Überlegungen zu einem Postmigrant Turn
Since the beginning of the COVID-19 pandemic in 2020, anti-immigrant violence saw a sharp increase in Europe and North America, as frustrations about the public health conditions and the governments’ responses to the state of crisis resulted in a rising tide of xenophobia. In this blog post, guest contributors Rahel Cramer (Macquarie U), Jara Schmidt (U Hamburg), and Jule Thiemann (U Hamburg) reflect on the connections between contemporary events and academia and advocate for a postmigrant turn in German Studies, an approach that foregrounds the notions of “postmigration” and “post-monolingualism” as the keys to challenging monolithic narratives of historiography and national homogeneity. You can read an English translation of the post here.
Postmonolingualismus und Postmigration – wissenschaftliche Intersektionen
Die seit der Jahrtausendwende stark anwachsende Verwendung des Begriffes ›Postmigration‹ in den Geisteswissenschaften sowie die Tatsache, dass in den letzten Jahren vermehrt Schriftsteller*innen und Künstler*innen sich selbst, ihre künstlerische Arbeit oder aktivistischen Agenden als ›postmigrantisch‹ bezeichnen, spricht für das kreative und politische Potenzial von postmigrantischen künstlerischen Verfahren in unseren heutigen multikulturellen und multilingualen Gesellschaften. In unserer Forschung untersuchen wir diese Phänomene aus interdisziplinärer Perspektive, in der Verbindung von Literatur- und Medienwissenschaft sowie Soziolinguistik, und argumentieren für eine Theoriewende: warum wir einen Postmigrant Turn brauchen.
In diesem Blogpost wollen wir einige Argumente präsentieren, die für eine postmigrantische Theoriewende sprechen, und deutlich machen, wie eine postmonolinguale Perspektive bzw. Sprache darin einzuordnen ist.
Zum Begriff ›Postmigration‹
Der Begriff des ›Postmigrantischen‹ hat in den Geisteswissenschaften, insbesondere im deutschen, aber auch im europäischen Kontext, seit der Jahrtausendwende Konjunktur. Die Berliner Theaterschaffende Shermin Langhoff führte die Bezeichnung ›postmigrantisch‹ in Hinblick auf ihre Theaterarbeit für diejenigen ein, »die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen.« Der Terminus stehe darüber hinaus »in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.« Der Soziologe und Bildungswissenschaftler Erol Yıldız fasst den Begriff ›Postmigration‹ zudem im Sinne einer Denkfigur, die »ein Überwinden von Denkmustern, das Neudenken des gesamten Feldes, in welches der Migrationsdiskurs eingebettet ist, meint – mit anderen Worten: eine kontrapunktische Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse.«1 Eine postmigrantische Perspektive wirkt irritierend auf nationale Mythenbildung und fordert einen kritischen Blick auf Geschichtsschreibung, in der beispielsweise Migrationsprozesse und Fluchtbewegungen oftmals aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft erzählt werden.2 Im Sinne einer postmigrantischen Theoriewende, die das Postmigrantische nicht mehr bloß als Untersuchungsobjekt, sondern als Analysekategorie fasst, müssen also stets die Deutungshoheiten hinterfragt werden.
Verschiebung der Diskurshoheit in Literatur und Sprache
Die Deutungs- und Diskurshoheit sollte jedoch nicht allein in akademischen Diskursen hinterfragt werden. Vertreter*innen der postmigrantischen Generation schaffen sich zunehmend ihre eigenen Räume, die nicht nur einer Bildungselite zugänglich sind, sondern breitere soziale Schichten erreichen3 – etwa durch Blogs, Social Media oder essayistische Schriften. Ein Beispiel ist die Aktivistin, Journalistin und Autorin Kübra Gümüşay, die mit Sprache und Sein 2020 ihr erstes Buch publizierte. Sie folgt darin ihrem Wunsch nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert, einer Sprache, die allen ein gleichberechtigtes, freies Sprechen ermöglicht und die Diversität zulässt. Indem sie unterschiedliche Perspektiven unter die Lupe nimmt, geht sie der Macht von Sprache nach sowie der Frage, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt.
