Ein Krieg auf Tuchfühlung. Hans Magnus Enzensbergers (unwillkürliche) Annäherungen an den Jugoslawienkonflikt / by Gordana-Dana Grozdanic

Ein Krieg auf Tuchfühlung. Hans Magnus Enzensbergers (unwillkürliche) Annäherungen an den Jugoslawienkonflikt

Gordana-Dana Grozdanic


Download PDF

Abstract:

Hans Magnus Enzensbergers Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg ist eines der ersten literarischen Zeugnisse, in dem ein breit angelegter, global ausgerichteter Versuch unternommen wird, sich mit der neuen geopolitischen und ideologischen Weltkonstellation auseinanderzusetzen, die sich in den ersten Jahren nach dem Mauerfall durch eine Gewalteskalation auszeichnete. In Enzensbergers makroperspektivischer Zeitdiagnose, die in dem globalen Chaos der Gewalttätigkeit eine intellektuelle Orientierung anzubieten trachtet, kommt den jugoslawischen Kriegen, genauer gesagt, ihrem nahen Schauplatz, eine besondere Rolle zu. Den Drehpunkt der textuellen Analyse im vorliegenden Artikel bildet die Denkfigur der Nähe, die die asymetrische Dynamik in der Wahrnehmung diesesfremden Krieges demonstriert, so daß Nähe und Ferne nicht in einem direkt proportionalen Verhältnis mit der geographischen Entfernung stehen, sondern den Schauplatz der kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan von Anfang an diskursiv aus der diskreten Lokalität in der südöstlichen europäischen Ecke in andere räumliche und gedankliche Konstellationen hineingebracht wird.


Zwar stimmt Habermas’ etwas simplifizierende Äußerung, dass für den jugoslawischen Krieg als „ethnonationale(n) Konflikt“ „lokale Erklärungen ausreichend“ seien,[1] doch war dessen Aufnahme keineswegs „lokal“. Die Kriege in Slowenien, Kroatien und insbesondere in Bosnien wurden in zahlreichen soziologischen, philosophischen und historischen Untersuchungen als Produkt, Symptom und Symbol einer Krise betrachtet, die die Öffnung der längsten innereuropäischen Grenze herbeigeführt hat. Der vorliegende Artikel ist Teil einer längeren Studie, in der die Reaktionen der deutschsprachigen Autoren auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien untersucht werden. Den Drehpunkt der textuellen Analyse bildet die Denkfigur der Nähe, die die asymetrische Dynamik in der Wahrnehmung dieses fremden Krieges demonstriert, so dass Nähe und Ferne nicht in einem direkt proportionalen Verhältnis mit der geographischen Entfernung stehen, sondern der Schauplatz der kriegerischen Ereignisse auf dem Balkan von Anfang an diskursiv aus der diskreten Lokalität in der südöstlichen europäischen Ecke in andere räumliche und gedankliche Konstellationen hineingebracht wird. Enzensbergers Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg[2] ist eines der ersten literarischen Zeugnisse, in denen ein breit angelegter, global ausgerichteter Versuch unternommen wird, sich mit der neuen geopolitischen und ideologischen Weltkonstellation auseinanderzusetzen, die sich in den ersten Jahren nach dem Mauerfall durch eine Gewalteskalation auszeichnete. In Enzensbergers makroperspektivischer Zeitdiagnose, die in dem globalen Chaos der Gewalttätigkeit eine intellektuelle Orientierung anzubieten trachtet, kommt den jugoslawischen Kriegen, genauer gesagt, ihrem nahen Schauplatz, eine besondere Rolle zu.

Aussichten auf den Bürgerkrieg: Die Erdkugel in der Krise

Wäre man zynisch, könnte man behaupten, dass einen bei der Lektüre von Aussichten auf den Bürgerkrieg ein Gefühl von alle Grenzen überschreitender Brüderlichkeit und Einheit mit dem Menschengeschlecht überwältigt – so universal sind die Gewaltausbrüche in Enzensbergers Essay, die auf der Erdkugel toben oder in ihren unwahrscheinlichsten Ecken brüten und lauern: von Sarajevo bis Somalia, von Los Angeles bis Lübeck. Für einen nicht-zynisch gestimmten Geist ist das Leseerlebnis eher ein bedrückendes: „Mit dem Ende des Kalten Krieges hat auch den machtgeschützten Idyllen des Westens die Stunde geschlagen […] Sichtbares Zeichen für das Ende der bipolaren Weltordnung sind die dreißig bis vierzig offenen Bürgerkriege, die derzeit auf der ganzen Welt geführt werden“ (12). Doch während die Kriege, wie wir sie aus der älteren oder neueren Geschichte kennen, zumeist in einem wenn auch fragwürdigen ideologischen Rahmen stattfanden und durch eine staatliche Instanz unter Kontrolle gehalten werden konnten, werden die Bürgerkriege von heute vom „bewaffnete[n] Mob“ geführt, den „kein Ziel, kein Projekt, keine Idee zusammenhält, sondern eine Strategie, die diesen Namen kaum verdient, denn sie heißt: Raub, Mord und Plünderung“ (18). Die plötzliche Auflösung der friedlichen Idylle ist nicht nur auf der makroskopischen Ebene zu beobachten – auch in die westlichen Metropolen ist eine neue Art Gewalt eingezogen, der dieselben Prinzipien wie den Gewaltausbrüchen auf den entfernten Kontinenten zugrundeliegen: der autistische Charakter der Täter, ihre Unfähigkeit zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden sowie das Fehlen aller Überzeugungen.

