Switzerland: Advertising a Strange Case
Iso Camartin
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Abstract:
This lecture was originally delivered at the University of California, Berkeley, on November 18, 2008. Its thematic focus is on multilingualism and cultural diversity in Switzerland. It also addresses political and cultural loyalty, modern survival strategies in economically marginal regions, and cultural priorities in a globalized world.
Iso Camartin was born in Graubünden in 1944. His mother tongue is Romansh but he is fluent in the four official languages of Switzerland. From 1974 to 1997 he worked as a research fellow at the Center for European Studies at Harvard University. From 1985 to 1997 he was Professor for Romansh literature and culture at the Technical University Zurich as well as at the University of Zurich. His pedagogical and research interests focus on multilingual and multicultural minorities. In 1986 he was awarded the European Essay Prize of the Veillon Trust. In 1993 he was writer-in-residence at the University of Southern California. Between 2000 and 2003 he was the director of the cultural division of Swiss Television DRS.
Manche halten die Schweiz für ein Gelobtes Land, wo Milch und Honig fliessen, wo alle reich sind, in Frieden miteinander leben, gesunde Luft atmen und abends früh schlafen gehen, um morgens wieder fit zu sein für den neuen Tag. Das Bild, das die meisten von der Schweiz haben, ist idyllisch, ein bisschen kitschig und ziemlich oberflächlich. Vermutlich ist das unvermeidlich. Denn kleine Länder haben das Schicksal, gleichzeitig bewundert und mit Nachsicht behandelt, etwas von oben herab nicht ganz für voll genommen zu werden. Aber auch kleine Länder können komplex, schwer zu durchschauen und eigenwillig sein. Wer versteht schon ganz ein Land und die Menschen, die sich diesem Land zugehörig fühlen?
An der Weltausstellung in Sevilla im Jahr 1992 musste, wer in den Pavillon der Schweiz wollte, schwarz auf weiss lesen: „La Suisse n’existe pas!“ Das war eine listige und äusserst erfolgreiche Mitteilung an die Welt, dass es jene Schweiz, wie sie in den Köpfen der meisten Zeitgenossen ausschaut, sogar der Schweizerinnen und Schweizer selbst, gar nicht gibt. Für Aufregung sorgte dieser Satz darum auch weniger im Ausland als in der Schweiz. Parlamentarier der patriotischen Richtung liefen Sturm gegen diese Denk-Provokation und wollten verhindern, dass ein Pavillon der Schweiz mit einem derartigen Motto eröffnet werde. Man sprach von Verunglimpfung, von Nestbeschmutzung und gar von Landesverrat. Dabei war es eine äusserst kluge und werbewirksame Einsicht einiger Künstler, die wussten, dass eine ironische Provokation mehr Leute neugierig macht auf ein kleines Land als lautstarke Angeberei und plumpe Grosstuerei.
Es war dies eine Absage an die Schweiz der politischen Mythen, wie sie oft in patriotischen Reden vorkommt. Die Schweiz als „Sonderfall“, als „Willensnation“, als Insel der Unabhängigkeit und Neutralität, die Heidi-Schweiz und die Wilhelm-Tell-Schweiz, die Schweiz der ewigen Gletscher und der Alpenrosen, der glücklichen Bergbauern und der Soldaten an der Grenze eines feindlichen Europas, aber ebenso die Schweiz der Sackmesser und der Uhren, der Schokolade und des Käses, und natürlich: die Schweiz der geheimen Kontonummern: Diese sattsam herumgebotene Schweiz der Klischees, der Legenden und der Vorurteile existiert wohl wirklich nur in den Mythen und sieht in Wirklichkeit ganz anders aus. Mit dem Spruch „La Suisse n’existe pas“ rüttelte der Künstler Ben Vautier an einem eingefahrenen Selbstverständnis, das dringend nach Überprüfung und Modernisierung verlangte. Und er tat es so klug und so frech, dass er die Klugen und Frechen sofort auf seiner Seite hatte.