Begriffe wie ›Mansplaining‹, ›Alman‹ (türkisch für ›Deutsche*r‹, oft belustigend verwendet, um auf Klischees zu verweisen) oder ›alter, weißer Mann‹ stoßen Gümüşay zufolge deshalb auf Widerstand, weil sie einen Perspektivwechsel vornehmen, der den Herrschenden vorführt, dass vermeintlich neutrale Sichtweisen unterdrückend wirken können, und weil sie das Prinzip der (Fremd-)Zuschreibung verdeutlichen. ›Alte, weiße Männer‹ werden erstmals einem pauschalisierten Typus zugeordnet, der mit kritischen Attributen versehen wird: Unhinterfragt privilegiert, lehnt dieser Typus feministische wie antirassistische Positionen ab. Die Benannten reagieren erzürnt, weil sie auf eine (negativ konnotierte) Kategorie reduziert werden.4 Mit solch erniedrigenden und entmündigenden Reduktionen sind Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund oder andere marginalisierte Gruppen ständig konfrontiert. Es wird offenbar, so Gümüşay, wie Menschen als Individuen unsichtbar gemacht werden, wenn sie immer nur als Teil einer Gruppe gesehen werden und sich auch nur als solcher äußern dürfen. Erst wenn alle Perspektiven – unabhängig von Herkunft, Aussehen, Religion, Geschlecht etc. – auf Augenhöhe zusammenkommen, können alle Menschen frei sprechen.5
Ein weiteres Beispiel ist das Zine Literarische Diverse, das von Yasemin Altınay herausgegeben wird. In dem antirassistischen wie machtkritischen Zine, dessen erste Ausgabe zum Thema ›Engagement‹ im Dezember 2019 erschien, werden vorrangig Texte von LGBTQI+ und BIPoC publiziert, die einer Selbstermächtigung dienen sollen. Das zweite Heft mit dem Themenschwerpunkt ›Sprache‹ wurde im Sommer 2020 publiziert. Mehrsprachigkeit, die in der Regel nur dann als Pluspunkt betrachtet wird, wenn es sich bei der Muttersprache zum Beispiel um Englisch oder Französisch handelt, nicht aber um etwa Türkisch oder Polnisch, erfährt in Jessica Agirmans Gedicht »Mama macht Musik« eine Aufwertung. Agirman schreibt:
»Mama spricht und ihre Zunge ist ein / buntes Mosaik der schönsten Akkorde, / ein vollendetes Puzzle aus den / verschiedensten Teilen, deswegen kann / ihre Sprache auch niemals gebrochen sein«.
Jessica Agirman: »Mama macht Musik«, in: Yasemin Altınay (Hg.): Literarische Diverse. Ein Magazin für junge und vielfältige Literatur, Heft 2: Sprache, Berlin 2020, S. 8.
Einem sogenannten ›gebrochenen Deutsch‹ wird hier also das Bild eines bunten Mosaiks und eines vollendeten Puzzles selbstermächtigend entgegengesetzt. Dies steht im starken Gegensatz zu der ideologisierten Vorstellung einer Muttersprache, die als nahtlose Einheit mit nationaler und ethnischer Identität gleichgesetzt wird.6 In dem Gedicht »I miss mother tongues from fatherlands I have never been to« von Samira Ghoualmia wiederum wird unter anderem die Intersektionalität von Herkunft/Ethnie und Klasse ausgestellt:
»Fragmente einer ausgeliehenen Sprache, / Geschriebenes Wort, / hinter dem ich mich verberge. / Akademikersprache, um zu beeindrucken, / einzuschüchtern, Distanzen herzustellen. / Zwischen Mir und den Anderen. / Zwischen Mir und denen, / die mich anderen.«
Samira Ghoualmia: »I miss mother tongues from fatherlands I have never been to«, in: Yasemin Altınay (Hg.): Literarische Diverse. Ein Magazin für junge und vielfältige Literatur, Heft 2: Sprache, Berlin 2020, S. 90–91, hier S. 91.
Die akademische Sprache wird zum Schutzschild gegen jene, die dem lyrischen Ich mit Othering begegnen und die es aufgrund ihres ›Migrationshintergrundes‹ mit einer ›bildungsfernen Schicht‹ in Verbindung bringen. Bücher wie das von Gümüşay oder auch Zines wie das von Altınay machen deutlich, dass der Postmonolingualismus im Kontext einer komplexen postmigrantischen Diversität gedacht und intersektional gefasst werden muss, also beispielsweise in seiner Verschränkung mit Klassismus oder auch anderen Diskriminierungsrealitäten.
Integration zweier Ansätze: Postmigration und Postmonolingualismus
In Bezug auf Sprache unternimmt Yasemin Yildiz in ihrem Werk Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition (2012) eine Irritation nationaler Mythenbildung. Sie hinterfragt das idealisierte Konzept der »Muttersprache« als einzige privilegierte Sprache, welches die exklusive Verbindung zwischen Sprache, ›wahrer‹ Herkunft und (nationaler) Identität propagiert (Yildiz, 203). Dieses Konzept steht im Zentrum der im späten 18. Jahrhundert aufkommenden Ideologie des Monolingualismus, die dem modernen Nationalstaat zugrunde liegt. Durch die Analyse mehrsprachiger Verfahren einer Reihe deutschsprachiger Schriftsteller*innen, zeigt Yildiz, dass die »Muttersprache« anstatt allein positiv konnotiert zu sein, auch mit Befremdung, Einengung, Stigmatisierung, sozialer Erniedrigung oder staatlicher Gewalt assoziiert werden kann; aus einer solchen Sprache können Sprachen, die nicht als Muttersprachen betrachtet werden, bzw. kann Mehrsprachigkeit einen Ausweg bieten, so Yildiz. Die in dem Band analysierten Texte veranschaulichen zudem, dass die Autor*innen das Deutsche in ihrer Mehrsprachigkeit keinesfalls ablehnen, sich die Sprache jedoch anders als im öffentlichen Diskurs gewünscht zu eigen machen. Assoziationen zum Verbund von Sprache, Nationalität und Ethnizität stellen sie somit infrage, genau wie die zuvor beschriebenen Gedichte aus Literarische Diverse.