Die Verfassung der Welt, in der man plötzlich „ohne die problematischen Gewißheiten des Kalten Krieges auskommen“ musste,[3] veranlasste auch andere westliche (und nicht nur westliche) Intellektuelle zu zeitdiagnostischen Über- und Auslegungen, so dass die alte Frage danach, „was die Welt, im inneren zusammenhält“ oder vielmehr auseinandertreibt, mit neuer Vehemenz und Dringlichkeit angeschnitten wurde.[4] Ähnlich wie Enzensberger beobachtet Eric Hobsbawm mit Unbehagen die globale Eruption der Gewalt und stellt auch fest:

the current turmoil of nationalist conflicts and civil wars is not to be regarded as an ideological phenomenon at all, and still less as the re-emergence of primordial forces too long suppressed by Communism or Western universalism, or whatever else the current self-serving jargon of the militants of identity politics calls it. It is, in my view, a response to a double collapse: the collapse of political order as represented by functioning states – any effective state which stands watch against the descent into Hobbesian anarchy – and the crumbling of the old frameworks of social relations over a large part of the world – any framework which stands guard against Durkheimean anomie.[5]

Während aus Hobsbawms Sichtweise diese Veränderungen der Schwächung der Institutionen der Moderne entstammen, ist es für Enzesnberger die Moderne selbst, die die Keime einer solchen Entwicklung in sich trägt. Die heutigen Täter rekrutieren sich aus der Armee derjenigen, die einer permanenten, dem Modernisierungsprozess selber immanenten Marginaliserung ausgesetzt sind: „Denn das Projekt der Modernisierung ist jedenfalls in dem Sinne gescheitert, dass die ,Zurückgebliebenen‘, wo immer sie sich finden mögen, in einer aussichtslosen Lage sind. Aus ökologischen, demographischen und wirtschaftlichen Gründen wird das Modernisierungsgefälle nie mehr auszugleichen sein; die Niveauunterschiede nehmen im Gegenteil mit jedem Jahr zu“ (Aussichten 44). Hier macht sich die Nähe zu jenen Kritikern der Moderne in der Tradition von Theodor W. Adorno, Michel Foucault und Zygmunt Bauman erkennbar, die Gewalt oder Barbarei als deren konstitutiven Teil betrachten: der Modernisierungsprozess führt laut diesen Theorien entgegen den fortschrittsgläubigen Erwartungen nicht zur Beseitigung, sondern zur Umverteilung der Gewalt; sie ist kein Rand- sondern ein Binnenphänomen. Aus dieser Perspektive ist die Trennlinie von 1989 kein klarer Einschnitt, sondern eine eher zur Orientierung angesetzte Datierung, die einen neuen historisch-politischen Hintergrund einleitet, gegen den schon früher vorhandene, als marginal geltende Tendenzen eine vorherrschende Stellung erlangen und somit eine neue Qualität annehmen.

Auch in einem anderen Zusammenhang ist von einer solchen Zäsura nur beschränkt zu sprechen. Enzensberger war nämlich einer der ersten, der etliche neue Charakteristiken von zeitgenössischen bewaffneten Konflikten erkannt hat. Mit seinen Überlegungen nahm Enzensberger viele Einsichten aus der rezenten Kriegsforschung vorweg, die in den neunziger Jahren einen frischen Aufschwung erlebte und in zahlreichen Untersuchungen die nach der Auflösung der Blockordnung weltweit entbrannten Konflikte theoretisch und historisch zu verorten versuchte. Die terminologische Verwirrung spielt dabei keine geringe Rolle, so dass man oft einfach von „neuen Kriegen“ spricht. Nach Mary Kaldor ist ihre Neuheit keine absolute:

It is often argued that the new wars are a consequence of the end of the Cold War; they reflect a power vacuum which is typical of transition periods in world affairs. […] But equally, the end of the Cold War could be viewed as the way in which the Eastern bloc succumbed to the inevitable encroachment of globalization – the crumbling of the last bastions of territorial autarchy, the moment when Eastern Europe was ‘opened up’ to the rest of the world.[6]

Liest man die Aussichten auf den Bürgerkrieg vom Ende her, dann ist die primäre Zielscheibe von Enzensbergers Kritik die interne deutsche Lage der frühen neunziger Jahre, die durch Schockwellen der gewalttätigen Angriffe auf Ausländer oder diejenigen, die als solche wahrgenommen wurden, gekennzeichnet war, denn der Text mündet in der Empfehlung, was angesichts der Ereignisse in den einst friedlichen west- und ostdeutschen Provinzstädten zu unternehmen ist. Enzensbergers kontroverser Vorschlag lautet ,Kehren vor der eigenen Tür‘: „Bevor wir den verfeindeten Bosniern in den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen. Für die Deutschen muss es heißen: Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen“ (90).

Einige Koordinaten dieser bedrohlichen, gefährlichen Weltverfassung wurden in dem 1992 erschienenen Essay Die Große Wanderung[7] entworfen. Der turbulente Zustand der Erdkugel hat alle Symptome einer globalen Krise: Menschenhandel, überflüssige Völker und Menschengruppen, Xenophobie, Kluft zwischen Armen und Reichen sind zugleich Ursachen und Folgen von in der Geschichte des Menschengeschlechts in diesem Ausmaß noch nie erlebten Migrationsbewegungen. Die Gemütslage auf dem europäischen Kontinent nach seiner Öffnung im Jahre 1989 ist alles andere als ermutigend, denn angesichts der als überwältigend wahrgenommenen Immigrantenwellen vergleichen dessen Bewohner ihre Lage mit der von Schiffbrüchigen, die bei Enzensberger in einer interessanten Umkehrung der berühmten Parabel nicht im Rettungsboot Schutz gefunden haben, sondern – weil das Boot von anderen voll besetzt ist – im Wasser vergeblich ums Leben kämpfen. Das Gefühl des Überwältigtseins ist jedoch eben nur das – ein Gefühl, eine Ahnung: „Offenbar wähnen viele Westeuropäer, dass sie sich in Lebensgefahr befinden“ (26, Hervorhebung G.D.G.).