Wer ungefragt in die Schweiz will, hat es nicht leicht. Hier ist man gegenüber ungebetenen Gästen misstrauisch. Zumal wenn sie nicht zu den Wohlhabenden gehören und um Hilfe und Beistand ersuchen, nach Arbeit und Sicherheit verlangen. Die Aufnahmebedingungen für Arbeitsuchende sind streng geregelt. Wer auf den ersten Blick nichts zu sein und nichts zu haben scheint, wird skeptisch betrachtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wirtschaft in der Schweiz wie in vielen Ländern Europas aufblühte, brauchte man Leute. Max Frisch hat später die berühmte Formel geprägt, man habe Arbeitskräfte gebraucht und es seien Menschen gekommen. Mit letzteren hat man seine Mühe gehabt, bis sie zu solchen wurden, die unauffällig genug dazugehörten. Heute sind gut zwanzig Prozent der Wohnbevölkerung der Schweiz Ausländer. Also jeder fünfte! Freilich sind die Nichtschweizer nicht gleichmässig übers Land verteilt. In ländlichen Regionen kann der Ausländeranteil sehr gering sein, in Genf dagegen ist er nahe an die vierzig Prozent. Das sorgt für Konflikte, aber auch für grossartige kulturelle Herausforderungen. Immer wieder führt dieser hohe Anteil an Ausländern in der Schweiz zu internen Debatten, manchmal gar zu hässlichen Aus- und Abgrenzungen. Doch was würde mit der Schweiz geschehen, wenn unsere ausländischen Arbeitnehmer von einem Tag zum anderen Abschied nehmen und in ihr Ursprungsland zurückreisen würden? Manche Betriebe müssten sofort schliessen. Die wirtschaftliche Stabilität käme mehr als nur ins Wanken. Schweizer, die nachdenken, sind den europäischen Nachbarländern, aber auch ferner liegenden Herkunftsgebieten ewig dafür dankbar, dass ihre Leute aufgebrochen und zu uns gezogen sind. Tausende sind inzwischen zu Schweizern geworden, sie prägen dieses Land mit. Und sie sorgen für eine reiche kulturelle Vielfalt, für die Buntheit sowohl der Märkte wie der Sitten und Gebräuche. Man muss einmal an einem Samstag Morgen den Markt von Oerlikon, einem Stadtteil von Zürich, besuchen. Da ist vor unseren Augen in schönsten Farben ausgebreitet, was dieses Land dem Norden und dem Süden, den Ländern ums Mittelmeer und auch noch fernab liegenden östlichen Regionen verdankt. Die Schweiz ist durch die Anwesenheit der Menschen aus fremden Nationen um sehr viel lebenswerter, saftiger, würziger und farbiger geworden.
Von Aussen mag es manchmal so aussehen, als sei die kleine Schweiz ein störrisches und eigensüchtiges Gebilde, das vor allem an sich denkt und den Kontakt sogar mit den allernächsten Nachbarn scheut. Es ist wahr: Die Geschichte hat uns Schweizer nicht zu waghalsigen Abenteurern und Eroberern fremder Gebiete ausersehen und geformt. Was nach Grossmacht ausschaut, schreckt uns eher. Zentralismus ist ein hässliches Wort im helvetischen Vokabular. Wir geben Kompetenzen ungern ab, vor allem nach oben. Man delegiert nicht, was man selber besorgen kann. Darum herrscht auch ein angeborenes Misstrauen gegen die Verwalter der Macht. Entscheidend sind nicht in erster Linie die Überzeugungen der Politiker und der Meinungsmacher. Entscheidend ist, für welche Lösungen man an der Urne bei Abstimmungen eine Mehrheit bekommt. Es mag manchmal so aussehen, als seien die Schweizer unkooperative und selbstgefällige Europäer, als hätten sie sich darauf spezialisiert, das Geld von Steuerflüchtlingen zu verwalten und zu mehren. Das ist ein ziemlich schiefer Eindruck. In mancher Hinsicht ist die Schweiz europäisch integrierter als Länder, die zur Europäischen Union gehören. Wirtschaftlich ist die Schweiz kein Fremdkörper im europäischen Umfeld. Und kulturell schon gar nicht. Für die Kultur, für die Kunst, für den Austausch von Ideen und Erfindungen sind Landesgrenzen leicht passierbare Schranken. Künstlerinnen und Künstler haben dies immer gewusst und darum auch praktiziert. Ihre konstitutionelle Unzufriedenheit mit dem an Ort und Stelle Bestehenden hat sie immer schon hinausgetrieben über das eigene Land und über die eigenen Grenzen. Umgekehrt hat Neugierde fremde Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten auch in die Schweiz gelockt. Die sprachliche Vielfalt der Schweiz, die eine national orientierte Einheitskultur gar nicht zuliess, ist im Lauf der Jahrhunderte zu einem Begegnungsraum für Menschen unterschiedlichster Orientierungen geworden. Bedenken Sie einmal, dass Menschen wie Rousseau, Büchner, Bakunin, Strawinsky, Nabokov oder Canetti in die Schweiz gekommen sind: Dadurch, dass sie da waren, haben sie das Land geöffnet, europäischer gemacht, die Zirkulation von Gedanken und Visionen gefördert. Und das Land ist auch durch sie ein anderes und „eigenes“ Land geworden.