Yildiz bedient sich in ihrer Analyse des Begriffs ›Postmonolingualismus‹. Damit beschreibt sie ein Spannungsfeld, in dem sich das monolinguale Paradigma weiterhin durchsetzt und mehrsprachige Praktiken fortbestehen oder wiederauftauchen. Mithilfe eines postmigrantischen Ansatzes kann dieses Spannungsfeld in einen weiteren soziokulturellen Kontext eingeordnet werden. Sprache kann so in ihrer Verschränkung mit z. B. Ethnizität, Gender oder Religion als Ausgangspunkt für soziale Ungerechtigkeit beleuchtet werden. Eine Forschungsagenda unter dem Oberbegriff der Postmigration, die eine postmonolinguale Perspektive integriert, lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die Überschneidung bzw. Gleichzeitigkeit von linguistischer Diversität und weiteren Ungleichheit generierenden Strukturkategorien – also auf Intersektionalität.
Basierend auf der zunehmenden Diversifizierung unserer Gesellschaft und der Beobachtung, dass sich in Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskursen Stimmen für ein gerechteres Miteinander jenseits homogenisierender Kategorien stark machen, sprechen wir uns für eine Theoriewende aus, in der postmigrantische Ansätze inter- sowie transdisziplinär zum Erkenntnismittel und -medium werden. Die postmigrantische Forschungsagenda, der wir uns daher widmen, beinhaltet die Integration einer postmonolingualen Perspektive, da linguistische Diversität bzw. Sprache eine zentrale (Diskriminierungs-)Kategorie ist, die im Zusammenhang mit anderen Strukturkategorien untersucht werden muss, um eine Analyse unserer postmigrantischen Gesellschaft und ihrer wehrhaften, gegen Normierungsversuche gerichteten Verfahren umfassend zu ermöglichen.
1 Marc Hill / Erol Yıldız: »Editorial«, in: Dies. (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld 2018, S. 2.
2 Ein zentraler Kritikpunkt am Begriff der Postmigration ist, dass das Präfix ›Post‹ missverstanden und als Überwindung eines negativen Bezugsrahmens gedeutet werden könne – wie z. B. bei den Termini Postkolonialismus, Postnationalismus oder Postrassismus. Dies würde implizieren, dass Migration etwas Negatives darstelle, das es zu überwinden bzw. beenden gilt. Stattdessen verweist das Präfix auf eine von Migration geprägte Gesellschaft, in der vergangene und bestehende Migration der Normalfall ist. Ähnlich wie beim Postkolonialismus geht es dabei auch um die Berücksichtigung von gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen, die durch globale Migrationsbewegungen nachhaltig verändert wurden und noch immer verändert werden. Vgl. Naika Foroutan: »Die postmigrantische Gesellschaft«, in: Bundeszentrale für politische Bildung. Kurzdossiers. Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen vom 20.04.2015.
3 Die Frage des Publikums verdient eine genauere Untersuchung, die an dieser Stelle jedoch den Rahmen sprengen würde. Auch in sozialen Netzwerken entstehen selbstverständlich eigene ›Bubbles‹, sodass nicht immer jede*r alles mitbekommen kann, grundsätzlich ist das Internet, wo sich viel Widerstand formiert, für viele aber sehr viel zugänglicher als akademische Diskurse.
4 Vgl. Kübra Gümüşay: Sprache und Sein, München 2020, S. 49, 124.
5 Vgl. ebd., S. 166.
6 Vgl. Yasemin Yildiz: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition, New York 2012, S. 205.
Literatur
Altınay, Yasemin (Hg.): Literarische Diverse. Ein Magazin für junge und vielfältige Literatur, Heft 2: Sprache, Berlin 2020.
Foroutan, Naika: »Die postmigrantische Gesellschaft«, in: Bundeszentrale für politische Bildung. Kurzdossiers. Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen vom 20.04.2015, https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft (Zugriff am 11.08.2021).
Gümüşay, Kübra: Sprache und Sein, München 2020.
Hill, Marc / Erol Yıldız (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld 2018.
Langhoff, Shermin / Katharina Donath: »Die Herkunft spielt keine Rolle – ›Postmigrantisches‹ Theater im Ballhaus Naunynstraße. Interview mit Shermin Langhoff«, in: Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier kulturelle Bildung vom 10.03.2011, https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/kulturelle-bildung/60135/interview-mit-shermin-langhoff (Zugriff am 11.08.2021).Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition, New York 2012.