Eine solche Sprache macht es schwierig, zwischen real vorhandener und wahrgenommener Gefahr oder Bedrohung zu unterscheiden. Die sich daraus ergebende diskursive Ambiguität kennzeichnet auch den Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg, nicht zuletzt durch den auffälligen Gebrauch von Adverbien und Partikeln wie „wohl“, „wahrscheinlich“, „vermutlich“ usw. Daher ist es möglich, diesen Text nicht nur als eine theoretische oder wissenschaftliche Abhandlung zu lesen, wie dies Paul Michael Lützeler in seiner großen Studie Bürgerkrieg global[8] unternimmt, indem er Enzensbergers Essay mit den wichtigsten Forschungsarbeiten zu dem Begriff „Bürgerkrieg“ vergleicht und zum Teil mit Recht seine Unzulänglichkeiten kritisiert. Der Sprachgebrauch und die Gattungswahl weisen jedoch eher darauf hin, dass uns Enzensberger nicht vordergründig eine Theorie, sondern einen Kommentar zu den dominanten Phänomenen im Zeitgeschehen der frühen neunziger Jahre liefern wollte.

Da diese Phänomene als ein historisches Novum empfunden werden, für das im begrifflichen Apparat ein passender Ausdruck fehlt, greift Enzensberger nach der vagen Bezeichnung „Bürgerkrieg“, um die aus den Fugen geratene Realität zu erfassen. Diese Bezeichnung hat metaphorische Züge, denn sie bezieht sich auf eine diverse Gruppe von Erscheinungen, die von individuellen Gewaltakten bis hin zu regionalen Kriegen reichen. Ein solches Verfahren ist an sich kein historisches Novum: „Metaphors are crucially necessary when a culture or social group encounters phenomena that either elude or run afoul of normal expectations or quotidian experiences.“[9] Die Frage ist, warum eine Metapher in einer Gesellschaft, einer sozialen Gruppe oder in einer bestimmten Zeit Wurzeln schlägt und wo ihre überzeugende Wirkung liegt.

Bosnien en miniature: Die aporetische Nähe des jugoslawischen Konflikts

„Die Bilder vom molekularen und makroskopischen Bürgerkrieg gleichen sich bis ins Detail,“ behauptet Enzensberger (Aussichten 32). Durchaus vergleichen könne man „[d]en Tschetnik mit dem Gebrauchtwagenhändler, der in Texas, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, auf einen Turm steigt und in die Menge schießt“ (20). Obwohl „unsere Bürgerkriege“ noch nicht die Massen ergriffen haben, macht die grundsätzliche Verwandschaft der Täter die Aussichten auf den makroskopischen Bürgerkrieg in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten vorstellbar: „Auf diese Weise kann jeder U-Bahn-Wagen zu einem Bosnien en miniature werden“ (30). Hier treffen rhetorische Mittel aufeinander, die das gesamte Schaffen Enzensbergers kennzeichnen: die Herstellung von Verbindungen zwischen scheinbar disparaten Erscheinungen, die Knappheit der Metapher, die suggestive Kraft und Anschaulichkeit des Vergleichs. In seiner poetologischen Essaystudie sagt Max Bense, „dass in jedem Essay jene schönen Sätze auftreten, die wie der Same des ganzen Essays sind, aus denen er also immer wieder hervorgehen kann.“ Er nennt sie „Elementarsätze eines Essays, die sowohl einer Poesie als auch einer Prosa angehören“, denn sie enthalten „Bruchstücke einer ,vollkommen sinnlichen Rede‘“ und „Bruchstücke eines pointierten Gedankens, also Bruchstücke einer vollendeten Deduktion.“[10] Die ausgewogene, einander ergänzende Mischung aus poetischen und prosaischen Elementen, die nach Bense einen gut gelungenen Essay kennzeichnet, ist auch in der Rhetorik zu Hause, deren integraler Teil von den ersten Anfängen in der griechischen Antike nicht nur Argumentationstheorie und Stillehre, sondern auch Affektenlehre war.[11]

Ob es Enzensbergers Absicht war, mit der mehrmaligen Evokation von jugoslawischen Schreckensszenarien seinen Lesern Angst einzutreiben, sei dahingestellt. Dass seinem Schreibstil an entscheidenden Stellen sowohl Erkenntnis als auch Affekterregung innewohnen, ist jedoch zweifellos. Denn der zeitdiagnostische Sachverhalt, der historische, anthropologische, politische und wirtschaftliche Vernunftgründe für den aktuellen Weltzustand betätigt, wird immer wieder mit emotionserregenden Redefiguren illustriert. Der Elementarsatz des Essays, in dem die im Titel angekündigten Aussichten auf den Bürgerkrieg auf eine scheinbar einfache Formel zurückgeführt werden, enthält beide Elemente: der Satzteil „auf diese Weise“ verweist auf eine schlussfolgernde, beweisführende gedankliche Operation, den Vergleichsgliedern „U-Bahn-Wagen“ und „Bosnien en miniature“ wohnt hingegen eine emotionale Wirkungsleistung inne. Das Bild des U-Bahnwagens evoziert einen vertrauten Teil der Alltagswelt, der von allen benutzt wird, in dem man sich sicher fühlt.[12]

Metaphern und andere tropische Figuren schöpfen ihre Wirkung nicht nur aus einer geschickten, originellen, phantasievollen Sprachbegabung von deren Erfindern, sondern in gleichem Maße aus der Beachtung des breiteren kulturellen und historischen Kontexts, in dem sie entstehen und eingesetzt werden. Man stützt sich auf die „in einer Kultur gängige Assoziationen im Sinne von Annahmen und wertenden Einstellungen hinsichtlich der metaphorisch bezeichnenden Gegenstände und Sachverhalte“,[13] die Identifikation und Interpretation von Tropen ermöglichen und beeinflussen. Ist der kulturelle Kontext für eine gelungene Wirkung der metonymischen Redefigur „U-Bahn-Wagen“ deren Kontiguitätsverhältnis zu der dadurch zu evozierenden Alltagswelt, geht die suggestive Wirkung des zweiten Vergleichsglieds, „Bosnien en miniature“, in erster Linie aus der Wahl der Ortsangabe hervor und hat ihren Stützpunkt im vom Autor einkalkulierten Vorwissen der Leser über die gewählte Lokalität; dafür spricht nicht nur ihre Platzierung im ersten Drittel des Textes und die zahlenmäßige Dominanz von Beispielen aus dem Jugoslawienkrieg, sondern auch das Ausbleiben ausführlicher Schilderungen des Jugoslawienkonflikts, die dem Leser die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ als Aussichten auf ein „Bosnien en miniature“ bildhaft vorführen würden.

