2009
Eine Studie des Berliner Institutes für Bevölkerung und Entwicklung zeigt, dass Türken die am wenigsten integrierte Zuwanderungsgruppe in Deutschland sind. Auch auf dem Arbeitsmarkt haben Zuwanderer mit türkischem Hintergrund weniger Erfolg als andere Migranten, wofür vor allem der geringe Ausbildungsgrad dieser Gruppe verantwortlich gemacht wird. Zuwanderer aus anderen EU-Staaten stellen die am meisten integrierten Migranten.
Im Februar verweigert der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einem 39-jährigen, türkischen Analphabeten, der seit zwanzig Jahren als Asylberechtigter in Deutschland lebt, die deutsche Staatsangehörigkeit. Seine Deutschkenntnisse, so die Begründung, seien nicht ausreichend, um mit der deutschen Gesellschaft kommunizieren und sich integrieren zu können.
Das Arbeitsgericht Berlin gibt der Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgesetz einer Migrantin, die gegen die Stellenanfordung „Muttersprache Deutsch“ einer internationalen Kunstinstitution geklagt hat, statt.
Aufgrund der hohen Bestehensquote (fast 99 Prozent) beim Einbürgerungstest wird Kritik an Aufbau und Inhalt laut. Kritiker bezweifeln den Nutzen des Tests allgemein. Die Bundesregierung argumentiert allerdings, dass die hohe Bestehensquote nicht bedeutet, dass Testnehmer kein Wissen und neue Erkenntnisse über Deutschland erlangen.
Das Berliner Haus der Kulturen der Welt organisiert die Thementage „1989 – Globale Geschichten“. Der Fokus der Veranstaltung liegt auf dem Schicksalsjahr 1989 und seinen weltweiten, internationalen Schlüsselmomenten. Als einer von sechs anderen zentralen Themenschwerpunkten rücken die Folgen der deutschen Wiedervereinigung für Zuwanderer in Ost- und Westdeutschland in den Vordergrund.
Im Frühjahr bricht eine Kontroverse um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises für interreligiöse Toleranz an Navid Kermani, Kardinal Karl Lehmann, Peter Steinacker und Salomon Korn aus. Aufgrund der Skepsis Kardinal Lehmanns an der Wahl Kermanis sowie der nachfolgenden Intervention von Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch wird Kermanis Nominierung zurückgezogen. Erst nach einer persönlichen Unterredung zwischen Kermani, Steinacker und Lehmann nehmen alle vier Nominierten die Auszeichnung im November an.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Deutschen (77 Prozent) die Demokratie für die beste Staatsform hält. Allerdings zeigen sich 45 Prozent eher kritisch gegenüber der Funktionalität von Demokratie in der Bundesrepublik. Je länger, so die Studie, Zuwanderer in Deutschland leben, desto mehr Unzufriedenheit äußern sie über demokratische Strukturen. Als Hauptursache für die alarmierenden Ergebnisse werden fehlende Bildung und die nichtvorhandene, meist gesetzlich verbotene Teilnahme an politischen Prozessen angesehen.
Deutschland nimmt in diesem Jahr 2.500 irakische Christen auf. Als Kontingentflüchtlinge, von denen in den nächsten Jahren bis zu 10.000 weitere in Europa erwartet werden, erhalten sie einen privilegierten Aufenthaltsstatus.
Die EU verabschiedet die Direktive zur Einführung der Blue Card, um hochqualizifierte Einwanderer nach Europa zu locken. Besitzer der Blue Card erhalten Vorzüge bezüglich der Arbeitsmarktmobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt und der Familienzusammenführung.
Am 1. Juli ersticht Alexander Wiens die Ägypterin Marwa Ali El-Sherbini während Wiens’ Berufungsverhandlung in einem Dresdener Gericht. Der russlanddeutsche Täter war bereits wegen Beleidigung von El-Sherbini, die er ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz mit fremdenfeindlichen Ausdrücken beschimpft hatte, zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die schwangere El-Sherbini stirbt noch am Tatort, während ihr Mann Elwi Ali-Okaz durch Wiens und einen herbeieilenden Polizisten, der Ali-Okaz für den Täter hält, schwer verletzt wird. Der Vorfall löst in arabischen Ländern starke Proteste aus, deren Heftigkeit die deutsche Regierung und Medien zu einer Neubewertung der Situation veranlasst. El-Sherbinis gewaltsamer Tod wirft Fragen über Islamophobie im Westen auf.
