2013

Das Jahr beginnt mit der fortgesetzten Diskussion um die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren, vor allem von Roma und Sinti, nach Westeuropa. Insbesondere die deutsche und britische Regierung warnt vor potentiellen Kosten für die Sozialsysteme und spricht von „Armutseinwanderung“ beziehungsweise „benefit tourism“. Innenminister Hans-Peter Friedrich lehnt deshalb die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in das Schengener Abkommen ab. Befürworter halten dagegen, dass Einschränkungen der Freizügigkeit kaum einen Effekt haben, da die Mehrheit der migrationswilligen Personen ihre Heimatsländer bereits verlassen hat. Zudem haben in der Vergangenheit andere Beispiele wie Polen gezeigt, dass ein Ansturm nicht zu erwarten ist. Verschiedene Studien zeigen außerdem, dass weniger Migranten Sozialleistungen in Anspruch nehmen als von Friedrich impliziert wird. Die anhaltende Debatte über „Armutseinwanderung“ zeichnet sich durch fragwürdige Behauptungen, populistische Floskeln und Streitigkeiten über Zuständigkeiten zwischen Bundes- und Landesbehörden aus. Gleichzeitig stellt die Migration von zum Teil ganzer Roma und Sinti-Dörfer in westeuropäische Städte die Behörden vor handfeste Probleme. Verantwortliche reisen sogar in die Herkunftsländer, um sich einen Eindruck vor Ort zu verschaffen und die Migration zu stoppen. Der Zuzug von Tausenden von Hilfsbedürftigen stellt auch eine Herausforderung für Einheimische dar, die selbst auf Hilfe vom Staat angewiesen sind: so sind beispielsweise Obdachlosenheime häufiger überfüllt und nicht in der Lage, genügend Schlafplätze zur Verfügung zu stellen.

Im Januar wird ein weiteres Mal in den Feuilletons über den Umgang mit rassistischen Wörtern in der Kinderliteratur debattiert. Die leidenschaftlich geführte Diskussion wird angezettelt durch Familienministerin Kristina Schröders Eingeständnis, dass sie Worte wie „Negerkönig“ in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf-Büchern beim Vorlesen ersetze. Während neuere Editionen als problematisch eingestufte Wörter bereits nicht mehr enthalten, sind ältere Publikationen und auch andere Bücher, die noch nicht neu bewertet wurden, weiterhin unverändert erhältlich. Die Debatte wird weiter aufgeheizt, als bekannt wird, dass Otfried Preußler nach langer Zeit seine Zustimmung zu Veränderungen gegeben hat. Eine Umfrage zeigt, dass die Deutschen geteilter Meinung sind: viele, vor allem höher Gebildete, sprechen sich gegen derartige Umschreibungen aus.

Am 22. Februar spricht Joachim Gauck sich in einer leidenschaftlichen Rede für die Stärkung von Verbindlichkeiten mit Europa aus. Obwohl der Bundespräsident auch die gegenwärtige Krise und Frustrationen anspricht, betont er vor allem die Bedeutung einer europäischen Identität und hebt Deutschlands Verantwortung für die Europäische Union hervor.

In seiner Titelstory „Die neuen Gastarbeiter“ stellt Der Spiegel das Europa, zu dem sich Bundespräsident Joachim Gauck gerade noch bekannt hatte, genauer vor. Der Artikel untersucht die Auswanderung von jungen, gut ausgebildeten Süd- und Osteuropäern nach Deutschland. Die Autoren erläutern, inwieweit die Welle von „neuen Gastarbeitern“ sich vom Zuzug der Gastarbeiter der 1950er und 1960er Jahre unterscheidet, was für eine Rolle europäische Identität im Alltag spielt und warum Deutschland sich mehr bemühen muss, die neuen Einwanderer in der Gesellschaft willkommen zu heißen und langfristig aufzunehmen.