Eigensinn kann gefährlich sein. Wer stur beim Eigenen bleibt, kapselt sich ab vom Lebensstrom. Am Ende verdorrt er. Dennoch scheinen heute jene, welche den politischen Alleingang predigen, auf die Sympathie der verunsicherten Eidgenossen zu stossen. Der Rechtspopulismus hebt gegenwärtig stolz sein Haupt in der Schweiz. Jene Partei, die sich nicht scheut, in ihrer Propaganda Gruppen von Ausländern als schwarze Schafe zu kriminalisieren, die in eidgenössischen Landen nichts zu suchen haben und liebe heute als morgen in ihre alte Heimat wieder zurückgeschafft werden sollen, findet Gehör und Anhängerschaft. Man scheut sich nicht, im politischen Abstimmungskampf eindeutig rassistische Bilder zu verwenden und zeigt Arme und Hände anderer Hautfarben, die gierig nach dem roten Schweizerpass greifen. Man scheut sich ebenso wenig, bedauerliche Einzelfälle nicht gelingender Integration und krimineller Machenschaften zur generellen Bedrohung für Land und Leute zu stilisieren und fördert damit in unverhohlener Art nationale und rassistische Vorurteile. Hässliche ausländerfeindliche Töne sind inzwischen auch in der Schweiz unüberhörbar geworden. Und jene, die solche Töne von sich geben, gerieren sich dabei nicht ungern als die vorbildlichen Patrioten und Demokraten, ja als die „Stimme des Volkes“.
Die Schweiz kann man aber nur begreifen, wenn man den Jahrhunderte dauernden Austausch über Landesgrenzen hinweg im Auge behält. Der Blick auf die vielen Facetten der realen Schweiz ist wichtig, um zu einer richtigen Beurteilung der Schweiz zu kommen. Doch ebenso wichtig ist die Schweiz der Visionen und der Fiktionen, ja sogar die Schweiz der Mythen und der Träume. Gefragt ist auch die kulturelle Perspektive auf die Realität. Es gibt Menschen, die vor allem politische und ökonomische Ziele haben. Und wir wollen ihre Leistungen, ihre Tatkraft und ihre Erfolge nicht gering schätzen. Man kann das Leben aber auch unter dem Gesichtspunkt kultureller Gegebenheiten betrachten. Dazu gehören die Errungenschaften einer Zivilisation, die den Einzelnen zu einem freien und solidarischen Menschen heranbilden, aber auch jene, die der Gemeinschaft oder der Nation eine Selbstachtung und eine Fremdachtung verschaffen. Die Grundpfeiler der Kultur sind das Gedächtnis für die vergangenen Zeiten, die Neugier für die Erfordernisse der Gegenwart und die Phantasie für Entwicklungen der Zukunft. Wenn ein Schriftsteller sich mit dem Phänomen Schweiz auseinandersetzt, will er nicht nur das Wissen über dieses Land erweitern. Er möchte ebenso ein Gefühl entfalten für alles, was an diesem Land liebens- und schätzenswürdig ist. Für das, was im ersten Augenblick nicht so offensichtlich ist, was nicht grossspurig daherkommt und sich aufdrängt, sondern oft im Verborgenen liegt. Nietzsche, der sieben Sommer lang in Sils-Maria über das Leben und seine Zeit nachgedacht hat, behauptete, wenn es eine Rechtfertigung unsers Daseins gebe, sei es eine ästhetische. Damit wollte er gewiss auch sagen, dass das, was wir als schön und eindrücklich, erhaben und prägend erleben, unserem Leben eine Art Mehrwert zufügt, welcher unser Glück ausmachen kann. Wer über ein Land nachdenkt, soll dies kritisch tun und in einer Weise, welche die Urteilskraft schärft. Über das Land nachdenken, dem man sich zugehörig fühlt, bedeutet sehr oft, zu einer alternativen Beurteilung der eigenen Situation und manchmal sogar des ganzen Umfeldes zu gelangen. In einer ästhetisch geschärften Wahrnehmungsperspektive heisst es aber auch, die eigene Freude am Dasein zu alimentieren. Es kann jemanden sogar glücklich machen, über sein eigenes Land nachzudenken. Bei allen Mängeln, Unzulänglichkeiten, Defiziten und Beschämungen, die in den Blick geraten, wenn das Land, zu dem man gehört, auf dem Prüfstand ist, kann auch etwas Beglückendes zum Vorschein kommen. Es kann eine Dankbarkeit im Innern darüber spürbar werden, vom Schicksal gerade an diesen Ort hingesetzt worden zu sein. Das ist vermutlich die Grunderfahrung dessen, was wir Patriotismus nennen.