Daten des Statistischen Bundesamts belegen, dass zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder mehr Menschen Deutschland verlassen haben (780.000 Auswanderer) als zugewandert sind (682.000 Zuwanderer). Mit 175.000 Menschen stellen Deutsche, die am liebsten in die Schweiz gehen, die größte Gruppe an Emigranten.
Im August wird Mohammad Eke, der in Essen geboren wurde, niemals in der Türkei gelebt hat noch die türkische Sprache beherrscht, in die Türkei abgeschoben. Ein deutsches Gericht befand, dass der 21-jährige Eke in die Türkei „zurückkehren“ sollte, da seine Eltern vor Jahren illegal nach Deutschland eingereist waren.
Im September veröffentlicht Lettre International ein Interview mit Thilo Sarrazin über die wirtschaftliche und soziale Situation von türkischen Einwanderern in Berlin. Seine abschätzigen Bemerkungen – beispielsweise die Aussagen „Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“ oder „Die Türken erorbern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung“ – lösen eine heftige Kontroverse über die Rechte und Pflichten von Zuwanderern in Deutschland aus.
Eine Studie des Zentrums für Türkeistudien kommt zu dem Ergebnis, dass jüngere türkischstämmige Zuwanderer wesentlich besser in die deutsche Gesellschaft integriert sind als ältere Generationen. Obwohl die Studie, wie andere zuvor, das Bildungsniveau in dieser Gruppe als niedrig einschätzt, stellt sie einen Bildungsanstieg, vor allem in den letzten Jahren, bei jüngeren Einwanderer mit türkischem Hintergrund fest. Die Studie zeigt auf, dass die meisten erwachsenen türkischen Zuwanderer eine eher komplexe Auffassung ihrer Identität haben: sie haben Misch- oder Doppelidentitäten. Auch in anderen Bereichen kommt die Studie zu eher positiven Einschätzungen hinsichtlich der Integration von türkischstämmigen Zuwanderern in die deutsche Gesellschaft.
Im Oktober verhindern Linksextreme die Aufführung von Claude Lanzmanns Film Warum Israel in Hamburg. Die Demonstranten sperren den Zugang zum Gebäude, beschimpfen Zuschauer mit anti-semitischen Schimpfwörtern und greifen Besucher an.
Philipp Rösler (FDP) wird Bundesminister für Gesundheit und somit der erste deutsche Minister mit Migrationshintergrund.
Ende November stimmen die Schweizer (57,7 Prozent) in einem Volksreferendum für ein Bauverbot von Minaretten. Gegenwärtig gibt es vier Minarette in der Schweiz. Eine im Anschluss vom Spiegel durchgeführte Umfrage in Deutschland zeigt, dass 44 Prozent der Befragten ein derartiges Verbot begrüßen würden, während sich 45 Prozent dagegen aussprechen. Das Wahlergebnis in der Schweiz führt zu nationalen und internationalen Diskussionen über Islamphobie in Europa und die Problematik der Integration und Einbindung von Muslimen ins öffentliche Leben. Beobachter sehen das Minarett-Verbot als ein Anzeichen, dass Europa seine eigenen Ideale hinsichtlich von Menschenrechten, Gleichheit und Toleranz missachtet.
Aufgrund des Fachkräftemangels in Deutschland beschließt die deutsche Regierung, die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen zu erleichtern.
Am 1. Dezember tritt nach zweijährigen Verhandlungen und mehreren gescheiterten Referenden der Vertrag von Lissabon zwischen den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Kraft. Der Vertrag reformiert die bisher gültigen europäischen Verfassungsverträge im Rahmen einer rechtlichen Fusion von EU und EG, dehnt das Mitentscheidungsverfahren auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aus, stärkt die Beteiligung der nationalen Parlamente an der Gesetzgebung der EU, gründet eine Europäische Bürgerinitiative, erweitert die Kompetenzen des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, erklärt die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta und regelt Bedingungen für einen EU-Austritt.
Die Kriminalstatistik für das Jahr 2009 verbucht einen deutlichen Anstieg von rechts- und linksextremen Gewalttaten. Linksextreme Straftaten steigen am stärksten an. Auch wenn die Anzahl von rechstextrem motivierter Gewalt um 4,7 Prozent sinkt, ist sie immer noch fast doppelt so hoch wie die von linksextremen Straftaten.
