2019
Am Anfang des Jahres nehmen deutsche SchülerInnen wie die von anderen europäischen Ländern Teil an Fridays for Future, die erst von der 16-jährigen Schwedin Greta Thunberg inspirierte, jetzt international verbreitete Umweltbewegung. Nach Thunbergs Ruf sind deutsche Jugendlichen freitags bundesweit für Klimaschutz in Schulstreik getreten und auf die Straße gegangen, was ursprünglich in den Medien besonders aus dem Gesichtswinkel der Eltern für Aufmerksamkeit sorgt. Es dauert aber nicht lange bevor die Schlussfolgerungen der sogenannten Freitagsdemonstrationen bezüglich die Rolle des Jugend-Aktivismus klarer werden, während die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sowie Klimawissenschaftler hinter ihr stehen. Am Ende des Sommers sind andere gesellschaftliche Organisationen wie Gewerkschaften und Fußball-Vereine regelmäßig mit dabei, und der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann spricht schon von einem “populistischen” “Generation Greta” in Deutschland.
Im März geht die Debatte um den Begriff “Heimat” und deren soziale und politische Resonanz weiter mit einem Essayband herausgegeben von der Journalistin Hengameh Yaghoobifarah und der Schriftstellerin Fatma Aydemir. 2014 wurde das Innenministerium zum “Heimatministerium” umbenannt. Die Anthologie, betitelt “Eure Heimat ist unser Albtraum”, enthält die Perspektiven von vierzehn Publizisten und Autoren mit sogenannten Migrationshintergrund und geht kritisch mit heutigen Formen der gewaltsamen Volksgemeinschaft um, die hinter der deutschen Nationalidentität stecken. So fragen die Herausgeberinnen im Vorwort: “Will ich in einer Gesellschaft leben, die sich an völkischen Idealen sowie rassistischen, antisemitischen, sexistischen, heteronormativen und transfeindlichen Strukturen orientiert?”
Im selben Monat kündigt die Linke Spitzenpolitiker Sahra Wagenknecht ihr Rückzug aus gesundheitlichen Gründen von ihren Rollen als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei sowie als Chefin von Aufstehen, die 2017 von ihr begründeten “außerparlamentarische Sammlungsbewegung”, die wegen ihren rechtsrutsch bezüglich Migration und Asylpolitik innerparteilich sowie von außen von linken Kritikern als fremdenfeindlich und ein Zugeständnis an die Agenda Alternative für Deutschland bezeichnet wird.
Im österreichischen Stadt Braunau – übrigens die Geburtsstadt Hitlers – tritt der Vizebürgermeister Christian Schilcher der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zurück und entschuldigt sich, nachdem er ein fremdenfeindliches Gedicht voller tief rassistischer Ausdrücke erkennbar antisemitischer Art (u.a. “Nagetier mit Kanalisationshintergrund”) unter dem Titel “Die Stadtratte” veröffentlichte und dafür heftig in den Medien kritisiert wurde. Der 32-jährige Bundeskanzler Sebastian Kurz, dessen konservativen Österreichische Volkspartei (ÖVP) mit der FPÖ in einer Koalition zusammen regiert, distanziert sich von den sogenannten “Rattengedicht”.
Im Mai stürzt die österreichische Regierung trotzdem in Unruhe hinein als Vizekanzler Hans-Christian Strache tief in einen politischen Korruptionsskandal verwickelt wird. Durch das sogenannte Ibiza-Video – das schon vor zwei Jahre mit versteckter Kamera aufgenommen wurde – wird von Journalisten der Süddeutschen Zeitung offenbart, dass Strache aktiv versucht hat, staatliche Infrastruktur-Aufträge zu vergeben gegen u.a. Übernahme der einflussreichen Kronen Zeitung, zum Zweck derer Verwendung als Wahlkampfhilfe. Am 17. Mai tritt Strache als Vizekanzler zurück, aber laut Befragungen hat die Affäre die FPÖ im Wahlkampf zum Europaparlament wenig geschädigt, und laut Befragungen sogar geholfen hat, deren Unterstützung zu verfestigen. Dennoch führte der Skandal zum Bruch der Regierungskoalition als Kurz am 27. ein Misstrauensvotum verliert und als Kanzler abgewählt wird.
Um die Europawahl sorgen die Konservativen auch in Deutschland für Aufregung als die CDU-Parteichefin und gesalbte Merkel-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf einem Video vom YouTuber Rezo heftig reagiert, in dem er junge Deutsche zum Wahlboykott der “Altparteien” (die in einer großen Koalition regierenden CDU und SPD) sowie die Alternative für Deutschland (AfD) hauptsächlich wegen ihrer Klimapolitik aufgerufen hat. Nach Gremiensitzungen ihrer Partei in Berlin am 27. Mai wirft Kramp-Karrenbauer ihm “Meinungsmache” vor und verteidigt sich danach auf Twitter: “Es ist absurd, mir zu unterstellen, Meinungsäußerungen regulieren zu wollen,” postet sie, obwohl im nächsten Tweet behauptet wird, dass grundlegende Kritik an den “Parteien der Mitte” die ganze demokratische Ordnung untergräbt.