Gerade wenn man über die eigene Heimat nachdenkt, bleibt man zunächst oft in einer Frühprägung befangen. Ein Genfer, ein Basler, ein Tessiner oder ein Appenzeller schreibt anders über die Schweiz als ein Rätoromane aus Graubünden. Jeder bewegt sich seinen Leitwahrnehmungen entlang, wenn er etwas über sein Land sagt, das von der eigenen Person nicht ganz abgelöst und gereinigt sein soll. Wer kann und will schon neutral und unpersönlich über seine Heimat berichten? Dabei erteilt uns die Geschichte erstaunliche Lektionen. Als Graubündner weiss ich zum Beispiel, dass meine Landsleute politisch erst durch die Mediationsakte von 1803 allmählich zur Raison gekommen sind. Zuvor waren sie untereinander während Jahrzehnten des Streits und der Parteiungen so misstrauisch und verhärmt, so verbittert und verbiestert, dass sie nicht mehr fähig waren, für eine erträgliche Gemeinsamkeit zu sorgen. Fanatische Anhängerschaft für die Seite der Österreicher oder für die der Franzosen führte dazu, dass man aufeinander losging, als sei der anders denkende Nachbar aus dem nächsten Tal der eindeutige Abgesandte des Teufels. Georg Anton Vieli, ein feiner politischer Kopf und daneben ein etwas grober Verseschmied, hat ein Neujahrsgedicht auf dieses Jahr 1803 geschrieben, in welchem er die in heillosem Streit befangenen Bürger ermuntert, die Selbstzerfleischung doch endlich zu unterlassen und geduldig den Entscheidungsspruch Napoleons aus Paris abzuwarten: „Sur nossa sort Paris / Vegn gleiti dar gl’avis / Speronza buna“ – „Über unser Los wird bald Paris den Schiedspruch fällen – hoffentlich wird es ein gutes Los sein!“ Und falls es ein schweres werden sollte, dann möge man es dadurch erleichtern, dass man sich neu vertrage. „Lein pia perdunar, / Partidas far tschessar, / Viver perina“ – „Lasst uns also die alten Fehler verzeihen, die blinden Anhängerschaften und falschen Zugehörigkeiten aufgeben, leben wir endlich im Frieden zusammen!“ ruft der besorgte und kriegsgeprägte Mann den Hitzköpfen seiner Talschaft zu. Es ist eine jener merkwürdigen historischen Situationen, in welchen zumindest die Einsichtigen spüren, dass man untereinander nicht mehr weiterkommt. Das eigensüchtig häusliche Denken führt zu nichts Gutem mehr. Die Vernunft liegt längst nicht im Eigenen, sondern ist zu den Fremden übergelaufen, man hat sie schon verspielt und verloren. Da muss eben Napoleon helfen, damit die Eidgenossenschaft, ihre Untertanen und Zugewandten endlich sich zusammen raufen und zueinander finden. Es ist eine erstaunliche Lehre über Selbstbefangenheit und Selbstbehinderung, die uns Schweizern die Jahre zwischen 1798 und 1803 erteilen. Manchmal sind die eigenen Angelegenheiten so verwickelt und verfahren, dass man nichts so dringlich wie Hilfe von Aussen braucht. Wir kennen dies im Privaten, wir haben es auch im Politischen erfahren. Doch ein Salomon, der die Zerstrittenen einigt, oder ein Napoleon, der die Verfahrenen auf die Route der Vernunft zurück zwingt, sind nicht immer zur Stelle. Umso mehr hat man auf der Hut zu sein vor jenen gewachsenen Formen der Zugehörigkeit, die uns blind machen und am Ende ratlos lassen.
Heute wünsche ich meinem Land vor allem die Fähigkeit und die Kraft, die einengenden Formen der Selbstbefangenheit zu überwinden, damit Menschen anderer Länder und Kulturen nicht fremd und ungefragt unter uns leben müssen. Es wäre jenes Glück der Zugehörigkeit, das unser Herz weit und unseren Kopf mutig macht. Man kann aber heute das Phänomen der Zugehörigkeit nicht national definieren. Wir leben in globalen Zusammenhängen. Dabei entdecken wir, dass unsere Welt so schön wie unvollkommen ist. Vielleicht hängt die Schönheit der Welt sogar damit zusammen, dass sie unvollkommen ist. Doch sobald wir beginnen, über unsere Lebensformen und ihre Folgen nachzudenken, entdecken wir Mängel, Widersprüche und ans Absurde grenzende Tollkühnheiten in unserem Verhalten. Wir leben gutgläubig und waghalsig in die Zukunft hinein. Im Hinblick auf den Fortbestand der Welt sind wir alles andere als sorgsam und klug. Wir vergeuden und verschleudern Ressourcen. Wir leben so, als kenne die Natur keine Grenzen, als sei sie unerschöpflich. Das heisst: Wir leben über unsere Verhältnisse. Und irgendwie ahnen wir, dass unsere Unvernunft den kommenden Generationen teuer zu stehen kommen könnte.
Andererseits: Wenn unser Planet nicht unendlich und nicht unerschöpflich ist, so ist es vielleicht doch unser Gehirn. Im Ausdenken von Alternativen, Verbesserungen, Anpassungen und Korrekturen scheinen wir unbegrenzt einfallsberechtigt zu sein. Unser Gehirn anerkennt keine Faits accomplis und keine diktierten Unveränderbarkeiten. Allenfalls als Ausgangssituation für neue Projekte. Was heute erbärmlich ist, braucht es morgen nicht auch noch zu sein. Wir sind nicht dazu da, um zum schlechten Zustand der Welt Ja und Amen zu sagen. Gegen den falschen Lauf der Welt müssen Alternativen ausgeheckt werden. Hier und heute. Sonst leben wir nicht nur über unsere Verhältnisse, sondern auch noch unter unseren Möglichkeiten. Und das wäre für denkende Wesen die noch grössere Schande.
Die Folgen unseres verantwortungsblinden Draufloslebens sind bekannt und tragen Namen: die globale Erwärmung, das absehbare Ende nicht erneuerbarer Energien, der Kampf um die Verteilung der Ressource Wasser. Natürlich gibt es noch weitere moderne Plagen. Der Hunger in der Welt gehört dazu und die ungerechte Verteilung der Bildungs- und Aufstiegschancen. Wir leben meistens so wie die Bewohner von Platons Höhle: gefesselt von Gegebenheiten und Gewohnheiten und mit Bildern im Kopf, als sei das Leben so unveränderbar hinzunehmen, wie es uns nun einmal erscheint. Noch leben und atmen wir ja, noch haben wir Öl zum Heizen und Benzin zum Fahren, noch scheint Wasser in Fülle aus guten Quellen zu gurgeln. Mit der individualistisch abgefederten Parole im Kopf „Après moi le déluge!“ leben wir in unseren Breitengraden doch ziemlich gut! Wer muss denn gleich in noch besseren oder gar in der besten aller möglichen Welten leben!
Doch gibt es da etwas, das uns keine Ruhe lässt und in unserem Kopf bohrt und sticht. Wenn wir darauf achten, verstehen wir diese innere Stimme, die sagt: Finde dich niemals ab mit dem, was da ist! Forsche nach dem Besseren! Sage niemals nie! Gib nicht auf! Suche weiter! Lass dich nicht nur tragen und treiben! Wähle ein Ziel! Dann setze die Segel und halte Kurs! „Insolubilia“ – unlösbare Probleme – gibt es nur, wenn wir sie uns als unlösbar einbilden. Der amerikanische Philosoph George Santayana soll gesagt haben: „Schwierig ist das, was sich sofort erledigen lässt; unmöglich das, was ein bisschen länger dauert.“ Also machen wir uns sofort ans Schwierige. Und langfristig wollen wir uns das Unmögliche vornehmen. Der menschliche Wille, sich von Zwängen zu befreien, vermag beinah alles, wenn man diese Zwänge als Herausforderung und nicht als böses Schicksal versteht. Die besseren Lösungen darf man nicht durch Einfallslosigkeit und Müdigkeiten verspielen. Über verregnete Nachmittage zu jammern ist nicht das Höchste, zu dem der Mensch fähig ist.
Es gibt eine bemerkenswerte Passage in Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, wo er darüber nachdenkt, dass es für lebensverändernde Erkenntnisse so etwas wie enthusiastische Vorstufen gibt, gleichsam Anlaufprogramme, um zu brauchbaren Ergebnissen vorzustossen. Im Aphorismus 300 liest man: „Vorspiele der Wissenschaft. – Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und gross geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchemisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als die, welche mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mächten schaffen mussten? Ja, dass unendlich mehr hat verheissen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas im Reiche der Erkenntnis sich erfülle?“
Wir haben eine seltsame Neigung, Verkünder des Neuen als Phantasten, Träumer, Illusionisten und weltfremde Idealisten zu bezeichnen. Und klopfen ihnen mitleidig auf die Schulter mit dem Ratschlag: „Wer Visionen hat, muss zum Doktor!“ Doch was sagt uns Nietzsche? Um Geschmack zu finden an dem, was morgen möglich sein soll, braucht es kühnere Rechner als es die Buchhalter des Gegebenen je sein können. Es braucht Leute, die nicht nur die alten Spiele spielen wollen, mit schon bekannten Gewinnern und bekannten Verlierern. Die Karten sollen neu gemischt werden. Ja es sollen sogar neue Spiele gespielt werden, solche, für welche die Karten erst zu erfinden sind. Um der alten Kurzsichtigkeit, Ungerechtigkeit und Dummheit, die sich etabliert haben, den Kampf anzusagen, braucht es manchmal die Träumer und Hexenmeister, die Prophetinnen und Visionäre. Wir wollen sie uns nicht verbissen und berserkerisch denken, nicht weltfremd und gewalttätig, sondern klug und listig, mutig und berstend vor guten Einfällen. Sie sollen uns jene Spiele erfinden, bei denen alle Mitspieler am Ende gewinnen. Spiele ohne Betrogene und Düpierte, ohne Zu-Kurz-Gekommene und Enttäuschte. Warum soll dies nicht möglich werden, sobald wir uns nicht mit Schadensmeldungen abfinden?
Fast immer ist der erste Schritt noch nicht die Lösung, doch er ist die Voraussetzung für etwas, das sich erst allmählich abzeichnet. Von Terry Pratchett, dem Verfasser der Scheibenwelt-Romane, gibt es den herrlichen Spruch: „Am Anfang war nichts. Da sprach Gott: Es werde Licht. Da war immer noch nichts. Aber jetzt konnte man es sehen.“ In der Tat: Man muss das Nichts zuerst sehen, um die Notwendigkeit zu begreifen, die Nichtslücke durch etwas zu füllen, das besser ist als nichts. Dieses Etwas kann ein Nützliches, Weiterbringendes sein. Zum Beispiel etwas, das in naher Zukunft weltweit sauberes Wasser schaffen würde, reine Luft und ausreichend Nahrungsmittel und Energie, um die Grundbedürfnisse aller zu decken.
In Europa und sicher auch in Amerika leben wir mit Zugangsprivilegien zu beinah jeder Art von materiellem Reichtum. Damit decken wir nicht nur unsere Grundbedürfnisse, sondern leisten uns den Luxus und den Überfluss, der anscheinend zu einem guten Leben gehört. Wir sind Weltmeister in der Rechtfertigung unserer Lebensformen und geben sogar zu, dass wir bei genauer Analyse auf Kosten anderer leben. Der Verteilungskampf läuft vorläufig noch zu unseren Gunsten. Wir brauchen uns deswegen nicht ins Büsserhemd zu werfen. Doch dies als ererbtes Vorrecht westlicher Zivilisation anschauen, können wir auch nicht. Dass es uns gut geht in der global vernetzten Welt, darf nicht dazu führen, dass wir die Fehler im System übersehen. Im Kopf soll es unaufhörlich ticken: „O Mensch, gib acht!“ Was heute gut scheint, ist es morgen vielleicht längst nicht mehr. Sei nicht denkfaul und korrigiere den Kurs, wenn das Verhängnis erkennbar wird. Wage den Sprung über das Bewährte hinaus. Packe zu, wo du eine Möglichkeit siehst!
Ich bin zuversichtlich, dass auch die Schweiz, aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und ihres heutigen Zustands zusammen mit ihren europäischen, aber ebenso mit weltweiten Partnern die Fragen der Zukunft mutig und intelligent anpacken wird. Fragt mich jemand: „Welche sind die Zukunftsprobleme der Schweiz?“ antworte ich ohne zu zögern: „Die gleichen wie jene aller anderen Länder mit ähnlichem Lebensstandard.“ Die wirklich gravierenden Probleme kann heute die Schweiz nicht allein, sondern nur gemeinsam mit ihren nahen und fernen Nachbarn lösen. Was nicht heisst, dass besondere historische Voraussetzungen nicht auch zu besonderen Lösungen und Praktiken befähigen könnten. Ich bin beispielsweise davon überzeugt, dass eine direktdemokratische politische Kultur zu einer hohen Sensibilität für das Gemeinwohl führen kann. Wie ich daran glaube, dass in einer so vielfältigen Medienlandschaft, wie die Schweiz sie kennt, der Kampf um Aufmerksamkeit und Zustimmung dem populistischen Buhlen um blinde Anhängerschaft entgegenwirkt und letztlich zu einem Dialog unter Informierten und weiter Blickenden führen muss. Auch erachte ich eine Entscheidungsfindung in öffentlichen Angelegenheiten nach schweizerischem Muster mit Absprachen, Kompromissen und Verständigung unter Parteien und gesellschaftlichen Interessensverbänden nicht als eine defizitäre und korrupte Politik, sondern geradezu als eine Voraussetzung für das, was man einmal die „gentle society“ genannt hat: eine Gesellschaft, in welcher die Beteiligten freundlich, respektvoll und tolerant miteinander umzugehen verstehen. Zudem entdecke ich mit Freude, dass die Sorgfaltspflicht im Umgang mit dem Leben und mit der Natur in der Schweiz wie im benachbarten Europa im Wachsen begriffen ist: ein Phänomen, das die Zugehörigkeit zur engeren Heimat bestärkt und die Zukunft des eigenen Landes in einem lebensfreundlichen Licht zeigt.
Dennoch wünsche ich mir, dass die Eigenheiten, Schrulligkeiten, Sonderbarkeiten und Widerborstigkeiten der Schweizerinnen und Schweizer möglichst lang erhalten bleiben. Ich bin dankbar und froh um gewisse helvetische Tugenden, welche Skepsis, Langsamkeit, Sparsamkeit, Beharrlichkeit und Unaufgeregtheit heissen. Man muss nicht bei jedem vorbeifahrenden Zug zum Trittbrettfahrer werden im Wahn, man verpasse ansonsten den Fortschritt. Man darf am Bestellen des eigenen Gartens weiterhin seine Freude haben. Wer das Eigene vernachlässigt und missachtet, ist nicht in besonderer Weise befähigt, sich um das Fremde zu kümmern. Man muss vielleicht doch zuerst ein Patriot sein, bevor man ein Weltbürger werden kann.
Im Bündnerromanischen gibt es einen besonderen Gruss, der „Allegra!“ heisst. Das ist ein Wort, das man braucht, wenn man in einem Dorf des Engadins einem freundlichen Gesicht begegnet. Begrüssungsformeln sind konventionell. Doch gleichzeitig bezeichnen sie fürs Ohr ziemlich genau, wo man sich gerade befindet. Wer „Grüezi“ hört, täuscht den anderen geographisch meistens nicht. Zwar unterliegen auch die lokal üblichen Begrüssungsformeln gewissen Globalisierungen. Ciao, in Italien ursprünglich ein Abschiedsgruss, dem das Wort „schiavo“ zugrunde liegen soll, eignet sich in Nachbarländern auf einmal auch zur Begrüssung. So wie: Hai! Hoi! Salü! Servus! Tschüss! – Begegnung oder Verabschiedung: das geht heute ziemlich kunterbunt durcheinander. An den Unterwerfungsgestus denkt niemand, der sich mit Ciao oder Servus verabschiedet. Es ist beinah schon eine Frage des persönlichen Stils, welche Formel man sich zur eigenen macht.
In besonderer Weise schweizerisch ist meine Wahrnehmung, wenn mich jemand mit „Allegra!“ begrüsst. Das passiert zwar nicht schweizweit, doch stellt sich, wo immer ich es höre, ein schönes Heimatgefühl bei diesem Wort ein. Streng genommen ist es ja nur im Engadin und einigen Nachbartälern gebräuchlich, und zwar in der Zeitspanne, wo der Morgen vorbei und der Abend noch nicht angebrochen ist. Wie die meisten Begrüssungsformeln stammt auch diese aus der Kotauhaltung gegenüber einem „in höherer Stellung vermuteten Wesen“. Hier ist es sogar der liebe Gott höchst persönlich. Denn ursprünglich lautete die Formel: „Dieu t’allegra!“ – „Gott soll dich erfreuen!“ Inzwischen hat sich Gott aus dem Vorstellungsvermögen der einander Grüssenden ins nicht mehr Wahrnehmbare zurückgezogen. Geblieben ist aber die schöne Mitteilung, dass man die zufällige Begegnung mit einem Zeitgenossen als eine Freude empfindet, und vielleicht eine gewisse Erwartung, dass es dem Gegenüber ebenso ergehe.
Charakteristisch für diesen Gruss jedoch ist die in ihm verborgene demokratische Grundhaltung. Wer „Allegra“ sagt, hat mit Herr und Knecht, mit Unterwerfung und Huldigung nichts am Hut. Im Wörterbuch des Bündnerromanischen heisst es über diesen Gruss: „Er wird vornehmlich zwischen sozial gleichgestellten Personen gewechselt.“ Wenn sich sogar der liebe Gott vornehm zurückgezogen hat aus dem Begegnungsritual der Bergler, ist an der demokratischen Qualität des Grusses nicht zu zweifeln!
In diesem Gruss kommt aber etwas Weiteres, noch Wichtigeres zum Vorschein. Die meisten von uns kennen das Wort aus der musikalischen Sprache. Mit einem „Allegro“ beginnen viele Musikstücke, und viele enden auch damit. Das bedeutet tempomässig nicht einfach „schnell“. Gemeint ist mehr eine bestimmte Haltung des Voranschreitens. Es kann dies heissen: bewegt, beschwingt, heiter, fröhlich, unbeschwert, freudig voran. Ein Musiker macht zwischen einem Allegro sostenuto und einem Allegro appassionato oder gar frenetico grosse Unterschiede. Wie immer er voranstürmt, leidenschaftlich drängend oder unbelastet beschwingt, etwas darf dabei jedoch niemals fehlen. Es ist die Freude darüber, dass man vom Fleck kommt, dass es voran geht, dass Aufbruch, Erwartung, neue Ziele angesagt sind. Ein Allegro ohne diese Dimension ins Offene und erst Erstrebte wäre kein richtiges. Jedes Allegro muss eine Spur freudiger Erwartung der zu bewältigenden Wegstrecke gegenüber ausstrahlen. Sonst stimmt etwas nicht.
Die Schweiz ist ein schönes, durch viele günstige Lebensbedingungen geprägtes Land. Schweizer und Schweizerinnen gelten als zurückhaltende, ernste, unaufgeregte und eher scheue Naturen. Ihre Lebensfreude ist ihren Gesichtern keineswegs an jedem Ort und zu jeder Tagesstunde abzulesen. Nun trifft man jemand, der einem sagt: „Allegra!“ Und damit sagt: Du hast allen Grund, dich zu freuen! Sei heiter! Hab es leicht! Beweg dich vergnügt und lustvoll voran! Sei kein Kind von Traurigkeit! Frisch auf! Munter weiter! Es soll dir dabei gut gehen! – Was für ein schöner Gruss! Nur schade, dass so wenige Leute Bündnerromanisch verstehen!