2008
Der Angriff auf Hubert N. und die jugendlichen „U-Bahnschläger” im vorherigen Jahr werden zum Politikum, als Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) in seinem Wahlprogramm für ein härteres Vorgehen gegen jugendliche Gewalttäter mit Migrationshintergrund wirbt, einschließlich Abschiebung und Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft. Prominente Deutschtürken rufen die CDU in einem in der Zeit veröffentlichten Appell zu mehr Sachlichkeit in der Debatte und zur Distanzierung von Kochs fremdenfeindlichem Populismus auf. Siebzehn namhafte christdemokratische Politiker schreiben in einer ebenfalls in der Zeit publizierten Antwort: „Integrationspolitik ist so fundamental für die Zukunft unseres Landes, dass sie nicht zum Wahlkampfthema degradiert werden darf.“
Am 3. Februar sterben bei einem Hausbrand in Ludwigshafen neun türkische Einwanderer. Der Verdacht, dass es sich um einen rechtsextrem motivierten Anschlag handeln könnte, kursiert schnell in den Medien. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, der sich gerade in Deutschland aufhält, entsendet Experten, die bei den Ermittlungen die deutschen Behörden unterstützen sollen. Hinweise auf Brandstiftung werden nicht gefunden. In einer kurz darauf in Köln gehaltenen Rede bezeichnet Erdoğan Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und plädiert für die Errichtung von türkischsprachigen Schulen und Universitäten in Deutschland. Erdoğan fordert seine 20.000 hauptsächlich türkischen und deutschtürkischen Zuhörern aber auch zur Integration auf. Die Rede löst eine Kontroverse aus.
Ein Gericht in Baden-Württemberg erklärt das Kopftuchverbot für Lehrer und Lehrerinnen im Unterricht, welches auch in acht anderen Bundesländern gilt, für rechtsgültig mit der Begründung, dass das Kopftuchtragen eine Verletzung der religiösen Neutralität des Lehrenden darstellt. In der Türkei wird trotz lautstarker Proteste das Kopftuchverbot aufgehoben.
Als erste Regierungschefin überhaupt spricht Bundeskanzlerin Merkel vor der Knesset und bekräftigt Deutschlands spezielle Verantwortung und besondere Beziehung zu Israel. Eine kürzlich veröffentliche Studie kommt allerdings zu dem Schluss, dass eine Mehrheit der Deutschen Merkels Auffassung nicht teilt.
Die Verhandlungen mit Polen bezüglich der Planung des Zentrums gegen Vertreibungen kommen voran: Deutschlands Nachbar gibt sein Einverständnis für die Errichtung.
Die Justiz- und Innenminister der EU einigen sich auf europaweit gültige Regeln bezüglich der Abschiebung illegaler Einwanderer. Die neue gesetzliche Regelung sieht vor, dass illegale Ausländer die Möglichkeit haben, freiwillig in ihre Heimatländer zurückzukehren. Illegale Zuwanderer können von jetzt an höchstens sechs Monate, in Ausnahmefällen bis zu 18 Monaten in Abschiebehaft gehalten werden.
Auf dem jährlichen Parteitag der CDU wird der Vorschlag unterbreitet, Deutsch im Grundgesetz zur offiziellen Sprache Deutschlands zu ernennen. Der Vorstoß erntet aufgrund seines diskriminatorischen Potentials für anderssprachliche Minderheiten Kritik: in Schleswig-Holstein leben zum Beispiel Dänen, in Sachsen Sorben und in Gesamtdeutschland etwa 3,3 Millionen Deutsche mit türkischem Hintergrund.
Seit dem 1. September müssen in der gesamten Bundesrepublik alle Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, zuerst einen Einbürgerungstest ablegen. Kritisiert wird das Gesetz unter anderem mit der Begründung, dass die Anzahl von Antragssteller in den letzten Jahren zurückgegangen sei und dass der Test eine potentielle Hürde für Einwanderer aus unteren, weniger gebildeten Schichten darstellen könne.
Die europäischen Justizminister sprechen sich für striktere Zuwanderungsrichtlinien aus, die mehr qualifizierte Einwanderer anziehen und zugleich illegale Migration verhindern sollen.