Im März boykottieren die Bands Die Ärzte und Kraftklub wegen der Nominierung der Gruppe Frei.Wild den Echo Musikpreis. Der Band aus Südtirol wird vorgeworfen, rechtsextremes Gedankengut zu verbreiten und Kontakte zu Neo-Nazis zu pflegen. Da Nominierungen aber allein aufgrund von Verkaufszahlen und Auswertungen der deutschen Charts zustande kommen, weigern sich die Verantwortlichen zunächst, die Band von der Nominierungsliste zu streichen. Die Organisatoren wollen aber weder die Diskussion um die Nominierung noch um die politische Gesinnung der Band anheizen und schließen die Band letztendlich doch vom Echo-Preis aus.

Im März dominiert die Kontroverse über die Platzvergabe an nationale und internationale Pressevertreter im Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) die öffentliche Debatte. Das Gericht teilt die Plätze zuerst nach Eingangsdatum der eingegangenen Anmeldungen zu, was dazu führt, dass keine türkischen und nur wenige internationale Medienvertreter Zugang zum Gerichtssaal erhalten. Die Behörden weigern sich, die Platzvergabe zu überdenken, was auch bei der Bundesregierung Bedenken hervorruft. Daraufhin reicht die türkische Tageszeitung Sabah Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Das Urteil führt zu einem neuen Platzvergabeverfahren, in dem die vorhandenen Plätze zuerst in nationale und internationale Medien aufgeteilt und diese Plätze dann durch Losverfahren an Bewerber vergeben werden. So erhalten manche bekannte deutsche Zeitungen keinen eigenen Platz und sind gezwungen sich mit kleineren Publikationen zusammenzuschließen. Nur einige Monate später veröffentlicht der Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU-Untersuchungsausschuss) seinen Abschlussbericht. Der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) bezeichnet die polizeilichen Untersuchungen als ein „historisch beispiellose[s] Desaster“.

Im April rügt das UN-Kommitee für die Eliminierung rassistischer Diskrimination (United Nation Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD)) die deutsche Justiz für den Umgang mit dem Fall Thilo Sarrazins. Die CERD vertritt die Ansicht, dass deutsche Gerichte, die eine Klage des Türkischen Bund Berlin (TBB) abgewiesen hatten, in ihrer Entscheidung internationales Recht nicht beachteten und Sarrazins Aussagen fälschlicherweise als nicht rassistisch einstuften.

Das amerikanische Pew Research Center berichtet in einer Studie, dass viele Europäer der Europäischen Union kein Vertrauen mehr entgegenbringen. Nur die Deutschen stellen eine Ausnahme dar: sie sind gegenüber der EU als Wirtschaftsgemeinschaft und dem Zusammenwachsen Europas weitaus positiver eingestellt als ihre europäischen Nachbarn.

Im April beschränkt die Schweizer Regierung die Zuwanderung von europäischen Bürgern. Die meisten deutschen Auswanderer gingen in diesem Jahr in die Schweiz.

Im Mai gibt das Statistische Bundesamt bekannt, dass die Anzahl von Zuwanderern nach Deutschland so hoch ist wie schon seit 1995 nicht mehr. Der Grund für den Anstieg sei die wirtschaftliche Krise in Südeuropa. Zuvor war bereits berichtet worden, dass die Anzahl von illegalen Einwanderern ebenfalls höher ist als in den letzten Jahren. Das Statistische Bundesamt betont, dass es keinerlei Daten hat, die erklären, wie lange die neuen Migranten bleiben werden oder wollen. Die öffentliche Diskussion über Migration und Integration beschäftigt sich zunehmend mit dieser Frage. Die wegen niedriger Geburtenrate und Abwanderung ausgebildeter Migranten rückläufige Bevölkerungszahl Deutschlands und die Konsequenzen davon für Wirtschaft und Sozialsysteme bereiten Sorgen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung empfiehlt, Migration nach Deutschland weiter voranzutreiben. Dies gelte vor allem für die Zuwanderung von Fachkräften aus nichteuropäischen Ländern. Die Notwendigkeit von Immigration wird auch deutlich, als der Zensus von 2011 überraschend offenbart, dass die Bevölkerung Deutschlands geringer ist als gedacht. „Die Nation schrumpft,“ warnt der Spiegel und berichtet, dass 1,5 Millionen weniger Menschen in Deutschland leben als erwartet. Viele zeigen sich auch von der Ankündigung überrascht, dass nur 6,2, anstatt 7,3, Millionen Ausländer im Land leben, und dass die meisten (9 Millionen) der 15 Millionen Einwohner mit Migrationshintergrund deutsche Staatsangehörige sind.