Diese Ökonomie der Bilder ist natürlich deshalb möglich, weil der Bosnienkrieg zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Aussichten auf den Bürgerkrieg alle deutschen (und europäischen) Medien beherrschte. Die Kriegsbilder waren in die Wohnzimmer der Bundesbürger eingezogen; jeder konnte sich die entseelten Straßen von Sarajevo vorstellen, auf denen vereinzelte Bewohner der umzüngelten Stadt unter ständiger Gefahr vor Scharfschützen auf dem Weg, Wasser oder Essen zu holen, hinter jedem geeigneten Gegenstand Schutz suchten, so dass sie sogar ohne genaue Ortsangabe eingesetzt werden können: „Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, es herrsche Frieden, nur weil wir immer noch unsere Brötchen holen können, ohne von Heckenschützen abgeknallt zu werden.“[14]

Das Bestreben, mit einem Minimum an Zeichen möglichst größte Wirkung zu erzielen, gehört zu den beliebtesten Verfahren der „Bewusstseinsindustrie“, deren Anatomie Enzensberger schon in den sechziger Jahren erforschte. Als einer jener in Deutschland selten anzutreffenden Autoren, der sich immer wieder zu den Medien kritisch äußerte, sie gleichzeitig aber auch geschickt zu nutzen wusste, wundert es nicht, dass Medien und die von ihnen gesendeten Bilder bei Enzensberger nicht eindimensional zu Missetätern degradiert oder zu Wohltätern verklärt werden und dass er sich zu keiner der zwei Fraktionen unter den heutigen „Medienpropheten“ gesellt, weder zu „Apokalyptikern“ noch zu „Evangelisten.“[15] In Aussichten auf den Bürgerkrieg wird dies besonders deutlich. Einerseits nimmt Enzensberger Anstoß daran, dass die Medien nicht nur zur Gewaltverherrlichung neigen, sondern den Zuschauer überfordern und somit – wenn auch unbeabsichtigt – seine Passivität und Handlungsunfähigkeit herbeiführen: „Schon die bloße Menge von Informationen, mit denen er bombardiert wird, widersetzt sich jeder sinnvollen Verarbeitung.“ Auf diese Feststellung folgt eine Liste von „Kriegs- und Krisengebieten“, die als Illustration für den Überflut von Informationen dient: die Zuschauer werden aufgefordert, „zwischen Inguschen und Tschetschenen, Georgiern und Abchasen zu unterscheiden“; von ihnen wird erwartet, sich um „islamische Sekten, afrikanische Milizen und kambodschanische Fraktionen“ zu kümmern (77f.). Andererseits senden sie auch eine andere, beinahe subversive Botschaft, indem sie die Fragilität unserer eigenen Lebenswelt bloßlegen und bewirken, dass wir uns in unserem Wohnzimmer weniger zu Hause fühlen: „Sie [die Botschaft] besagt, dass der Schrecken das Gewöhnliche ist und das Unsagbare jederzeit und überall getan werden kann. Warum also nicht auch hier?“ Was hier das Unsagbare genannt wird, heißt an der anderen Stelle „Bosnien en miniature“, jener nahe Kriegsschauplatz, der bezeichnenderweise auf der Liste von verwirrenden geographischen Lokalitäten und ethnischen Gruppen fehlt.

Durch das geschickte Kombinieren von Alltagswissen einerseits und medienvermittelten Informationen und Bildern andererseits erzeugt Enzensbegrer ein Neben- und Durcheinander von Nähe und Ferne, von Vertrautem und Fremdem, mit dem der Leser konfrontiert wird. Metonymische und metaphorische Elemente vermischen sich im Elementarsatz des Essays. Es entsteht eine komplexe Denkfigur, deren Zentrum sich zwischen Fremdmachen und Näherrücken bewegt. Dieselbe Dynamik kennzeichnet einen weiteren Text, der im Folgenden behandelt werden soll.

Die Instabilität der Hausbilder: Vor wessen Haustür eingentlich?

Im Text Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte[16] nimmt Enzensberger seine Leser auf eine Reise nach Kampala mit, wo er sich in einem Hotelcafé mit den Vertretern der ugandischen intellektuellen Elite unterhält: einem Anwalt, einem Beamten, einem Dramatiker und einem Literaturprofessor. Der Bürgerkrieg in Uganda hat aufgehört, das Leben normalisiert sich und das afrikanische Land zieht keine Kriegstouristen mehr an: „Denn seitdem es keine Leichen mehr zu filmen gibt, ist Uganda aus den internationalen Medien verschwunden.“ Enzensbergers Präsenz scheint auf den ersten Blick die These zu widerlegen, dass sich niemand mehr für das Land interessiert, seitdem dort Frieden herrscht. Es stellt sich jedoch bald heraus, dass das Interesse des europäischen Besuchers eigentlich nicht dem nun friedlichen Land gilt, sondern dem Krieg auf seinem eigenen Kontinent. Eine kurze Nachricht in der lokalen Zeitung dient als Anlass, das Gesprächsthema auf den Jugoslawienkrieg zu lenken: „Auf der fünften Seite fand ich eine Notiz über Mitterands Versuch, sich als Held von Sarajevo zu präsentieren.“ Die Unterhaltung fängt mit einer kleinen selbstkritischen Provokation seitens des Gastes an: „,Die Europäer haben immer behauptet, Stammeskriege seien eine afrikanische Spezialität. Wenn Sie die Ereignisse in Jugoslawien verfolgen, überkommt Sie da nicht eine gewisse Schadenfreude?‘“ Der Stückeschreiber entgegnet darauf: „‚Schadenfreude – das wäre zuviel gesagt. […] Aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn das, was vor ihrer Haustür passiert, den Europäern zu denken gäbe. Ihr seid uns ähnlicher, als ihr denkt.‘“ (90, Hervorhebung G.D.G.). Darauf folgt die Aufzählung von ugandischen Stämmen, Sprachen und Religionen: „,Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum uns euer Jugoslawien mit seinen sechs oder sieben Völkern nicht besonders imponiert.‘“ Dazu Enzensberger:

,Aber die meisten wollen doch nur ihre Ruhe haben‘, sagte ich schüchtern. ,Sind Sie sicher? Auf die eine oder andere Art haben wir alle mitgemacht, wenigstens zu Anfang. Erst als es nichts mehr zu essen gab, kein Geld, kein Wasser und keinen Strom, also 1984/85, nach fünfzehn Jahren, wollte plötzlich niemand mehr, und der Frieden ist ausgebrochen. Ich war noch nie in Jugoslawien, aber ich denke, dort wird es genauso ausgehen.‘ ,Aber die Kroaten und Slowenen und Kosovo-Albaner berufen sich auf das Selbstbestimmungsrecht.‘ ,Hören Sie mir damit auf! Das Selbstbestimmungsrecht ist das Allerschlimmste, was uns passieren kann. Wenn es danach ginge, gäbe es in Afrika mindestens tausend Nationalstaaten. Oder in Indien. Oder in Ostasien. Und alle, alle würden aufeinander losballern, bis zur letzten Patrone, bis sich nichts mehr rührt, bis alle krepiert sind.‘ (S. 91f. Hervorhebung G.D.G.)

Dass die Welt in Uganda nicht eingegriffen hat, sei Glück gewesen und man sollte auch in Bosnien nicht eingreifen: „,Lassen Sie die Finger davon! Es gibt nur eins, was einen Bürgerkrieg beenden kann. Das ist die Erschöpfung.‘“ Das Gespräch endet in Resignation: „Ich hatte keine Lust, ihm zu widersprechen“ (94).

Die Skizze enthält eine doppelte Verschiebung. Zum einen lässt Enzensberger durch eine geschickte rhetorische Strategie seine Gesprächspartner ihre Meinung aussprechen, bewahrt aber die Kontrolle über die Konversation, indem er durch provozierende Fragen deren Gegenstand bestimmt und deren Verlauf lenkt. Die Pose, die Enzensberger hier annimmt, ist die eines naiven Humanisten, der von den Afrikanern des Besseren belehrt wird. Zum anderen setzt Enzensberger die schon in den sechziger Jahren begonnene De-Zentralisierung oder Peripherisierung Europas fort, indem er den Schauplatz nach Uganda verlegt und den dortigen Intellektuellen eine Stimme gibt. Inszeniert wird dadurch eine Art zusammengeschrumpfte Gegenöffentlichkeit, und der Adressat der Ansichtskarte ist ihre europäische oder deutsche Gegenspielerin.[17] Der Dialog zwischen den beiden wird nicht nur durch die von Enzensberger inszenierte Vermittlerrolle, sondern auch durch die Präsenz eines weiteren Elements ermöglicht – der globalen Mediengemeinschaft.

In seiner einflussreichen Untersuchung verbindet Benedict Anderson die Entstehung der nationalen Idee mit der Geschichte des Druckwesens, eines Mediums, durch das eine „imagined community of readers“ ins Leben gerufen wird.[18] In Analogie dazu ließe sich von einer weltweiten Leser- und Zuschauergemeinschaft sprechen, die heutzutage durch globale Kommunikationsmittel verbunden ist. Eine mikroskopische Version dieser Gemeinschaft trifft sich im ugandischen Hotel; der Impuls für ihr Zustandekommen löst ein Zeitungsartikel aus. Die globale lingua franca – zu vermuten ist, dass es sich um eine Publikation in englischer Sprache handelt, der Sprache der einstigen Kolonialherrschaft – bringt ihre Benutzer jedoch keineswegs horizontal zusammen, denn diese community weist eine bestimmte Hierarchie auf: Der Besuch des französischen Präsidenten in der belagerten bosnischen Stadt im Juni 1992 beherrschte die Schlagzeilen der europäischen Presse, während er in der ugandischen Zeitung lediglich eine Kurznachricht wert war. Dies hindert den europäischen Besucher keineswegs daran, den bosnischen Krieg zum zentralen Gesprächsthema zu machen. Die globale Perspektive verengt sich, er kann aus seiner eigenen „imagined community of readers“ nicht heraus und das Gespräch kreist um die Ereignisse vor Enzensbergers „Haustür“.

Bestürzt sollte sich der aufmerksame Leser hier fragen, was sich hinter dieser Ortsangabe verbirgt. Denn derselbe Ausdruck begegnet – wie wir gesehen haben – auch in einem anderen Kontext. Wenn Enzensberger nämlich in Aussichten auf den Bürgerkrieg sagt: „Überall brennt es vor der eigenen Haustür“, und den Leser dazu bewegen will, das eigene, vom Brand bedrohte Haus zu schützen, dann ist damit zweifellos die Bundesrepublik gemeint. Auch im Essay Die Große Wanderung kommen Bilder und Tropen vor, die in das Wortfeld Haus hineinpassen. Dort steht „die Bewohnbarkeit der Bundesrepublik“ auf dem Spiel.[19] Gehörte sie in den achtziger Jahren noch zu den bevorzugsten Ländern auf der Erdkugel,[20] hat sie mittlerweile der Brand, den die allgemeine „individuelle oder organisierte Menschenjagd“ provoziert, unbewohnbar gemacht.[21]

Sieht man sich genauer an, was sich hinter dem Bild und dem Begriff „Haus“ versteckt, dann begegnet einem seine fast unübersehbare Mehrdeutigkeit – es kann symbolische, politische, soziologische, wirtschaftliche Bedeutungsebenen beinhalten,[22] was einerseits seine Ambiguität und Vagheit hervorhebt, andererseits seine suggestive Wirkung erhöht. Und oft bezieht es sich gleichzeitig auf einen materiellen Raum und auf die Personen, die in diesem Raum wohnen. Aus diesem Grunde ist „Haus“ wahrscheinlich zu einer der beliebtesten Metaphern in der Bildersprache der nationalen Ideologien geworden: „Nation-state and nation is often imagined in the vocabulary of kinship or home, Heimat, something to which one is naturally tied“ (Anderson 142). Dass Enzensbergers neue Sprache von vielen mit der alten, nationalistischen verwechselt wurde, die nicht selten das Haus mit dem Nationalstaat identifizierte, um sich von anderen abzuschotten und zu isolieren, ist nur verständlich.

In seiner klassischen Studie Poetics of Space[23] untersucht Gaston Bachelard die Bilder von glücklichen Orten und Räumen. Eines der zentralen Bilder ist das vom Haus: „our house is our corner of the world“; es ist „a center of magnetic force“, „a major zone of protection“, „a place of intimacy“ (4). „A house constitutes a body of images that give mankind proofs or illusions of stability“ (17). Insbesondere in Augenblicken, in denen eine Bedrohung von außen sichtbar wird, kristallisiert sich das Bild vom Haus als einem Schutz gewährenden, streng von der Außenwelt abgegrenzten Raum:

A reminder of winter strengthens the happiness of inhabiting. In the reign of imagination alone, a reminder of winter increases the house’s value as a place to live in. […] In any case, outside the occupied house, the winter cosmos is a simplified cosmos. It is a non-house in the same way that metaphysicians speak of a non-I, and between the house and the non-house it is easy to establish all sorts of contradictions. Inside the house, everything may be differentiated and multiplied. The house derives reserves and refinements of intimacy from winter; while in the outside world, snow covers all tracks, blurs the road, muffles every sound, conceals all colors. (40)

An mehreren Beispielen belegt Bachelard, wie die literarische Gestaltung dieses Bildes um die Idee und das Gefühl von Sicherheit und Schutz kreist. Dieses Gefühl beruht vor allem auf der Abgrenzung zwischen dem intimen, überschaubaren Leben im Haus und der feindlichen, kalten, nichtdifferenzierten Außenwelt. In dem vom Schnee bedeckten, eintönigen Winter-Kosmos bietet das Haus einen Ankerpunkt, eine Orientierung in der unfreundlichen Umgebung.

Das Hervorrufen des Haus-Bildes teilt die Welt nach Bachelard in ein Haus und ein Nicht-Haus ein. Was für eine Topographie ergibt sich aus Haus-Metaphern in Enzensbergers Texten? Zahlreiche raummetaphorische Redefiguren, die um dieses Bild kreisen, beziehen sich ohne Zweifel auf Enzensbergers Heimatland. Ist das ein Rückzug in die ,Territorialität‘, wie sie Bauman in seiner Analyse der Globalisierungsfolgen im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts beschrieben hat: „In an ever more insecure and uncertain world the withdrawal into the safe haven of territoriality is an intense temptation; and so is the defense of the territory – the ,safe home‘ becomes the pass-key to all doors which one feels must be locked to stave off the triple threat to spiritual and material comfort.“[24] Interpretationen, die in Enzensbergers Schaffen eine Wende sehen oder sogar eine Annäherung an den konservativen Diskurs diagnostizieren,[25] lassen allerdings unberücksichtigt, dass er sich von der Institution Staat nie vollkommen verabschiedet hat. Der Rückgriff auf den Staat und sein Gewaltmonopol als die einzige institutionelle Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu stoppen, verwundert insofern nicht, als sich das fröhliche europäische Chaos der achtziger Jahre unter dem Dach des Nationalstaates abspielte;[26] eine andere politische Handlungs- und Entscheidungsinstanz war für Enzensberger aus seiner tiefen Skepsis allen Insitutionen gegenüber kaum vorstellbar und das staatliche Gewaltmonopol scheint eher das zeitweilig zu bevorziehende kleinere Übel zu sein als eine permanente Lösung anzubieten.

Darüber hinaus ist der Staat, imaginiert in einer neuen Sprache als Haus, keine stabile Entität, die sich nach außen zum Nicht-Haus problemlos abgrenzen oder abschotten kann. Das, was wir hier eine neue Sprache genannt haben, ist genau genommen keine aus nichts kreierte Erfindung. Eher handelt es sich um einen bestimmten Umgang mit Begriffen und Wörtern, den beispielsweise Adorno zu einem der Wesenszüge des Essays erhob: „Der Essay […] nimmt den antisystematischen Impuls ins eigene Verfahren auf und führt Begriffe umstandslos, ,unmittelbar‘ so ein, wie er sie empfängt. Präzisiert werden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander. […] In Wahrheit sind alle Begriffe implizit schon konkretisiert durch die Sprache, in der sie stehen.“[27] Dies gilt auch für das Wortfeld Haus, durch dessen ,Präzisierung‘ im adornitischen Sinne Enzensberger sich auf eine Gratwanderung zwischen denjenigen begibt, die von einem nach außen geschlossenen Haus schwärmen, und denjenigen, die ihre vermeintliche intellektuelle Obdachlosigkeit zum Fundament einer universalen und gerade deshalb ohnmächtigen Verantwortungsethik[28] stilisieren. Enzensbergers Gebrauch von Haus-Metaphern und ihr Verhältnis zueinander zeigt, dass die eigenen vier Wände kein gesegnetes Fleckchen Erde mehr sind. Und sie sind schon lange nicht mehr so fest, wenn sie es jemals gewesen waren.[29] Die molekularen Kriege in deutschen Großstädten, die dieselben Züge tragen wie Konflikte in entfernten Teilen des Planeten, verschmelzen das Schutz und Sicherheit bietende Haus mit dem unfreundlichen, gefährlichen Winterkosmos. Das Adjektiv panoramisch versagt vor Enzenbergers mit grobem Pinsel ausgemaltem zeitdiagnostischem Porträt der Erdkugel: turbulente, unkontrollierbare und unvorhersehbare Gewaltausbrüche machen alle Trennlinien durchlässig und verwischen alle Unterschiede. Und so könnte man erwarten, dass dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien keine Sonderbehandlung zukommt.

Tatsächlich will Enzensberger diesen Krieg nicht als etwas Einzigartiges betrachten. Sei es die afrikanische Perspektive in Bosnien, Uganda oder die globale Blickweise in Aussichten auf den Bürgerkrieg – der Krieg im südöstlichen europäischen Land wird stets als Symptom einer weltweiten Krise angesehen. Die rhetorische und diskursive Analyse verrät aber etwas anderes: durch komplexe, mehrdeutige Raumtropen wie „Bosnien en miniature“ oder „vor ihrer Haustür“ wird immer wieder ein Kriegsschauplatz näher gerückt als die anderen; es macht sich eine Ambivalenz diesem einen Bürgerkrieg gegenüber erkennbar, die man topographisches Unbehagen nennen könnte. Im abstrakten globalen Raum mit unzähligen von einander nicht zu unterscheidenden „Krisen- und Kriegsgebieten“ hat Bosnien die Konturen eines konkreten, nahen Ortes. Somit erscheint das Diktum vom ,Kehren vor der eigenen Haustür‘ am Ende alles andere als eindeutig und Enzensbergers Text liest sich als eine – wenn auch unwillkürliche – transnationale Intervention. Und eine, freilich unbeantwortbare Frage bleibt: ob die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ ohne Bosnien so grimmig ausgefallen wären.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor: Der Essay als Form. In: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. Seite 9-33.

„Affektenlehre“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Band 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2001. Seite 218-252.

Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso, 2000.

Bachelard, Gaston: Poetics of Space. Boston: Beacon Press, 1994.

Bauman, Zygmunt: Globalization. The Human Consequences. New York: Columbia University Press, 1998.

Bense, Max: Über den Essay und seine Prosa. In: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Ludwig Rohner. Bd. 1. Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand Verlag, 1968. Seite 54-69.

Enzensberger, Hans Magnus: Eurozentrismus wider Willen. In: Politische Brosamen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch, 1982.

—: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987.

—: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote `Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd.‘ Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.

—: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.

—: Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte. In: Zickzack. Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.

—: Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdecken. In: Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich: über Hans Magnus Enzensberger. Hrsg. von Rainer Wieland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999. Seite 96-111.

—: Das digitale Evangelium. In: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.

Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.

„Haus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 3. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. Verlag, 1976. Seite 1008-1020.

Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998.

Hobsbawm, Eric: Barbarism: A User’s Guide. In: New Left Review 206, 1994. Seite 44-54.

Kaldor, Mary: The New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era. Stanford, California: Stanford University Press, 2001.

Lützeler, Paul Michael: Brüssel und Sarajevo. Die Schriftsteller und Europa vor und nach 1989. In: Ders., Europäische Identität und Multikultur. Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1997. Seite 177-192.

Paul Michael Lützeler, Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink Verlag, 2009.

„Metapher“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Zweite Auflage. Band 3. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1984.

„Metapher“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 5. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemayer Verlag, 2001. Seite 1100-1183.

Morgen, Peter: ‘Something greater, an emotion more transcendent’: Violence and the Reconstruction of Group Identity in Enzensberger’s Civil War. In: Debating Enzensberger. Hrsg. von Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1996. Seite 103-116.

Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002.

Roberts, David: What’s Left? – Enzensberger und the Role of the Intellectual in Germany. In: Debating Enzensberger. Great Migration and Civil War. Hrsg. von Gerhard Fischer. Seite 31-37.

Stavropoulos, Pam: Eliding Politics: Enzensberger and the Aesthetics of Evasion. In: Debating Enzensberger. Hrsg. von Gerhard Fischer. Seite 74-91.

White, Hayden: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1985.

  1. [1]Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. S. 111.
  2. [2]Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. Ein Vorabdruck des Essays ist im Spiegel 25/1993 erschienen.
  3. [3]Hans Magnus Enzensberger, „Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdecken“. In: Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Hrsg. von Rainer Wieland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999. S. 96-111. Zitat S. 108.
  4. [4]Die Thesen vom Ende der Geschichte oder vom „clash of civilizations“ fanden bekanntermaßen genausoviele Anhänger wie Kritiker.
  5. [5]Eric Hobsbawm, „Barbarism: A User´s Guide.“ In: New Left Review 206, 1994. S. 44-54. Zitat S. 53.
  6. [6]Mary Kaldor, The New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era. Stanford, California: Stanford University Press, 2001. S. 3f. Im Vergleich zu den alten Kriegen sind die neuen laut Kaldor in dreierlei Hinsicht zu unterscheiden. Erstens haben sich ihre Ziele verschoben: im Gegensatz zu geopolitischen oder ideologischen Zielsetzungen, die die früheren Kriege kennzeichneten, werden die neuen um “identity politics” geführt. Zweitens haben sich auch die Methoden der Kriegsführung geändert: was die heutigen Kriege vorantreibt, ist nicht mehr die Eroberung eines Territoriums mit Hilfe militärischer Mittel, sondern die Bevölkerungskontrolle mit Hilfe von Vertreibungen oder Massenermordungen. Und schließlich hat sich ihre Finanzierung geändert: sie werden hauptsächlich von außen finanziert, sei es durch Diaspora, durch illegalen Handel oder durch humanitäre Hilfe. Vgl. dazu auch Herfried Münkler, Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002.
  7. [7]Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd.‘ Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.
  8. [8]Paul Michael Lützeler, Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink Verlag, 2009. Vgl. insbesondere S. 36-41.
  9. [9]Hayden White, Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1985. S. 184.
  10. [10]Max Bense, „Über den Essay und seine Prosa.“ In: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Ludwig Rohner. Bd. 1. Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand Verlag, 1968. S. 54-69. Zitat S. 61.
  11. [11]Vgl. etwa den Artikel „Affektenlehre“ in Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Band 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2001. S. 218-252.
  12. [12]Wie dieses harmlose Verkehrsmittel zum fruchtbaren Boden für Aggressivität werden kann, führt Enzensberger dem Leser in einer Anekdote bildhaft vor die Augen. „Einer, der kein Auto fährt, erzählt“ von einer Szene in der S-Bahn: Vier Jugendliche steigen zu, die laut in einer unverständlichen Sprache sprechen und eine scheinbar aggressive Körpersprache ausstrahlen. Der Erzähler fühlt sich von ihnen bedroht, „als liege ein Überfall in der Luft.“ Die Jugendlichen verlassen den Wagen und der Erzähler schaut sich die Gesichter anderer Passagiere an. „Sie sind verbittert, wuterfüllt, von einer eigentümlich verzerrten Häßlichkeit. Die Sätze, die sie hervorstoßen, kenne ich nur zu gut.“ Und die Quelle der Bedrohung verschiebt sich: „Nun sind es nicht mehr die Fremden, vor denen ich Angst habe, sondern meine Landsleute.“ Aussichten auf den Bürgerkrieg, S. 53f.
  13. [13]„Metapher“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Zweite Auflage. Band 3. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1984. S. 575. Vgl. dazu auch den ausführlichen Metapher-Artikel in Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 5. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemayer Verlag, 2001. S. 1100-1183.
  14. [14]Aussichten auf den Bürgerkrieg, S. 19. Darüber hinaus rechnet Enzensberger mit einem gewissen Bekanntheitsgrad des vom Krieg heimgesuchten Landes: Viele Leser kannten es aus den friedlichen Zeiten, als die Adriaküste eines der beliebtesten Urlaubsziele von reiselustigen Deutschen war oder als sie im Restaurant eines jugoslawischen Gastarbeiters zu Abend aßen; andere wussten, dass es nur eine Flugstunde von ihrer Stadt lag, in der vieles den nun zerstörten urbanen Landschaften vom Fernsehschirm ähnelte; für wieder andere verband sich mit dem Namen Jugoslawien die eigene Familiengeschichte von vertriebenen Volksdeutschen. In einem Gespräch mit der Verfasserin sprach Enzensberger von diesem jugoslawischen Bildervorrat.
  15. [15]Hans Magnus Enzensberger, „Das digitale Evangelium“. In ders: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
  16. [16]Hans Magnus Enzensberger, „Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte“. In: Zickzack. Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.
  17. [17]Der Text ist ursprünglich 1992 in der tageszeitung erschienen, deren Redakteure „an Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler aus der Region geschrieben und sie gebeten“ haben, „dem Westen die Lage nach Auflösung der Blöcke zu erläutern.“ Die Beiträge wurden in demselben Jahr im Sammelband Europa im Krieg veröffentlicht. Im Unterschied zu den Autoren anderer Beiträge bemüht sich Enzensberger um die Erweiterung der Perspektive. Siehe: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992. Seinem Text ist auch eine implizite Kritik an der Berichterstattung aus Bosnien herauszulesen, denn sie war – verglichen mit Nachrichten aus anderen damaligen Kriegsgebieten – sicherlich überproportional.
  18. [18]Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. New York: Verso, 2000. Vgl. insbesondere S. 31-36.
  19. [19]Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd‘. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992. S. 69.
  20. [20]Vgl. den Essay Eurozentrismus wider Willen. Dort werden die Teilnehmer an einem Gesellschaftspiel aufgefordert, Länder von allen Kontinenten, „in der Reihenfolge ihrer Bewohnbarkeit zu ordnen.“ Das Resultat ist „eher peinlich“, denn hoch auf der Liste sind lauter westeuropäische Vertreter, darunter auch die Bundesrepublik. In: Politische Brosamen. S. 43f.
  21. [21]„Nicht bewohnbar nenne ich eine Gegend, in der es beliebigen Schlägerbanden freisteht, beliebige Personen auf offener Straße zu überfallen oder ihre Wohungen in Brand zu setzen.“ Die Große Wanderung, S. 69.
  22. [22]Vgl. etwa den Artikel „Haus“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 3. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. Verlag, 1976. S. 1008-1020.
  23. [23]Gaston Bachelard, Poetics of Space. Boston: Beacon Press, 1994.
  24. [24]Zygmunt Bauman, Globalization. The Human Consequences. New York: Columbia University Press, 1998. S. 34.
  25. [25]Vgl. dazu: David Roberts, „What´s Left? – Enzensberger und the Role of the Intellectual in Germany“. In: Debating Enzensberger. Great Migration and Civil War. Hrsg. von Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1996. S. 31-37; Pam Stavropoulos, „Eliding Politics: Enzensberger and the Aesthetics of Evasion“. In: Debating Enzensberger. Hrsg. von Gerhard Fischer. S. 74-91; Peter Morgen, „,Something greater, an emotion more transcendent‘: Violence and the Reconstruction of Group Identity in Enzensberger’s Civil War“. In: Debating Enzensberger. Hrsg. von Gerhard Fischer. S. 103-116 und Paul Michael Lützeler, „Brüssel und Sarajevo. Die Schriftsteller und Europa vor und nach 1989“. In: Ders., Europäische Identität und Multikultur. Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1997. S. 177-192.
  26. [26]Hans Magnus Enzensbegrer, Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987.
  27. [27]Theodor Adorno, „Der Essay als Form“. In: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. S. 9-33. Zitat S. 20.
  28. [28]„Jeder soll für alle verantwortlich sein. […] Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter.“ Aussichten auf den Bürgerkrieg, S. 74.
  29. [29]„Deutschland bietet sich als Exempel an für ein Land, das seine heutige Population riesigen Wanderbewegungen verdankt. Seit den ältesten Zeiten ist es hier aus den verschiedensten Gründen zu einem fortwährenden Austausch von Bevölkerungsgruppen gekommen.“ Die Große Wanderung, S. 48.