Der Anti-Rassismus Ausschuss der Vereinten Nationen (CERD) kritisiert den in Deutschland für den Erhalt der Staatsangehörigkeit notwendigen Einbürgerungstest. Hauptkritikpunkt ist auch, dass viele Ausländer trotz ihres langjährigen Aufenthalts in Deutschland keine Staatsangehörigkeit erhalten. Der Ausschuss begrüßt die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 und empfiehlt weitere derartige Maßnahmen.
Die OECD warnt Deutschland, dass neue Regelungen zur Zuwanderung getroffen werden müssen, um künftige Anforderungen des Arbeitsmarktes zu erfüllen. Empfohlen wird ein schnelleres Verfahren hinsichtlich der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, da Programme, die nur auf kurzfristige Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse setzen, nicht zur Lösung des Problems beitragen können.
Die rechtsextreme Bürgerbewegung pro Köln lädt Politiker und Interessierte aus ganz Europa zum ersten Anti-Islamisierungskongress in Köln ein. Aufgrund der starken Präsenz von Gegendemonstranten (fast 40.000), die sich unter dem Motto „Wir stellen uns quer“ versammelt haben, muss der Kongress frühzeitig abgebrochen werden.
Die Innenminister der EU beschließen die Erlassung eines europäischen Immigration- und Asylgesetzes, um legale Zuwanderung besser steuern, Kontrollen hinsichtlich illegaler Einwanderung strikter durchsetzen und eine gemeinsame Asylpolitik verfolgen zu können. Aufgrund der Einwände der Tschechischen Republik, die zuerst den Abbau aller EU-internen Arbeits- und Freizügigkeitsbeschränkungen aufgehoben sehen will, bleiben die Planungen für eine europaweit geltende Arbeitserlaubnis, die Blue Card, auf Eis liegen.
Cem Özdemir wird zum Bundesvorsitzenden der Grünen gewählt.
Der dritte Integrationsgipfel findet in Berlin statt. Die Bundesregierung setzt sich zum Ziel, die Deutschkenntnisse aller Grundschüler mit Migrationshintergrund bis zum Jahr 2012 erheblich zu verbessern und an bestimmte Standards anzugleichen. Maria Böhmer, die Bundesbeauftragte für Integration, verspricht auch, die Anzahl von Schulabbrechern mit Migrationshintergrund zu senken und das Bildungsniveau von Einwandererkindern zu erhöhen.
Der Bundestag berät über das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das die Zuwanderung von hochqualifizierten Einwanderern erleichtern soll. So wird die Mindesteinkommensgrenze für die Ausstellung einer Aufenthaltsgenehmigung für Hochqualifizierte heruntergesetzt, und Akademiker aus den neuen EU-Staaten sind nicht mehr von der Prüfung des Vermittlungsvorrangs deutscher Arbeitssuchender betroffen.
Die Internationale Organisation für Migration berichtet, dass im Jahr 2005 10,1 Millionen Migranten in der Bundesrepublik leben. Deutschland ist somit Haupteinwanderungsland von Migranten innerhalb Europas.
Die Türkei ist Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse.
Laut des Statistischen Bundesamtes hat fast jeder fünfte Einwohner (19 Prozent, d.h. 15,6 Millionen, der Gesamtbevölkerung) in Deutschland einen Migrationshintergrund.
2007
Das Hamburger OLG verurteilt den Marokkaner Mounir el-Motassadeq wegen Mithilfe an den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York zu 15 Jahren Gefängnis.
Anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge wird die Berliner Deklaration von den europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedet. „Wir werden den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam bekämpfen. Die Freiheits- und Bürgerrechte werden wir dabei auch im Kampf gegen ihre Gegner verteidigen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen nie wieder eine Chance haben“.
Deutschland passt das Zuwanderungsgesetz den von der EU vorgeschriebenen Vorschriften an. Somit werden die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Studierende, Forscher, Akademiker und selbstständige Unternehmer aus Nicht-EU-Ländern liberalisiert.
Mustafa Alcali, der aller Wahrscheinlichkeit nach an einer von einem medizinischen Gutachter nicht anerkannten schizophrenen Psychose leidet, begeht in Abschiebehaft Selbstmord.
Im ostdeutschen Mügeln werden acht Inder auf einem örtlichen Fest von einem Mob von 50 Menschen mit Pfefferspray und Flaschen angegriffen, verprügelt und danach durch den Ort gehetzt. In der Nähe von Mainz werden ein 26-jähriger Sudanese und ein 39-jähriger Ägypter attackiert. Diese beiden rechtsextremistischen Gewalttaten zur gleichen Zeit im Osten und Westen Deutschlands lenken die öffentliche Aufmerksamkeit auf Rechtsradikalismus als ein gesamtdeutsches und nicht nur auf Ostdeutschland beschränktes Problem.