Im Mai ziehen sowohl die Islam Konferenz als auch der Intergrationsgipfel Kritik auf sich, weil beide Institutionen ihre jeweiligen Ziele nicht umsetzen konnten. Teilnehmer des Integrationsgipfels sind vor allem frustriert über die weiterhin niedrige Anzahl von Angestellten mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Die Zukunft der Islam Konferenz bleibt offen.

Ende Mai richtet sich das öffentliche Augenmerk auf die Monate lang anhaltenden Proteste gegen den Umbau des Gezi-Parks und Taksim-Platzes in Istanbul. Die Demonstrationen gegen ein neues Einkaufszentrum, dessen Bau von der türkischen Regierung unterstützt wird, weiten sich bald in Proteste gegen die Politik von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan aus. Die Lage eskaliert, die Polizei setzt Tränengas und Gewalt gegen Demonstranten ein. Erdoğans kompromisslose Haltung ruft internationale Kritik hervor und löst unter Deutschtürken eine Debatte um Identität und Verantwortung für die Vorgänge in der Türkei aus. In Köln versammeln sich über 30.000 Menschen, um die türkische Protestbewegung zu unterstützen. Manche demonstrieren auch in Istanbul. Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) gerät bei ihrem Besuch Istanbuls in die Proteste und wird durch das von der Polizei eingesetzte Tränengas verletzt.

Eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) zeigt, dass Migranten, die sich gegen eine Unterbringung ihrer Kinder in Kindertagesstätten entscheiden, den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen würden, wenn das deutsche Vorschulsystem von besserer Qualität und die Kosten niedriger wären. Das Betreuungsgeld ist ein weiterer Grund, warum Migranten sich für eine Betreuung ihrer Kinder zu Hause entscheiden.

Das Thema Asyl und die steigende Anzahl von Flüchtlingen in Deutschland bestimmen zunehmend die öffentliche Diskussion. Im Juni treten 50 Asylsuchende in München in den Hungerstreik, um gegen ihre Abschiebung zu protestieren und eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Die Polizei räumt das Camp auf dem Rindermarkt einen Monat später. Zur gleichen Zeit sorgen Proteste gegen die Eröffnung eines Asylbewerberheims in Berlin Hellersdorf für Kontroversen. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt in diesem Jahr mehr als doppelt so viele Angriffe auf Asylbewerberheime wie im letzten Jahr. Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union wird ebenso heftig kritisiert wie Maßnahmen einzelner Mitgliedsstaaten. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien trüben sich, weil Italiens Umgang mit Flüchtlingen zunehmend als menschenunwürdig angesehen wird und Deutschland gleichzeitig kein Interesse zeigt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Situation verschärft sich, als Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz Italien vorwirft, Flüchtlingen Geld für die Weiterreise nach Deutschland zu zahlen. Scholz kritisiert auch die deutsche Politik für ihren Umgang mit Asylsuchenden, bei denen keine Aussicht auf Rückkehr besteht.

Ende Juli leitet die Europäische Union rechtliche Schritte gegen Deutschland ein, weil deutsche Sprachtests für Ausländer europäisches Recht verletzten.

Anfang August veröffentlicht das Britische Nationalarchiv Dokumente über ein privates Treffen zwischen Altbundeskanzler Helmut Kohl und Premierministerin Margaret Thatcher, die belegen, dass Kohl hoffte, dass die Hälfte der in den 1980er Jahren in Deutschland lebenden Türken wieder in die Türkei zurückgehen würden. Kohl vertrat die Auffassung, dass die türkische Kultur sich von der deutschen zu stark unterscheiden würde, und dass die türkischen Zuwanderer kein Interesse an Integration hätten. Kohl verteidigt seine Meinung damit, dass diese Überlegungen Teil der damals herrschenden öffentlichen Debatte waren.

Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) zeigt, dass Einwandererkinder vom deutschen Bildungssystem benachteiligt werden. Beispielsweise erhalten Kinder ohne Migrationshintergrund wesentlich häufiger eine Gymnasialempfehlung als Einwandererkinder und studieren somit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit. Die Studie enthält ebenfalls Strategien, die helfen sollen, Diskrimination zu verhindern: so werden unter anderem anonymisierte Bewerbungsverfahren gefordert.

Eine UN-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Anzahl von Menschen, die nicht mehr in ihrem Geburtsland leben, so hoch ist wie noch nie. Die USA, Russland und Deutschland haben die meisten Migranten aufgenommen.

Am 18. September stirbt Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt am Main. Der Literaturkritiker, Überlebender des Warschauer Ghettos, dessen Buchbesprechungen genauso beliebt wie umstritten waren, galt mit seiner Fernsehshow „Das Literarische Quartett“ jahrzehntelang als „Literaturpapst“ Deutschlands.

Am 22. September wählt Deutschland. Die CDU/CSU und Angela Merkel gewinnen die Wahl und koalieren mit der SPD. Zum ersten Mal seit 1949 zieht die FDP nicht in den Bundestag ein. Die rechtspopulistische AfD (Alternative für Deutschland), die Anfang des Jahres gegründet wurde und häufig auch als „Anti-Euro-Partei“ bezeichnet wird, erreicht ebenfalls nicht die 5-Prozent-Hürde. Der Nichteinzug der AfD zeigt, dass rechtspopulistische Parteien in Deutschland zurzeit weniger erfolgreich sind als in anderen europäischen Ländern. So folgert eine Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass rechtspopulistische Parteien im restlichen Europa mittlerweile zu einer ernstzunehmenden politischen Gefahr herangewachsen sind. Allerdings warnen Kritiker, dass die AfD dabei ist, sich in Deutschland zu etablieren und Rechtsextreme die AfD zunehmend unterwandern.

Anfang Oktober ertrinken über 500 Flüchtlinge aus Afrika vor der italienischen Küste von Lampedusa. Die Tragödie, die sich in den letzten Jahren bereits öfters ähnlich abgespielt hat, führt zu einer hitzigen Diskussion über das Grenzregime der Europäischen Union und den Umgang mit Flüchtlingen, die unablässig übers Mittelmeer nach Europa kommen. Nur wenige Tage später sinkt ein weiteres Flüchtlingsboot. Innenminister Hans-Peter Friedrich lehnt eine Änderung der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik ab, weil „[d]er Vorwurf, dass sich Europa abschottet, … falsch [ist].“

Im Oktober gewinnt die in Ungarn geborene und seit 1990 in Deutschland lebende Terézia Moras den Deutschen Buchpreis für ihren Roman „Das Ungeheuer“.

Im November hat das Konzert „Heimatlieder aus Deutschland“ Premiere in Berlin. Die auftretenden Gruppen stammen hauptsächlich aus Ländern, mit denen die BRD und DDR Anwerbeverträge hatten. Mit dem Album Songs of Gastarbeiter Vol. 1 veröffentlichen Imran Ayata und Bülent Kullukçu eine Sammlung von Liedern von Arbeitsmigranten aus der Türkei.

Im Dezember wird Aydan Özoğuz zur Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt.

Chronology Years

1955-1959

1955-1959

1960-1964

1965-1969

1970-1975

1975-1979

1980-1984

1985-1989

1990-1994

1995-1999

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2014

2015 – Die „Flüchtlingskrise“

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