSU-Morden war für mich ein Moment des wahren Gedenkens. Ich danke ihr dafür.

DS: Lass uns über den „verdammten Vibrationshintergrund“ sprechen. Als Wissenschaftler muss ich in meiner Arbeit Kategorisierungen vornehmen und in Schubladen einsortieren, um vergleichen zu können. Ich weiß das und will es doch vermeiden, da das Differenzieren der erste Schritt zur Ausgrenzung ist. Wie kann ich Fremdbestimmungen vermeiden? Lässt sich stattdessen Begriff „People of Color“ auf den deutschen Kontext anwenden? Welche vorläufigen Begriffe kann ich verwenden, um die „türkisch-deutsche“ Literatur postmigrantisch neu zu definieren? Was bedeutet „postmigrantisch“ für dich und gibt es das eigentlich außerhalb von Berlin?

DU: Ich habe den Text von Selim [Özdoğan] über den „Vibrationshintergrund“[7] in freitext veröffentlicht und dann eine Literaturreihe im Ballhaus Naunynstraße danach benannt. Ich weiß nicht wie fruchtbar die Diskussion um Begrifflichkeiten ist. Wir schaffen über Begriffe Realität, gleichzeitig ändern wir nicht viel, wenn wir nur die Worte verändern. Statt „Migrationshintergrund“ „Migrationsgeschichte“ zu sagen, ist kaum ein Fortschritt, weil das Konzept dahinter weitergetragen wird. „People of Color“ ist für mich zunächst ein wissenschaftlicher bzw. analytischer Begriff, kein identitärer. Ich bezweifle, dass eine identitäre Verwendung davon hilfreich ist, weil das der Dekonstruktion von Identitätskonzepten im Weg stehen könnte. Um gleich ein Missverständnis zu vermeiden: Es gibt Unterschiede! Ich rede nicht von kulturellen Unterschieden, sondern  von Rassismus: Wir sind alle von Rassismus betroffen, weil es sich dabei um eine Bewertungsordnung handelt, die über Jahrhunderte entwickelt wurde und die wir in unserer Sozialisierung in einem Alter internalisieren, in dem wir uns noch nicht wehren können. Das gilt für alle gesellschaftlichen Gruppen. Die Auswirkungen auf die verschiedenen Gruppen sind aber unterschiedlich. Wenn bei der Bewerbung auf eine Wohnung ein PoC abgelehnt wird und dafür eine weiße Person einziehen darf, dann hat letztere zunächst vom Rassismus profitiert. Auf Dauer verletzt das aber auch sie, denn wenn sich ein Teil meines Reichtums, meiner Erfolge, meiner Lebensqualität aus dieser strukturellen Benachteiligung anderer generiert, muss das—davon bin ich überzeugt—zu einer Störung meiner Beziehung mit mir selbst und anderen führen. Ohne es zu merken, gerate ich in einen ontologischen Abgrund.  Für eine solche Analyse kann der PoC Begriff, aus meiner Sicht, nützlich sein. Das Wort „Migrationshintergrund“ beispielweise wäre hier nicht präzise.

DS: Kann man den Begriff PoC auf den deutschen Raum übertragen?

DU: Es geht darum, zu verstehen, was die Relationen und Kontexte von Macht, Benachteiligung und Gewalt sind. Erfahrungen und Theorien aus dem anglo-amerikanischen Raum helfen da sicher, aber es muss auch etwas Deutschland-spezifisches entstehen. Das ist bereits der Fall. Auch die Begrifflichkeiten verändern sich in ihrer Übertragung in den deutschen Kontext. Das Wort selbst mag identisch bleiben, der Bedeutungsraum ist zwangsläufig ein anderer hier als in den USA. Ich halte das für produktiv.

DS: In deinem Essay über HipHop und Revolte im freitext-Magazin ziehst du Parallelen zur afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.[8] Das ist für mich insoweit von Interesse, weil die mexikanisch-amerikanische Literatur in den 60er Jahren Hand in Hand mit dem politischen Movimiento der Chicanos einherging und viele Schriftsteller zeitgleich auch Aktivisten und Bürgerrechtler waren. Wo ist der postmigrantische Aufstand der „Türk-Deutschen“? Gibt es den schon oder kommt der noch oder ist diese Infragestellung der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft nur auf einen studentischen-intellektuellen-künstlerischen Kreis von Menschen wie dich beschränkt? Was muss geschehen, damit es zu einem breiteren Bewusstsein für ein Einschreiten gegen Fremdzuschreibungen kommt? Was unterscheidet deiner Meinung nach die Situation der Einwanderungsländer USA und Deutschland voneinander? Bekommt man eine „türkisch-deutsche“ Bürgerrechtsbewegung nicht mit oder gibt es dafür keine Notwendigkeit, da türkisch-deutsche PolitikerInnen wie Cemile Giousouf (CDU)[9] im Bundestag zeigen, dass man innerhalb „kartoffeldeutscher“ politischer Strukturen Dinge verändern kann?

DU: Die 80er und 90er Jahre in Kreuzberg, die Subkultur über die ich in dem Essay schreibe, war ja keine Bewegung. Ich verstehe die Hip Hop Kultur, die da entstanden ist als eine Form der „unbewussten Subversion“, durchaus mit Referenzen zur afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, so nannte sich eine der jugendlichen Gruppen „Black Panthers“. In Deutschland herrscht eher (nicht nur!) eine Tradition der Konformität. Diese Tradition wird auch von den Minderheiten übernommen. Natürlich bringen die auch etwas mit. Das ist beispielsweise eine Identifikation mit schwarzen Rollenfiguren in den USA, und natürlich auch mit Erfahrungen und Erzählungen der Eltern. Die Eltern vieler oder einiger Jugendlicher aus Kreuzberg oder Wedding in der Zeit kamen beispielsweise aus der Türkei – auch ein Land in dem Konformität stark gemacht worden ist und geformt wird.

DS: Daran anschließend – Onkel Cemo aus deinem Roman Die Ungehaltenen verkörpert einen ganz bestimmten Typus, des politisch bewussten oftmals linksorientierten Mentors des Protagonisten, wie man ihn auch in anderen Romanen antrifft. Hattest du selbst einen Onkel Cemo, der dir von den Streiks der Gastarbeiter in den Kölner Fordwerken in den 70er Jahren berichtet hat?

DU: Ich habe einen linken Onkel, der ist zwar nicht aus Deutschland, Onkel Cemal ist trotzdem inspiriert von ihm. Auch ist Onkel Cemal eine Anspielung auf Niyazi aus Aras Örens Poem, „Niyazi in der Naunynstraße“. Dieses Poem hatten wir in Form eines Theaterparcours einmal im Ballhaus Naunynstraße adaptiert. Ich hatte dafür viel zur Geschichte, insbesondere Migrationsgeschichte Kreuzbergs recherchiert. Dabei bin ich auf viele Onkel Cemals gestoßen. Die hatten alle tausend Geschichten zu erzählen, das ist ein wenig eine Hommage an diese Generation.

DS: Elyas ist gebildet, sensibel, aber auch zynisch und hat die Fähigkeit Kritik zu üben (Ein Zitat von ihm: „Die Integration kann nur auf You-Porn anal-ysiert werden“). Wieviel von dir steckt in Elyas und woraus resultiert seine Krise? Ist es nur der Tod des Vaters und das Erleben der Verlogenheit der deutschen Gesellschaft oder ist da auch diese Berlin-typische Großstadtverlorenheit eines Holden Caulfields? Wie geht es mit ihm nach dem Ende des Romans weiter?

DU: Auf jeden Fall geht es hier auch um die Großstadt und das Verlorensein darin, Isolation. Elyas ist sehr alleine, das intensiviert seine Verlusterfahrung. Der Aspekt des Verlorenseins kennt viele Schichten: die Großstadt, die Tatsache, dass manche Erfahrungen sich einfach nicht teilen lassen, etc. Aylin bringt andere Facetten des Verlorenseins mit und geht damit anders um.

DS: Kommen die beiden denn zusammen?

DU: Wichtiger als die Liebesbeziehung ist, dass sie eine Ebene finden, auf der sie sich begegnen können. Es geht um Solidarität.

DS: Hekim und Elyas sind zwei sehr unterschiedliche Typen, die sich dennoch irgendwo ähnlich sind. Wofür stehen die beiden?

DU: Elyas ist kein Archetyp. Er ist für mich eine eigene Person. Auch Hekim ist nur scheinbar ein Archetyp für diese Generation, die einen Ausweg aus dem Verlorensein in den Straßen und im Hip Hop gesucht hat. Hekim ist zärtlich zu Elyas. Er liest gerne Gedichte, aber natürlich ist er auch hart und würde zuschlagen, er arbeitet im Kiosk – er ist ein verletzter und zärtlicher Mann. Elyas, Hekim und Onkel Cemal mögen für drei unterschiedliche Generationen stehen, für mich waren sie Freunde und Mitbewohner in den Jahren, in denen ich an dem Roman arbeitete.

DS: Hast du Akif Pirinçcis Deutschland von Sinnen[10] zu Kenntnis genommen? Was treibt den um? Was macht das Buch mit dir? Selim Özdoğan[11] ist der Meinung, dass Pirinçci  einfach keine Menschen mag, was glaubst du?

DU: Ich hab das Buch nicht gelesen. Ich habe Felidae gelesen, als ich ein Teenager war und gemocht. Seltsamerweise hat mich das gar nicht so sehr aufgeregt, dass er dieses Buch gemacht hat. Sarrazin ist ein Mann, der sehr reich geworden ist mit seinem Rassismus. Und der auch noch eine politische Funktion in diesem Land hatte, zu dieser Zeit. Wenn so ein Typ wie Sarrazin reich wird durch seinen Rassismus, warum sollte jemand wie Akif Pirinçci das nicht auch tun dürfen: Wir müssen das grundsätzlicher anpacken und nicht an Personen festmachen.

DS: Vielen Dank für das Gespräch!


[1] Land in Sicht
Ich suche nach etwas Drittem, das in allem steckt.
Kopfland – mit einer Bevölkerung, in alle Welt zerstreut. Unabhängig von lokalen Riten und Normen. Vom Erbe der Ahnen.
Eine Parallelwelt, ein Sonnensystem – mit eigenen Ressourcen und eigener Definitionshoheit über das, was Kunst und Kultur ist, über das, was bleiben soll.
Etwas, das unsichtbar ist und omnipräsent. Wie ein Gesetz, verteidigt von einem Gericht, das weltweit agiert, das nicht an den Gerichtshöfen tagt, sondern in Dachkammern und Kellern. Ein Gesetz, das mehr Geltung für den Einzelnen hat als niedergeschriebene und ratifizierte, von Richtern und Politikern definierte und befolgte Verfassungen.
Ein Land, dessen Grenzen sich unmöglich in Karten eintragen lassen, da ohne festen Ort. Unsichtbar und überall zugleich. Unangreifbar. Immun gegen jede Zuschreibung.
Ein Land, das nur dann aufhört zu existieren, wenn es nicht mehr gedacht wird.

„Land in Sicht“ gehört zum Zyklus „Spandau 2048: Minimals aus dem Magen des Molochs“ und ist erschienen in Sezgin, Hilgal (Hrsg.): Das Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Blumenbar Verlag, Berlin 2011. S. 23.

[2] Sieben Sekunden
Vielleicht sind es wirklich nur sieben Sekunden.
Wir erblicken das Licht der Welt. Wir sind nackt.
Nicht schwarz, nicht weiß, nicht Arbeiter, nicht Professor, nicht klug, nicht dumm.
Kein Mig ratio ns hintergrund. Wir sind. Sieben Sekunden lang sind wir. Sieben Sekunden stilles Sein, sieben Sekunden frei.
Und dann.
Ein Arzt hält uns in den Händen, eine Hebamme, ein Pfleger, eine Mutter. Man sieht uns an.
Man spricht uns zu. Man reicht uns weiter.
Der erste Blick schon, der uns trifft, die erste Berührung, erzählt eine Geschichte. Und der Fall beginnt.
Es gab eine Zeit, eine kleine Zeit davor. Vor dem Fall. Wie fühlte sie sich an? Wie lange währte sie?
Zwei Sekunden? Sieben? Einen Tag?
Wie lange dauerte es, bis etwas normal wurde, bis etwas anders wurde?
Man schult uns.
Man schult uns um.
Alles bekommt einen Namen, alles eine Zeit. Das dreißigste Jahr. Das vierzigste Jahr.
Zäsuren in einem Leben.
Die Serviette auf den Schoß legen beim Essen.
Unangenehmes Schweigen vermeiden.
Arbeiten. Des Tags und des Nachts. Bücher lesen. Formeln lernen. Telefonieren. Mailen.
Nicht. Ablenken. Lassen. Alles. Nur. Das. Nicht.
Immer grad aus, immer klar, immer mit dicker Haut.
Wie dick ist sie nach sieben Sekunden?
Nach sieben Jahren, nach siebzehn, siebenundzwanzig?
Sortieren. Was braucht es, was braucht es nicht? Was hemmt, was beschleunigt? Was dient als Sprungbrett, was ist Last?
Nicht hinschauen, wo es weh tut. Das. Könnte. Ablenken. Und. Das. Wollen. Wir. Nicht.
Nicht spüren. Nicht horchen: Wie klingt der Atem des Kindes vor der siebten Sekunde?

„Sieben Sekunden“ gehört zum Zyklus „Spandau 2048: Minimals aus dem Magen des Molochs“ und ist erschienen in Sezgin, Hilgal (Hrsg.): Das Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Blumenbar Verlag, Berlin 2011. S. 17

[3] wenn die Welt zum Maurer wird und Mauern errichtet, um dich herum,
wenn jeder Anlauf am Ende nur ein Lauf gegen die Wand ist,
wenn du tausend Mal fragst und tausend Mal heißt die Antwort Nein,
wenn du schlafen willst,
aber kein Schlaf ist dir vergönnt,
dann sagt man im Türkischen: Sie haben mir die Tuberkulose eingehaucht.
Diese Stadt, dieses Land hat mir die Tuberkulose eingehaucht.
Du hast mir die Tuberkulose eingehaucht.
Das hat meine Mutter oft gesagt.
Mein Vater hat sie bekommen.
Das türkische Wort für Tuberkulose klingt nicht nach einem Fachterminus für eine Krankheit. Das türkische Wort klingt nach Verdammnis. Wenn ich es höre, sehe ich Mütter Fäuste ballen, die sie sich gegen den Kopf schlagen.

Als „Angry Birds“ bezeichnet sich das Autorenduo, das aus Utlu und der Schriftstellerin und Dramatikerin Marianne Salzmann besteht. Sie schrieben gemeinsam neben einem Theaterstück zu den NSU-Morden „Fahrräder könnten eine Rolle spielen“ eine fiktive Korrespondenz mit dem Titel „Wutvögel singen“. Auszüge daraus wurden auf der Seite von TRANSIT Journal und dem türkischen Literaturmagazin Ada veröffentlicht. Die zitierte Textsequenz gehört zum Gespräch „Wutvögel singen“ Siehe: http://denizutlu.de/angry-birds/ (Eingesehen am 30.6.2016).

[4] Ich benutze den Begriff „Türk-Deutscher“ anstatt des oftmals in Medien und Forschung verwendeten Bezeichnung „Deutsch-Türke“, da ich in Anlehnung an die U.S.-amerikanische Begriffsfindung (z.B. Mexican-American) in der Reihenfolge der ethnischen bzw. nationalen Zuschreibung einen diskursiven Akt erkenne. Es macht durchaus einen Unterschied, ob man Deutsch-Türke oder Türk-Deutscher sagt, da der letztere Teil der Zuschreibung maßgeblich, der erste dagegen ergänzend,  zu verstehen ist. Kurzum: Es geht darum, in welchem Grad jemandem die Zugehörigkeit zugesprochen wird oder eben nicht. Auch Tayfun Demir verwendet in diesem Sinne den Begriff „Türkischdeutsche Literatur“. Siehe: Demir, Tayfun: Türkischdeutsche Literatur. Chronik literarischer Wanderungen. Dialog Edition: Duisburg, 2008.

Siehe ausführlich die Diskussion in Schreiner, Daniel: Vom Dazugehören – Schreiben als kulturelle und politische Partizipation. Mexikanisch-Amerikanische und Türkisch-Deutsche Literatur im Vergleich. Promotion Universität Bonn; voraussichtliche Veröffentlichung Sommer 2017.

[5] https://de.qantara.de/inhalt/interview-mit-marianna-salzmann-und-deniz-utlu-wuetende-voegel-singen-nicht (Eingesehen am 30.6.2016).

[6] Zum 10-jährigen Jahrestag des Kölner Nagelbomben-Attentats durch den NSU (2004) organisierte der Verein „Arsch huh, Zäng ussenander“ (Kölsch für  „Arsch hoch und Zähne auseinander“) in Köln  am 9. Juni 2014 das Festival Birlikte (Türkisch für „Gemeinsam“) gegen Rassismus. Seitdem organisiert der Verein „Birlikte“ jährlich eine Kulturwoche in Köln.

[7] Der Essay von Selim Özdoğan  ist 2009 ebenfalls in der Wochenzeitschrift Die Zeit erschienen. Siehe: http://www.zeit.de/online/2009/20/oezdogan-vibrationshintergrund (Eingesehen am 30.6.2016).

[8] Utlu, Deniz: „Ins Herz. Versuch einer Jungs-Geschichte über HipHop und Revolte“. Veröffentlicht in:

freitext, Heft 15, „Bis hierher lief’s noch ganz gut“, April 2010 und Susan Arndt, Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.) Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Unrast Verlag, Münster, 2011.

[10] Akif Pirinçci war der erste türkisch-deutsche Bestsellerautor. Sein Katzen-Krimi Felidae (Goldmann Verlag)  aus dem Jahr 1989 wurde sogar ins Englische übersetzt und verfilmt. Nach Jahren der Erfolglosigkeit  ist Pirinçci nun als Verfasser kruder verschwörungstheoretischer „Sachbücher“ einmal mehr erfolgreich. Sein Buch Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer. (Edition Sonderwege, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Waltrop, 2014) und die Folgeveröffentlichungen sind allesamt frauenfeindlich, rassistisch und homophob.

[11] Der in Köln geborene Selim Özdoğan zählt zu einer Zwischengeneration der türkisch-deutschen Literatur. In den 70er geboren, ist er rund 10 Jahre jünger als Feridun Zaimoglu, Zafer Şenocak und Akif Pirinçci und 10 Jahre älter als Deniz Utlu und Mutlu Ergün-Hamaz. Özdoğan bedient verschiedene Genres und wird aus meiner Sicht fälschlicherweise als Popliterat bezeichnet.  2016 erschien von ihm Wieso Heimat? Ich wohne hier doch nur zu Miete!  (Haymon Verlag), welches den sprachlichen Höhepunkt seines Schaffens markiert. Özdoğans Ansatz ist ebenfalls ein postmigrantischer und postnationaler. Er versteht sich als kosmopolitischer Autor, der verstärkt durch die amerikanische Literatur geprägt wurde.