Im Oktober entscheidet sich der deutsch-iranische Fußballer Ashkan Dejagah aus politischen und familiären Gründen gegen die Teilnahme an einem U-21 Nationalmannschaftsspiel Deutschlands gegen Israel, wo auch eine Kranzniederlegung in Erinnerung an den Holocaust an der Gedenkstätte Yad Vashem vorgesehen ist. „Ich habe mehr iranisches als deutsches Blut in meinen Adern. Außerdem tue ich es aus Respekt. Schließlich sind meine Eltern Iraner,“ erklärt der Jungstar. Während der Zentralrat der Juden großes Unverständnis über den „privaten Judenboykott“ äußert, akzeptiert DFB-Präsident Theo Zwanziger die Entscheidung. Auch beim Rückspiel in Deutschland fehlt Dejagah im Team.
Am 16. Oktober legt das Heidelberger Institut Sinus Sociovision seine Studie über das Leben von Migranten in Deutschland vor. Die Studie kommt unter anderem zu dem Schluss, dass Herkunft und Ethnizität eine weniger große Rolle im Alltag spielt als das Milieu, in dem Einwanderer leben. Unterschieden werden die folgenden acht Milieus: religiös-verwurzeltes Milieu, traditionelles Gastarbeitermilieu, statusorientiertes Milieu, entwurzeltes Milieu, intellektuell-kosmopolitisches Milieu, adaptives Integrationsmilieu, multikulturelles Performermilieu und hedonistisch-subkulturelles Milieu.
Im Dezember schlagen der 21-jährige Deutsch-Türke Serkan A. und der in Griechenland geborene 18-jährige Spyridon L. den 76-jährigen, pensionierten Schuldirektor Hubert (Bruno) N. in der Münchener U-Bahn fast zu Tode. Der Vorfall löst heftige Debatten über Kriminalität und Gewaltpotential von jugendlichen Migranten aus.
Am 21. Dezember tritt Polen dem Schengen-Raum als vollständiges Mitglied bei.
2006
Als erstes Bundesland verlangt Baden-Württemberg aufgrund von Zweifeln an der Verfassungstreue muslimischer Einwanderer das Bestehen eines Einbürgerungstests als Grundvoraussetzung für das Erlangen der deutschen Staatsangehörigkeit. Der Test beinhaltet u.a. Fragen zu Haltungen gegenüber Terrorismus, Demokratie und Homosexualität.
Im Januar führen zwei Realschulen in Berlin, die Herbert-Hoover-Schule und die Borsig-Schule, Verpflichtungserklärungen ein, in denen die Schüler und Schülerinnen unter anderem versprechen, in der Schule ausschließlich Deutsch zu sprechen. Der Vorstoß der Schulen löst erneut hitzige Diskussionen über die Eingliederung der ausländischen Bevölkerung in die deutsche Gesellschaft und die Rolle der Muttersprache bzw. der Sprache der Eltern („heritage language“) im Alltag und bei der Integration aus. Die Herbert-Hoover-Schule wird fünf Monate später mit dem Deutschen Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (dotiert mit 75.000 Euro) ausgezeichnet.
Im Februar veröffentlicht Die Zeit die Petition „Gerechtigkeit für die Muslime!“, in der sich 60 Migrationsforscher gegen die Darstellung des Islams als rückschrittliche Religion in der Öffentlichkeit aussprechen; als Beispiel werden die Bücher Die fremde Braut von Necla Kelek und Ich klage an von Ayaan Hirsi Ali genannt.
Im März erregt ein Brief des Kollegiums der Berliner Rütli-Realschule die deutsche Öffentlichkeit. In dem Schreiben an die zuständigen Behörden berichten die Lehrer und Lehrerinnen von ihrer Ratlosigkeit angesichts des Versagens der Institution Schule, ihrer misslungenen Integrationsbemühungen und der ihnen entgegengebrachten Respektlosigkeit und Gewalt(bereitschaft) unter der hauptsächlich aus Einwandererfamilien stammenden Schülerschaft (83 Prozent haben einen Migrationshintergrund). Infolgedessen erfasst das Land erneut eine hitzige Diskussion über Integration, Bildung und die Zukunftsaussichten von Einwandererkindern in Deutschland.