Die Grünen hingegen haben am meisten vom Momentum der jugendlichen Klimabewegung profitiert und sind bei der Europawahl besonders erfolgreich mit 20,50% der Stimmen: ein Rekordergebnis. Zum ersten Mal auf Bundesebene sind sie auf Platz zwei – in manchen Umfragen sogar die stärkste Kraft in der deutschen Politik – und vieles wird geschrieben über die Möglichkeit einer politischen Zukunft, in der der bundesweite Hauptkonkurrent (und ständige Koalitionspartner) der CDU nicht mehr die SPD, sondern eben die Grünen wird.
Parlamentarischer Konsens gibt es jedenfalls außerhalb der Linkspartei für einen Beschluss, die internationale BDS-Bewegung (Abkürzung von “Boykott, Desinvestition und Sanktionen”) zur Unterstützung von palästinensischer Befreiung und Bürgerrechte zu verurteilen und zum ersten Mal die finanzielle Förderung von Projekte oder Institutionen, die zum Israelboykott aufrufen, auf Bundesebene zu verbieten. Wiederum sorgte der Bundestagsbeschluss für Kritik, die mit dem Anfang des Sommers nicht abreißt, u.a. in der Form einer Stellungnahme 240 israelischer und jüdischer Wissenschaftler samt namhaften Antisemitismus- und Holocaustforscher in Israel und den USA.
Weltberühmter chinesischer Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei, der seit 2015 im selbst auferlegten Exil in Berlin lebt, kündigt seine Absicht an, wegen eines allgemeinen Verschlechterung deutscher Ansichten die Einwanderung gegenüber aus dem Lande nach Großbritannien wegzuziehen. “Deutschland ist keine offene Gesellschaft”, wirft er vor, obwohl er seine Berliner Wohnung behalten wird, während er mit seinem 10-jährigen Sohn in Cambridge wohnen soll.
Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur werden zwei Menschen in einem antisemitischen Attentat auf die Synagoge an der Humboldtstraße in sachsen-anhaltischer Stadt Halle von einem bewaffneten Mann ermordet. Der 27-jährige rechtsextreme Täter Stephan Balliet, der die ganze Terroranschlag mit seinem Helmkamera auf der Webseite Twitch livegestreamt, versucht zunächst alle die in der Synagoge versammelten Anbeter zu töten, aber sein Plan ist durch deren geschlossene Tür gescheitert, nach dem er einen Passant und einen Kunden im nahegelegenen Kebab-Imbiss erschießt und später von der Polizei verhaftet wird.
Ende Oktober wird Benigna Munsi, eine 17-Jährige indischer Herkunft, zum neuen Nürnberger Christkind gewählt. Das Nürnberger Christkind ist eines der wichtigsten der Welt, und dessen Aufgabe ist es den berühmtesten Christkindlmarkt Deutschlands zu eröffnen. Der AfD-Kreisverband München-Land sorgt für Empörung nachdem die Gruppe auf Facebook ein Bild von Munsi postet mit der Überschrift, “Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen.” Der Beitrag wird von allen Seiten als rassistisch verurteilt, sogar vom bayerischen Ministerpräsident Markus Söder der ultrakonservativen Christlich-Soziale Union (CSU), der auf Twitter schreibt: “Umso schäbiger ist das Verhalten einzelner AfD Funktionäre. Diese Hetze dürfen wir nicht zulassen.”
Im November gibt es bei der Verleihung des Bayerischen Buchpreises im letzten Augenblik Kontroverse um die renommierte Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch als den Juristen wenige Minuten vor der geplante Vergabe des Preises an ihr bekannt gemacht wird, dass ihr nominiertes Werk Die Gesellschaft des Zorns: Rechtspopulismus im globalen Zeitalter an vielen Stellen und in verschiedener Weise plagiiert, unter anderem von ihrem Kollegen Andreas Reckwitz, dessen Gesellschaft der Singularitäten 2017 mit demselben Preis ausgezeichnet wurde. Folgende Untersuchungen samt einem offiziellen, von der TU Darmstadt eingeleiteten Prüfverfahren decken eine weitere Geschichte des Plagiats aufseiten Koppetschs auf, namentlich im Fall des 2013 erschienenen Buches Die Wiederkehr der Konformität, das nach einer Entscheidung des Campus-Verlages nicht mehr vertrieben wird.
Am Ende des Jahres macht das Klamauklied eines Kinderchors im Westdeutschen Rundfunk Furore, hauptsächlich von konservativen Medien und Politiker im deutschsprachigen Raum. Vorwürfe der politischen Instrumentalisierung der Jugend und sogar “Generationsverhetzung” folgen die Sendung einer satirischen Umdichtung des Volksliedguts ‘Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad’, worin herabwürdigend obgleich scherzhaft gemeint über die rückständige Einstellungen der sogenannten Nachkriegsgeneration – die vermutliche Großelterngeneration der Kinder – gesungen wird. Besonders einen Nerv treffend ist die Zeile, in der behauptet wird, dass die Oma eine “alte Umweltsau” ist. Unter öffentlichem Druck entschuldigt der ARD-Chef und WDR-Intendant Tom Buhrow sich, verurteilt den Song als ein “missglücktes Satirevideo, das viele Menschen verletzt hat” und zwingt seine Redaktion, es zu löschen.
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