Im Mai wird auf der Innenministerkonferenz der Beschluss gefasst, dass die deutsche Staatsbürgerschaft erst nach erfolgreichem Bestehen eines standardisierten Deutschtests und Abschluss eines Integrationskurses erlangt werden kann.
Der deutsch-kurdische Politiker Giyasettin Sayan (Die Linke / Abgeordnetenhaus von Berlin) wird Opfer eines mutmaßlich rechtsextrem motivierten Überfalls in seinem Wahlbezirk Berlin-Lichtenberg. Der Vorfall wird von Uwe-Karsten Heye, Vorsitzender des Vereins „Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e.V.“, als Bestätigung seiner kurz zuvor ausgesprochenen Warnung gewertet, dass bestimmte Gebiete in Deutschland von dunkelhäutigen WM-Touristen nur unter Lebensgefahr besucht werden können. Die Absicht des Afrika-Rats, eine No-Go-Area-Karte für Besucher der Fußballweltmeisterschaft herauszugeben, sorgt für kontroverse Diskussionen über die Sicherheit von Migranten und ausländischen Touristen in Deutschland.
Vom 9. Juni bis zum 9. Juli findet die Fußballweltmeisterschaft unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ statt. Der während des „Sommermärchens 2006“ neuentfachte Nationalstolz und Patriotismus, auch „Partyotismus“ genannt, sorgt im In-und Ausland für Diskussionsstoff. Obwohl es auch Kritik gibt, wird die nationalgefärbte Stimmung überwiegend als Imagegewinn für Deutschland aufgefasst.
Am 14. Juli eröffnet Maria Böhmer (CDU), Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, den ersten Integrationsgipfel in Berlin. Die Teilnehmer beschließen die Erstellung eines nationalen Integrationplans für die etwa 15 Millionen Einwohner mit Migrationshintergrund innerhalb des nächsten Jahres.
Im August tritt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG, auch Antidiskriminierungsgesetz genannt) in Kraft. Es verbietet die Ungleichbehandlung von Personen aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung.
Im September nimmt die Deutsche Oper in Berlin Mozarts Idomeneo aus Angst vor islamistischer Kritik und möglichen terroristischen Angriffen vom Spielplan.
Am 27. September findet die erste Deutsche Islam Konferenz (DIK) in Berlin statt.
Zum ersten Mal seit dem Holocaust werden drei Rabbiner in Deutschland ordiniert. Deutsche Fernsehsender übertragen die Zeremonie live aus Dresden.
Die von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Studie Vom Rand zur Mitte kommt zu dem Schluss, dass rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Gesellschaft keine Randerscheinung sind, sondern in allen Schichten, Regionen und Altersgruppen vorzufinden sind.
Hamburg startet die Kampagne „Wir sind Hamburg – Bist du dabei?“, um die Anzahl von Verwaltungsangestellten mit Migrationshintergrund zu erhöhen. Jeder fünfte Auszubildende soll ausländischer Herkunft sein.
Im Dezember veröffentlicht Wilhelm Heitmeyer, Sozialwissenschaftler an der Universität Bielefeld, eine Studie, der zufolge jeder zweite Deutsche fremdenfeindlich ist, in Ostdeutschland sogar 60,2 Prozent der Bevölkerung.
2005
Am 1. Januar tritt das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft und öffnet die Tür zur legalen Zuwanderung. Deutschland ist somit offiziell ein „Einwanderungsland“.
Von insgesamt 82,5 Millionen Einwohnern sind 7,3 Millionen Ausländer. 1,8 Millionen sind Türken; Italiener und Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien machen etwa eine halbe Million aus.
Eine Million Zuwanderer haben seit 2000 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.
Ungefähr 1,4 Millionen Ausländer leben illegal in Deutschland.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet kostenlose Integrationskurse, bestehend aus 600 Stunden Deutschunterricht und 30 Stunden Orientierungshilfe an. Die Kurse sind verpflichtend für alle Neuzuwanderer und bereits länger in Deutschland lebende Ausländer, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.
Am 3. Februar veröffentlicht Deutschland die neuen Arbeitslosenzahlen: mit 5 Millionen Arbeitslosen wird ein neuer Nachkriegsrekord gesetzt. Die Arbeitslosenquote für Migranten liegt zwischen 20 und 40 Prozent.
Die Geburtenrate sinkt auf ein historisches Tief: nur 680.000 Kinder kamen im letzten Jahr zur Welt, etwa die Hälfte des Geburtendurchschnitts der mittsechziger Jahre. Deutschland hat somit die geringste Geburtenrate in Europa.
In Deutschland arbeiten fast 18.000 ausländische Mediziner (12.500 aus anderen EU-Ländern, 3.800 aus Asien, 1.591 aus Russland, 1.265 aus dem Iran, 1.265 aus Griechenland und 820 aus Afrika). Etwa 12.000 deutsche Ärzte sind ausgewandert.
Am 7. Februar wird die 24-jährige Hatun Sürücü, deutsche Staatsbürgerin kurdischtürkischer Herkunft, in Berlin-Tempelhof von ihren drei Brüdern erschossen. Hatuns Familie sah sich durch den Lebensstil der Tochter, die „wie eine Deutsche“ lebte, in ihrer Ehre verletzt. „Ehrenmorde“ wie der von Hatun werden von den deutschen Medien als Beweis für die Gefahr von „Parallelgesellschaften“ und „fehlgeleiteter Toleranz“ aufgefasst.
Die Anweisung des Auswärtigen Amtes unter Joschka Fischer, bei der Visavergabe unbürokratischer zu verfahren, führt zu zahlreichen Verfahrensmissbräuchen, die in der sogenannten Visa-Affäre schließlich an die Öffentlichkeit gelangen. So hatte allein die Botschaft in Kiew in der Ukraine im Jahr 1999 mehr als 150.000 Visa ohne sorgfältige Prüfung vergeben. Die lockere Vergabepraxis ermöglichte illegale Zuwanderung und Menschenhandel.
Am 18. Mai erkennt ein deutsches Gericht drei in der Türkei geborenen Islamisten die deutsche Staatsbürgerschaft wieder ab. Sie hatten den deutschen Behörden ihre Mitgliedschaft in der Milli Görüş-Bewegung verheimlicht. Milli Görüş ist mittlerweile die größte islamistische Vereinigung in Deutschland (26.500 Mitglieder) und bekannt für ihre antiwestliche und demokratiefeindliche politische Ausrichtung. Das Gericht ist der Auffassung, dass nur diejenigen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen können, die sich auch zur deutschen Verfassung bekennen.
Im Juni beschränkt die Regierung die Zuwanderungsquote von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Antragssteller sind nun verpflichtet, eine von einer in Deutschland befindlichen Synagoge ausgestellte Bescheinigung über die Aufnahme der Zuwanderer in die jeweilige Gemeinde vorzulegen. Das Gesetz wird mit Zustimmung des Zentralrats der Juden verabschiedet, der etwa 105.000 der circa 180.000 in Deutschland ansässigen Juden repräsentiert.
Frankreich und die Niederlande stimmen gegen den Entwurf einer Europäischen Verfassung.
Nach Informationen des Stern leben nicht weniger als 200.000 Russen in Berlin.
Die EU beginnt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
Im November löst der Unfalltod zweier jugendlicher Einwandererkinder, die von der Polizei verfolgt wurden, zweiwöchige Unruhen in den Banlieues von Paris und in sozialen Brennpunkten weiterer 300 französischer Städte aus. In Deutschland wird über die Wahrscheinlichkeit solcher Krawalle in Berlin debattiert. Beobachter zeigen vorsichtigen Optimismus, dass ein derartiges Szenario aufgrund der angeblich besseren Integriertheit von Einwandererkindern in Deutschland nicht möglich wäre.
Am 22. November wird Angela Merkel zur Kanzlerin Deutschlands gewählt. Nach einer knappen Wahl bilden die SPD und die Christdemokraten eine große Koalition. Merkel ist somit die erste Frau an der Spitze der deutschen Regierung und zugleich die erste Bundeskanzlerin aus den neuen Bundesländern.
Zwei Ausstellungen zur Geschichte der Einwanderung in Deutschland werden eröffnet: „Projekt Migration“ in Köln, veranstaltet vom Kölnischen Kunstverein, DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.) und der Forschergruppe Transit Migration, und „Zuwanderungsland Deutschland: Migrationen 1500-2000“ am Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Am 20. Dezember erinnern nur wenige deutsche Zeitungen an den 50. Jahrestag des ersten Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien.