Emotionale Landschaften der Migration: Von unsichtbaren Grenzen, Nicht-Ankommen und dem Tod in Stanišićs Herkunft und Varatharajahs Vor der Zunahme der Zeichen / by Joscha Klueppel | TRANSIT

Emotionale Landschaften der Migration: Von unsichtbaren Grenzen, Nicht-Ankommen und dem Tod in Stanišićs Herkunft und Varatharajahs Vor der Zunahme der Zeichen

TRANSIT vol. 12, no. 2

Joscha Klueppel

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Abstract

Dieser Artikel untersucht die literarische Figuration und Wirkung von emotionalen Landschaften der Migration sowie ihre Schnittpunkte mit geographischen Landschaften anhand der Romane Herkunft (2019) von Saša Stanišić und Vor der Zunahme der Zeichen (2016) von Senthuran Varatharajah. Aufbauend auf dem in der aktuellsten Transit-Ausgabe erarbeiteten Verständnis von „landscapes of migration“ als „changing assemblage of geographical, physical, and imaginary entities“, erweitert dieser Artikel dieses Verständnis durch eine Fokussierung auf emotionale Aspekte von Landschaften der Migration. Literarische Landschaften der Migration entstehen dabei durch ein Wechselspiel unterschiedlicher Faktoren: unsichtbare Grenzen innerhalb des Individuums (Scham), zwischen Individuum und Familie (Entfremdung), zwischen Individuum und Gesellschaft (Rassismus), welche durch ein in-between, ein fortwährendes Nicht-Ankommen charakterisiert sind; der scheinbare Kontrast von detailreicher, ausgeschmückter Vergangenheit und der Verortung im Hier und Jetzt der Gegenwart; der Tod als Fundament der Lebensrealität. Stanišićs neuester, sehr persönlicher Roman und Varatharajahs Debütwerk gehen unterschiedlich vor, aber ihre emotionalen Migrationslandschaften weisen ähnliche Strukturen und Charakteristika auf. Ob temporal, psychisch oder physisch, die Möglichkeiten des Ankommens werden durch unsichtbare Grenzen suspendiert, das Leben findet in einem Zustand des Nicht-Ankommens statt. Dieses Nicht-Ankommen ist das singuläre Erlebnis der Landschaften der Migration, auf das sowohl Stanišić und Varatharajah verweisen und das sich in allen genannten Aspekten niederschlägt.


„Bin das noch ich?“, fragt sich Saša Stanišić am Ende seines Romans Herkunft (2019). Dieser Frage vorausgegangen war eine Erkundung von Herkunft und ihrer Auswirkung auf das Individuum. Der 1978 in Bosnien geborene Autor lässt die Frage sowohl für sich selbst als auch für den Leser unbeantwortet. Denn das Individuum kann sich nicht verorten und ist physisch wie mental zwischen zwei Fixpunkten gefangen. Radikaler noch als Stanišić formuliert Senthuran Varatharajah dieses Gefühl. Varatharajah, geboren 1984 in Sri Lanka, schrieb 2018 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung: „Das Wort Heimat gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Dieses Wort hat keine Bedeutung für mich.“ Einerseits beschreibt Varatharajah damit das inhärente Resultat einer gewaltsamen Vertreibung aus dem Geburtsland. Allerdings floh Varatharajahs Familie bereits in seinen ersten Lebensjahren mit ihm nach Deutschland. Insofern ist seine Aussage auch als Verurteilung einer Gesellschaft zu verstehen, die ein Ankommen nicht ermöglicht. Sowohl Stanišić als auch Varatharajah thematisieren das Ankommen und dessen kontinuierliche Aufschiebung. Ihre Erzählungen von der Ankunft in Deutschland und davon in der Liminalität zwischen Geflüchtetem, Anderem (the other[1]) und deutschem Staatsbürger eine Identität zu finden, sind Ausdruck der Grenzen innerhalb eines gespaltenen gesellschaftlichen Selbstverständnisses: Einerseits sind sich viele des Werts der kulturellen Vielfalt bewusst, andererseits jedoch treffen viele Menschen auf Ignoranz, Benachteiligung oder ganz unverhohlenen Rassismus. Diese unsichtbaren Grenzen prägen die emotionalen Landschaften der Migration – so die These dieses Artikels.

Im Folgenden sollen diese unsichtbaren Grenzen anhand der Beispiele von Stanišićs Herkunft und Varatharajahs Debüt Vor der Zunahme der Zeichen (2016) aufgezeigt, ihre Problematik für ein Zusammenleben analysiert und die Wichtigkeit ihrer literarischen Aufarbeitung in der Migrationsliteratur verdeutlicht werden. Dabei werden mehrere Facetten der emotionalen Migrationslandschaft untersucht: Die unsichtbaren Grenzen innerhalb der Familie, verbunden mit Nicht-Ankommen, Scham und Sprache; die unsichtbaren Grenzen in der Gesellschaft, die sich insbesondere durch Rassismus und der damit verbundenen Ausgrenzung manifestieren; der Versuch der Verortung zwischen Vergangenheit und Gegenwart; und der Tod als fundamentale Lebensrealität. Stanišićs und Varatharajahs Romane eignen sich hierfür aus mehreren Gründen. Zum einen können beide durch ihre thematische Relevanz[2] eine breite Leserschaft innerhalb der kulturellen Mehrheit erreichen. Zum anderen beleben beide Autoren die deutsche Sprache durch ihre sprachliche Kreativität, verbinden dabei Lesevergnügen mit kritischer Auseinandersetzung.[3] Das kann durchaus symbiotisch wirken und die Reflektion der Leserschaft verstärken. Wenn man Stanišićs Sprachfreudigkeit und fantasievoller Erzählung über hunderte von Seiten folgt und dann auf den folgenden Satz stößt, mag es im ersten Moment wie eine humorvolle Überzeichnung erscheinen. In der Reflektion wirkt er aber gerade aufgrund der vermeintlichen Überzeichnung umso stärker: „Ich erzähle, wie wir ein Lamm am Spieß grillen im Wald und eine Spaziergängerin mit Dackel sich erkundigt, ob das ein Hund sei, den wir braten” (Stanišić, 345). Beim erstmaligen Lesen kann das durchaus humoristisch verstanden werden. Doch scheint das Lachen vielmehr dem Selbstschutz und der Distanzierung vom eigenen Entsetzen zu dienen. Gerade an solchen Punkten sind Stanišić und Varatharajah in der Lage, die Distanz zwischen Text und Leser zu durchbrechen. Denn sie teilen Erfahrungen mit denen, die selbiges erleben und schärfen das Bewusstsein für unsensible, verletzende und oftmals rassistische Aussagen und Verhaltensweisen der kulturellen Mehrheit, für die ein solcher Satz Witz und nicht Lebensrealität ist. Sie machen Grenzen sichtbar. Vor der Analyse der beiden literarischen Werke soll jedoch ein Verständnis der emotionalen Migrationslandschaft dargelegt werden.

Während man unter Migrationslandschaften durchaus geographische Momentaufnahmen wie beispielsweise Auffanglager im griechischen Lesbos verstehen kann, ist der Begriff vielschichtiger, wie Michael Sandberg und Molly Krueger im Vorwort zur Transit-Ausgabe „Landscapes of Migration“ (Volume 12, Issue 1) schreiben: Migrationslandschaften untersuchen, wie sich demografische und politische Veränderungen auf „mediascapes, memoryscapes, and the increasingly tenuous notion of geographic boundaries“ auswirken. Während ein solcher Aspekt sicherlich auch im Begriff der emotionalen Migrationslandschaft mitschwingt, soll der Begriff jedoch vielmehr als sozialgesellschaftliche Metapher verstanden werden: als Ansammlung von Hindernissen und Problemen, als institutionelle und soziale Grenzen, als Fluchterfahrung und Versuch der Ankunft. Emotionale Migrationslandschaften sind Elemente der Lebenserfahrung, denen Migranten in verschiedenen Ausfärbungen begegnen. Dabei legt dieser Artikel den Fokus auf Charakteristika der Migrationserfahrung, die gesammelt und in ihrer Individualität als emotionale Migrationslandschaft verstanden werden sollen. Vor der literarischen Analyse folgt eine kurze Einführung in beide Autoren und Werke sowie eine theoretische Konzeptualisierung des Grenzverständnisses.

Saša Stanišićs Herkunft ist ein persönliches Buch. Der im bosnischen Višegrad geborene und seit 1992 in Deutschland lebende Autor schreibt von Flucht, von verzögerter Ankunft, von dem Aufwachsen in einem fremden Land und einem Geburtsland, das nicht mehr existiert. Was damals Teil Jugoslawien war, ist heute Bosnien und nicht mehr Satellitenstaat eines transnationalen, kommunistischen Gebildes. Dabei springt das Narrativ zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Als Leitfaden dienen Besuche in Višegrad bei der demenzerkrankten Großmutter sowie in Oskoruša, dem Geburtsort des Großvaters. Während Stanišićs Roman oftmals autobiographische Züge annimmt, ist Senthuran Varatharajahs Erstlingswerk Vor der Zunahme der Zeichen eine moderne Form des Briefromans[4]. Dieser simuliert ein Facebook-Gespräch zwischen zwei Charakteren: Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi. Als sie sehr jung waren, floh Senthils Familie aus Sri Lanka, Valmiras aus dem Kosovo. Obwohl sich die beiden nicht kennen, schlägt die Plattform Senthil vor, er könne Valmira über einen gemeinsamen Freund kennen. Gut eine Woche lang schreiben sie miteinander, ohne sich je zu treffen. Aber sie schreiben gerade deswegen – in einer virtuellen, doch nicht minder realen Begegnung zweier, die sich selten verstanden fühlen, nun aber gerade dieses Verständnis zu finden hoffen. Deutlich wird das unter anderem in Valmiras wiederholter Aussage „Ich weiß nicht, warum ich Dir das erzähle“ (Varatharajah, 24), auf die jedoch jedes Mal eine weitere Erzählung folgt.

Unsichtbare Grenzen

Eine Konzeption von Grenzen bietet im Folgenden den theoretischen Rahmen für die Analyse von Herkunft und Vor der Zunahme der Zeichen. Jede Landschaft hat Grenzen und jeder Mensch, der migriert, stößt auf Grenzen. Dabei kann es sich um Grenzen zwischen Städten, Landkreisen, Bundesstaaten oder Ländern handeln, aber auch um Grenzen zwischen Menschen. Landschaften, insbesondere die der Migration, werden von Grenzen gekennzeichnet, unterteilt und unterbrochen. In seinem Buch What is a Border? (2018) schreibt der Politikwissenschaftler und Historiker Manlio Graziano: “Borders are not the same for everyone” (36). Dabei kann es an einem Grenzübergang bereits einen Unterschied machen, ob man einen Ausweis oder Reisepass hat und welches Land das Dokument ausgestellt hat. Grenzen sind also einerseits eine staatliche Institution, mit der sich jede Person auseinandersetzen muss, wenn sie ihnen begegnet. Gleichzeitig sind sie aber auch individuell, da sie für bestimmte Personengruppen unterschiedlich wirken.

Der Geopolitik-Experte Graziano unterscheidet in seinem Buch zwischen sichtbaren und unsichtbaren Grenzen: „Migrants must deal with two types of boundaries: the visible, official borders that separate states from each other and the invisible, albeit no less effective, borders that internally segment states, regions, cities, and neighborhoods. Invisible boundaries are by far more numerous than visible ones” (34). Graziano entwirft jedoch einen generellen Überblick über Grenztypen und geht hinsichtlich der unsichtbaren Grenzen nicht ins Detail. Folglich muss mit Blick auf die persönlichen Erfahrungen eines Autors oder einer fiktiven Figur spezifischer gedacht werden. Bereits in den 1990er Jahren entwickelte der französische Philosoph Étienne Balibar das Konzept der frontière intérieure, der internen Grenzen. Balibars Terminus ist jedoch ambivalenter als Grazianos, da er nicht von einer klaren Dichotomie zwischen internen und externen Grenzen spricht: “This ambivalence begins with the fact that borders are in fact both internal and external, or subjective and objective, i.e. imposed by state policies, juridical constraints, control over human mobility and intercourse, but also deeply rooted in collective identification and the assumption of a common sense of belonging” (316), so Balibar 2010 in „At the Borders of Citizenship”. Einerseits versteht Balibar Grenzen als relevant für Gruppenidentitäten und für „the assumption of a common sense of belonging.“ Denn Grenzen, extern wie intern, werden gesetzt, um das Innere der Grenze einer Gruppe zuzuordnen – so funktionierte bereits in der Vergangenheit die Erschaffung von Nationen. Andererseits betreffen interne Grenzen laut Balibar aber auch das Individuum. Sie fungieren „as expressions of the very constitution of the subject“ (63, 1990). Durch Grenzen bestimmen sich Individuen als einer bestimmten Gruppe zugehörig, sprechen aber auch anderen diese Zugehörigkeit ab. Implizit versteht auch Graziano unsichtbare Grenzen als ein Konzept, das sowohl das Individuum als auch die Gruppe und eine politische Institution betrifft. Balibar evoziert zudem Foucaults Idee der Heterotopie. Er schreibt: “I prefer to consider in Foucauldian terms that the border as such is a heterotopia […], i.e. both a place of exception where the conditions and the distinctions of normality and everyday life are ‘normally suspended’, so to speak; and a place where the antinomies of the political are in a sense manifested and become an object of politics itself” (316, 2010, Kursivierung von Balibar). Zusammenfassend teilen interne und unsichtbare Grenzen folgende Charakteristika. Erstens sind sowohl Grazianos unsichtbare als auch Balibars interne Grenzen wortwörtlich unsichtbar insofern sie zum Beispiel durch Abweisung oder Ausgrenzung nur spürbar und daher schwer zu erkennen und folglich zu dekonstruieren sind. Zweitens sind sie identitätskonstituierend: Grenzen teilen Individuen in Gruppen, die nicht immer homogen sein müssen und kreieren Identitäten entweder durch Partizipation oder durch Ausgrenzung. Denn wie im Laufe des Artikels gezeigt wird, kann eine beständige Entfremdung Teil einer Identität werden. Drittens finden wir in Balibars Verständnis der focaultischen Heterotopie einen gewinnbringen Ansatz für unser Grenzverständnis: einerseits sind interne Grenzen ein sozial erschaffener Raum, in dem Normalität aufgehoben ist, sprich etwas nicht der Norm entspricht (oder vielmehr nicht entsprechen darf oder kann). Andererseits aber sind sie auch ein Raum, der immer politisch ist (die Grenzen „become an object of politics itself”), wodurch das Individuum in diesem Raum unweigerlich politisch ist. Vor der Analyse möchte ich noch kurz auf die Beziehung zwischen politischer Theorie (Balibar) und Literatur (Stanišić, Varatharajah) eingehen. Einerseits kann die Spezifizität von literarischen Werken die Stichhaltigkeit politischer Theorie testen. Andererseits kann Literatur natürlich politische Theorie zugänglicher machen, da deren Allgemeingültigkeit durch spezifische Erfahrungen kontrastiert werden – wie im Folgenden gezeigt wird.

Unsichtbare Grenzen in der Familie: Nicht-Ankommen

Im Folgenden soll das erarbeitete Verständnis von internen und unsichtbaren Grenzen durch die Texte Vor der Zunahme der Zeichen und Herkunft sichtbar gemacht werden. Bei Varatharajah und Stanišić sind unsichtbare Grenzen sowie eine Rastlosigkeit zwischen dem Versuch und der Unmöglichkeit der Ankunft ein zentrales Motiv. Gleichzeitig treffen die Charaktere auf unsichtbare Grenzen sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. Auch wenn im Artikel durchläufig der Begriff der Grenzen verwendet wird, manifestieren sie sich auf unterschiedliche Art und Weise. Im familiären Bereich lassen sie sich metaphorisch verstehen, um die Spannungen zwischen den Generationen zu verbildlichen. Auf der Ebene einer Nation ist der Begriff aber vielschichtiger. Auch innerhalb ganzer Bevölkerungsgruppen gibt es Spannungen, die aber in der Realität oftmals auf das Individuum zurückgeworfen werden.[5] Andererseits sind unsichtbare Grenzen auf nationaler Ebene immer institutionell bedingt: durch Erziehung, durch fehlende Bildung, durch fehlende Unterstützung, durch Versagen der Gesetze und der Bürokratie, durch fehlende Maßnahmen. Darin unterscheiden sie sich am deutlichsten von den internen Grenzen innerhalb der Familie.

In Vor der Zunahme der Zeichen bildet sich das Verständnis des Sohnes (Senthil) beziehungsweise der Tochter (Valmira) für die Aufopferung der Eltern erst rückblickend. Diese mussten gezwungenermaßen die Heimat und das geregelte Leben hinter sich lassen und sind zwischen dem Wunsch zurückzukehren und dem Bewusstsein der Unmöglichkeit innerlich zerissen. Senthil schreibt über die Aufopferung der Eltern: „wir wussten nichts davon. wir wussten noch nichts davon. was wissen wir schon davon. wir werden nichts davon gewusst haben” (Varatharajah, 210).[6] Und in einer schrecklichen Finalität meint er: „aber sie blieben, sie bleiben und sie werden geblieben sein, bis zum ende” (226). Gründe des Verbleibs sind einerseits die zerstörte Heimat, andererseits die Kinder. Valmira erzählt Senthil: „Als ich [meiner Mutter] davon erzählte, dass ich ein Semester im Ausland verbringen möchte, sagte sie, aber Du bist doch schon im Ausland.” Sie fügt hinzu: „Wenn sie mit meiner Tante und meinem Onkel spricht, sagt sie bei uns im Kosovo, bei uns in Prishtina, bei uns zu Hause” (225). Denn die Kinder leben in Deutschland und die Heimat der Eltern ist nur noch in Erinnerungen vollständig, in der Realität jedoch vergangen und zerstört. Wenn Ernst Bloch 1985 in „Schöne Fremde“ schreibt, dass jede Reise freiwillig sein muss, um zu vergnügen,[7] dann lässt sich das Prinzip der Freiwilligkeit auch auf das Verlassen der Heimat anwenden. Zweifellos ist die Freiwilligkeit kein Garant dafür, sich heimisch zu fühlen. Der Zwang jedoch ist ein Garant, dass dies gerade nicht der Fall ist.

Auch auf temporaler Ebene wird dies schmerzlich wahrgenommen. Pascale Baligand bezeichnet dieses Gefühl in seinem Artikel „Migration Crisis and Social Trauma” als „Traumatic Temporality“ (843) und schreibt: “It is not only a spatial and subjective vagrancy that asylum-seekers experience. Their relationship with time is also altered, as the ‘migrant crisis’ signals the social and subjective construction of a position ‘outside time’ for migrants” (Ibid.). Diese Temporalität drückt Senthil schlicht folgendermaßen aus: “die zeit fängt nicht an” (Varatharajah, 85). Sie verstärkt das Gefühl der Aufschiebung des Ankommens, der Akzeptanz, der Legalität. Mit einem sehnsüchtigen Auge wird in die Vergangenheit geschaut, „bei uns in Prishtina.” Es wird ein erinnerungsgeladener Ort kreiert, für den es keinen Platz in der Realität gibt.[8] Da zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit bestand, selbst die Entscheidung zu treffen, diesen Ort zu verlassen, fühlt man sich ihm noch verbunden. Insofern wird durch die Flucht auch eine Art temporale Grenze errichtet. Nach Baligand ist sie durch eine veränderte Wahrnehmung im Zusammenhang mit der Flucht definiert, verhindert jedoch ebenso wie interne Grenzen das Ankommen.

Ohne Wahl, ohne Wertschätzung, gefangen zwischen Kulturen und Sprachen, ist es für die Eltern sehr schwierig. „Wir waren Nummern”, schreibt Valmira über die Zeit im Asylbewerberheim (68), kurz nach der Ankunft in Deutschland. Während sie jedoch der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufwächst und zur Schule geht, bleiben die Eltern stets Nummern. Das wiederum bringt die Kinder in eine Dilemma-Situation. Sie sind gefangen zwischen den Kulturen und Sprachen der Eltern und des Landes, in dem sie aufwachsen. Mit dem Lernen der neuen Sprache und der persönlichen Entwicklung entfernen sich die Kinder unweigerlich von den Eltern. Sie internalisieren bestimmte Werte und sprechen Deutsch besser als ihre Muttersprache, was bei den Eltern selten der Fall ist. Jonas Teupert schreibt in seinem Artikel „Sharing Fugitive Lives“ (2018) treffend: „Having mostly grown up in Germany, Senthil and Valmira immerse in the German language in a way that threatens to erase the memory of their homeland” (11). Diese Spannungen führen innerhalb der Familie zu unsichtbaren Grenzen, die den Kindern wiederum das Ankommen erschweren: „Ich erinnere mich daran, dass ich in dieser Zeit, als ich die Schule besuchen durfte, bereits etwas Deutsch sprach, das, was mein Onkel und meine Tante mir beigebracht und ich im Fernseher gehört hatte, und dennoch dachte ich damals, dass ich keine Sprache besaß und stumm bleiben musste, bis zum Ende” (Varatharajah, 74). Onkel und Tante sind dabei jedoch ein deutsches Ehepaar, das der Familie nach ihrer Ankunft in Deutschland geholfen hat. Das zeigt wiederum, dass die deutsche Sprache Valmira von ihren Eltern trennt, wird sie doch durch zwei eigentlich Fremde oder zumindest nicht durch Familienmitglieder gelehrt. Vielmehr noch werden die Fremden fast zu einer Art deutschen Ersatzfamilie, was durch die Bezeichnungen „Tante“ und „Onkel“ verdeutlicht wird.

Zwei Aspekte fallen hier ins Auge: Einerseits charakterisiert die Verwendung des Modalverbs „dürfen” Schule als etwas, wofür Valmira einer Erlaubnis bedurfte.[9] Die Nutzung des Modalverbs „musste“ andererseits impliziert die Befürchtung, die Sprache nicht angemessen lernen zu können sowie das Bewusstsein, stumm bleiben zu müssen, um Diskriminierung zu entgehen. Zudem drückt es das Gefühl aus, zwischen den Sprachen Deutsch und Albanisch, sprachlos (Sprachfähigkeit) und sprachenlos (ohne Sprache) zu sein. Denn die deutsche Sprache ist eine konstante Erinnerung an die Flucht, an den Versuch der Ankunft, an den Verlust der Heimat. Wie Teupert schreibt: „The crossing of a linguistic border […] cannot be conceptualized as a singular event. Migrants keep experiencing the crossing of borders in their very own speech” (Teupert, 13). Jeder sprachliche Fehler, jeder bohrende Blick aufgrund eines Akzents, jede Diskrepanz zwischen den beiden Sprachen kann das Gefühl verstärken, nicht angekommen zu sein.

Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Sprache und Scham

Im Zusammenhang mit Migration, Flucht und folglich auch Migrationsliteratur ist es relevant, Emotionen grundlegend zu verstehen. So befasste sich 2015 eine Sonderausgabe des Journals Emotion, Space, Society mit der Schnittstelle zwischen Migration und Emotionen. Im einführenden Artikel argumentieren Paolo Boccagni und Loretta Baldassar, dass die Analyse von Emotionen dabei helfen kann, “a more nuanced and multifaceted understanding of immigrant integration” (76) zu bieten.[10] Meiner Auffassung nach ist es für den Prozess der Migration am wichtigsten, Emotionen als eine “’grammar of social living’ that situate the self within a social and moral order” (Keltner, 133) zu verstehen. Emotionen “act like a bridge over ‘the liminal space between the individual and the social’” (Boccagni, Baldassar, 74). Im Migrationsprozess hat insbesondere die Schuld eine enorme Präsenz. Baldassar verdeutlicht die Wirkungskraft der Schuld anhand der folgenden Worte eines nach Italien gekommenen Mädchens: “Guilt, guilt, guilt is what all migrants face!” (81). Schuld, so Baldassar, “is primarily theorized as largely or entirely linked to private self-consciousness” (81). Auch wenn Schuld in erster Linie ein “intrapsychic process” (81) ist, können Ereignisse das Gefühl hervorrufen. Schuld wird vor allem als Reaktion auf ein persönliches Versagen wahrgenommen, beispielsweise wenn man ein Versprechen nicht eingehalten hat. Gleichzeitig funktioniert Schuld aber auch wie die von Keltner et al. beschriebene Anpassungsmethodik, nach der zukünftige Ereignisse gezielt gesteuert werden sollen. Das Gefühl der Schuld soll dazu beitragen, dass ich bei der nächsten Gelegenheit anders handle. Während Baldassar und Boccagni Schuld korrekterweise als relevant im Migrationsprozess analysieren, wird die Emotion der Scham vernachlässigt. Dabei zeigen jedoch sowohl Varatharajahs wie auch Stanišićs Roman Beispiele beider Emotionen. Während Schuld häufig als Reaktion auf eine moralische Verfehlung theoretisiert wird, wird Scham häufig als Reaktion auf eine externale Verfehlung verstanden: “Shame […] is likely to arise also from non-moral situations, such as when one shows incompetence, fails in a performance, or behaves in a socially inappropriate way” (Pivetti 3). Interessanterweise verweist Ruth Leys in ihrem Buch From Guilt to Shame (2007) darauf, dass Scham mittlerweile die Emotion ist, „that for many investigators most defines the condition of posttraumatic stress” (13-14). Es gibt zahlreiche Studien, die nahelegen, dass posttraumatische Störungen bei Migranten und Flüchtlingen überproportional auftreten,[11] was wiederum die Wichtigkeit der Einbeziehung von Scham in eine Analyse von Migration untermauert. Dabei, so die neuere Forschung, unterscheiden sich Schuld und Scham nicht so deutlich, wie vor einigen Jahrzehnten noch angenommen. „[C]ontemporary emotion research shows there to be small quantitative differences between shame and guilt, rather than the dramatic qualitative differences suggested by conceptualizing them as opposites” (5), schreibt Colin Wayne Leach in seinem Artikel “Understanding Shame and Guilt” (2017): “In fact, shame and guilt are more alike than different” (5). Nichtsdestotrotz sollen in der folgenden Analyse Scham und Schuld nicht als Synonyme verstanden werden, sondern vielmehr als zwei starke emotionale Reaktionen auf Erlebtes während, auf Grund und nach der Migration.  Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie präsent sowohl Schuld als auch Scham bei Stanišić und Varatharajah sind, insbesondere in Verbindung mit Sprache und Sprachlosigkeit.

In Vor der Zunahme der Zeichen werden die Kinder zu den Lehrern der Eltern, was eine Umkehrung der familiären Hierarchie darstellt. Valmira, beispielsweise, bringt ihrer Mutter Deutsch bei und verweist gleichzeitig subtil auf den erlebten Rassismus:

Ich erklärte ihr die Bedeutung von Schmutz, einmal, indem ich es übersetzte, ndyrasi heißt es auf Albanisch, und anhand eines deutschen Beispielsatzes, meine Mutter sprach ihn mir nach. Sie wusste, dass ich es heute nicht zum ersten Mal gehört hatte, auch sie kannte es schon lange, lange genug. (Varatharajah, 72)

Der Konflikt zwischen Gegenwart und Vergangenheit manifestiert sich am deutlichsten in der Sprache. Valmira erzählt, dass ihr Vater glaube, „immer, wenn ich Kosovo statt Kosova sage, würde ich den serbischen Anspruch auf das Land wiederholen. Kosovo heißt nicht nur im Deutschen Kosovo. […] Mein Vater sagt immer, ich würde unsere Sprache verraten. Er sagt, alles hinge an diesen Zeichen. Wir müssen uns zwischen den Zeilen und Zeichen erraten” (152-153). Valmiras Wortspiel (verraten – erraten) ist ein weiterer Hinweis auf die Schwierigkeit der Identitätssuche anhand von Sprache. Sie selbst sieht keinen klaren Weg, weswegen sie bestenfalls zwischen “den Zeilen und Zeichen erraten” kann. In anderen Worten: Es gibt für sie keine Sicherheit. Senthil greift dieses Wortspiel mit der Wiederholung des Verbs “verraten” auf und spricht damit aus, dass es scheinbar keine richtige Lösung gibt. Die eine Sprache grenzt die Eltern aus und dadurch Senthil von ihnen ab. Die andere Sprache grenzt ihn wiederum von der Möglichkeit der Integration aus.  Senthils Antwort an Valmira spricht Bände: „wir werden uns zwischen den zeilen und zeichen verraten” (153). Kein Konjunktiv, den Senthil so häufig benutzt, keine Optionalität, sondern garantierte Zukunft: Verrat. Und damit Scham. Impliziert ist, dass sie sich selbst verraten und entweder den Teil von sich selbst, der außerhalb der Familie aufgewachsen ist, unterdrücken müssen oder der Sprache und Kultur der Eltern womöglich nicht den Raum bieten können, durch den diese sich geschätzt fühlen. Ein Familienfreund aus Sri Lanka, der ebenfalls in Deutschland lebt, „ging zu meinem vater und sagte, deine kinder sind das ende unserer sprache” (154). Die Eltern sind gefangen zwischen einem geographischen ‘hier’, das keinen Platz für sie hat, und einem emotionalen, vergangenen ‘hier’, das unerreichbar ist. Die Kinder hingegen entwickeln Schuldgefühle, obwohl sie weder die Sprache noch das Überleben in der neuen Umgebung verschuldet haben. Weder Varatharajah noch Stanišić schreiben von Vorwürfen der Eltern. Doch Schuld ist nicht rational. Denn auch Stanišić erzählt von Schuld, nennt diese sogar einen Motivationsgrund für das Geschichtenschreiben:

Ich brauche niemandem zu erklären, warum ich dort, wo ich herkomme, nicht mehr bin. Es kommt mir vor, als würde ich genau das aber immerfort tun. Fast entschuldigend auch. Auch mir selbst gegenüber. Es kommt mir vor, als stünde ich wegen der Geschichte dieser Stadt, Višegrad, und wegen des Glücks meiner Kindheit in einer Schuld, die ich mit Geschichten begleichen muss. Es kommt mir vor, als meinten meine Geschichten diese Stadt sogar dann, wenn ich nicht über sie schreiben will. (193)

Gleichzeitig schreibt er über das Gefühl, die Lebensrealität der Eltern nicht verstehen zu können. „Anders als mich die Schule führte die Arbeit meine Eltern an die Ränder des sozialen und körperlich ertragbaren Lebens. […] Mutter starb tausend heiße Tode in der Wäscherei. Als nicht-deutsche Frau, vom Balkan gar, stand sie auf der untersten Stufe der Beschäftigungstrittleiter, und das ließ man sie auch spüren” (150). Sowohl in seinem Debüt (Wie der Soldat das Grammofon repariert, 2006) als auch in Herkunft erfahren wir von weinenden Eltern – eine Verletzbarkeit, die Eltern in Kindesaugen meist gar nicht besitzen (sollen). Ähnlich wie bei Senthil und Valmira sind Aussagen des Verständnisses jedoch nur in der Retrospektive und mit zeitlichem Abstand möglich. Stanišić spricht das in aller Deutlichkeit aus: „Ich kann nicht sagen, ob es gut gewesen ist, nicht zu wissen, was die beiden damals umtrieb und quälte. Oder, anders gesagt, ob es gut gewesen ist, davon auszugehen, dass es um sie besser stand, als es wirklich der Fall war. Um ihre Ängste und unsere Finanzen und grundsätzlich das Glück in diesem deutschen Leben” (181). Seine Wortwahl verdeutlicht die forcierte Spaltung des Lebens der Eltern in ein Leben vor der Migration und ein „deutsche[s] Leben.”[12] Stanišić bezeichnet sowohl seine Kindheit als auch das Erlebte der Eltern als Dissonanz: „Meine Kindheit lässt sich nicht anders als dissonant erzählen. […] Meine Mutter erlebt und verarbeitet die Dissonanz noch eine Spur intensiver. In Višegrad ist sie eine andere Person. Schreckhafter und launischer, und albern nie. Mutter schläft schlecht, Mutter kichert nicht mehr in Višegrad” (193). Zwischen zwei harschen Realitäten gibt es nur das Klammern an positive Erinnerungen, zumindest für Stanišić selbst. Doch auch dieses Mittel steht der Mutter nicht zur Verfügung: „Das, was ihr fehlt, ergänzt sie heute nicht mit Erinnerungen wie ich” (117).

Diese Grenzen führen, so Stanišić, zu einer „Disparatheit, die über Jahre mitbestimmt hat, wo ich bin: so gut wie niemals dort, wo Familie ist” (65). Er hat Familie in Bosnien, in den USA, in Frankreich und lebt selbst in Deutschland. Mehr als Varatharajah macht Stanišić deutlich, wie stark sich geographische und emotionale Grenzen überschneiden:[13] Sie bilden eine disparate Landschaft, die ebenso gefühlt und erlebt wie auf einer Karte markierbar ist.

Inmitten der vielen, oft negativen Emotionen, die Disparatheit hervorrufen, ist es immer wieder die Scham, die in einem Teufelskreis zu diesen Grenzen steht. Weil die Grenzen bestehen, verspüren die Protagonisten Scham. Durch die Scham verstärken sich die Grenzen, da beispielsweise kleine sprachliche Fehler sehr stark wahrgenommen werden und lieber in Folge nichts gesagt wird. In ihrer Rezension von Varatharajahs Debüt für die Süddeutsche Zeitung vermerkt Meike Feßmann mit klugem Interpretationssinn über die Scham, die insbesondere symbolisch aufgeladen ist und sich zwischen den Zeilen versteckt:

Die Initialen der beiden Helden beispielsweise, S. V. und V. S., sind spiegelbildlich aufeinander bezogen – und zentrales Symbol des Textes ist die Schlange, zentrales Thema die Scham. […] Seine Mutter stammt aus der Priesterkaste, über die Herkunft des Vaters haben die Eltern nie gesprochen. Wie dem etwa elfjährigen Jungen bei einer Autofahrt mit dem Blick auf die behaarten Hände des Vaters dämmert, dass er aus einer niederen Kaste stammen könnte, wird in die Zeichensprache seiner Gesten verlegt: den Verlauf des Sicherheitsgurts über dem Körper imaginiert Senthil als […] V. Das lässt sich als Verweis auf den Anfangsbuchstaben der Vaishyas, der dritten Kaste, deuten. Da Valmira unmittelbar zuvor von der Ähnlichkeit des V mit der (weiblichen) Scham gesprochen hat, überlagern sich die Bedeutungsschichten.

Die Unwissenheit über die elterliche Herkunft sowie die symbolgeladene Sprache bergen Scham. Gerade die Schlange, wenn auch ausdrücklich kaum erwähnt, ist immer präsent, gerade in Senthils verschlungenen Sätzen. Insbesondere jedoch in Stanišićs Herkunft spielt die Schlange eine zentrale Rolle. Zu Beginn ist sie allgegenwärtig und verschwimmt in Erinnerungen an die alte Heimat[14] und dem auf Frühling 2009 datieren Besuch (Stanišić, vgl. 25) auf dem Friedhof in Oskoruša: „Das Nebensächliche bekommt Gewicht, bald scheint es unverzichtbar, die Schlange sieht von ihrem Baum auf mich herab und aus meiner Kindheit in mich hinein: das erinnerte Wort, die semantische Angst” (37). Scham ist in beiden Romanen symbolisch als Tier des Sündenfalls codiert, Stanišić spricht von „einer leibhaftigen Schlange oder einem symbolischen Tier” (49). Die Scham ist dabei immer präsent, für Stanišić in der semantischen Schlange (‘Poskok’), die Verlorenes repräsentiert, und für Varatharajah als Ausdruck für Zurechtfinden zwischen Sprache und Sprachlosigkeit.[15]

Doch hier enden sowohl Scham als auch Schuld nicht. Stanišić schreibt: „Die Welt ist voller Jugoslawen-Fragmente wie sie oder ich es sind. Die Kinder der Geflüchteten haben längst eigene Kinder, die Schweden sind oder Neuseeländer oder Türken. Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt” (212). Dabei zieht er sich selbst zur Rechenschaft, belastet sich mit Verantwortung, die Jugendliche ohne die entwurzelnde Erfahrung der zwanghaften Flucht selten erleben müssen. Überleben wird zum egoistischen Akt – sowohl das Überleben des Krieges und der Flucht als auch das Überleben und Anpassen im neuen Land. Auch wegen der Auseinandersetzung mit ihrer Demenz und was sie ihm vermitteln kann, ist die Großmutter Leitfigur der zweiten Hälfte des Buches. Doch hier erschweren ebenfalls Grenzen, geographisch wie emotional, den zwischenmenschlichen Zusammenhalt: „All die kurzen Besuche nach dem Krieg bei ihr. Mit jedem Mal waren wir uns ein Stück fremder, das Vertraute war das Vergangene. Ich immer auf dem Sprung, sie immer da” (323). Die Flucht selbst ist für Stanišić Grund für Scham, da sie ihm jegliche Entscheidungsmöglichkeit nahm. In seinem Essay „Doppelpunktnomade“ (2005) schreibt Stanišić: „Ich schäme mich für die Flucht. Weil sie über mich und nicht ich über sie entschied. Weil sie keine Varianten offen ließ, so wie sonst nur der Tod.” Stanišićs Worte untermauern erneut, wie stark die Scham an der zur Flucht gezwungenen Person haften bleibt.

Unsichtbare Grenzen in der Gesellschaft: Rassismus und othering

Zusätzlich zu belastenden Grenzen innerhalb der Familie, gibt es unsichtbare Grenzen zwischen Individuum, gesellschaftlichen Klassen und der Gesellschaft allgemein. Senthil erzählt von einer älteren Dame, die auf ihn und seine Brüder aufpasste, während die Eltern arbeiteten: „sie sagte, hier in diesem land dürften wir nur deutsch sprechen. Sie sagte, tamil sei eine katzensprache” (135). Er erzählt von seinem Bruder, der im Telefonmarketing arbeitete und bei dem mehr deutsche Kunden am Telefon blieben, wenn er sich mit Martin Schmidt anstatt seines eigentlichen Namens meldete (vgl. 189). Er berichtet von Kindergartenerzieherinnen, die einem jungen Senthil beim Malen einen dunklen Stift durch einen hellrosanen austauschen „und sie sagten, […] diese farbe nenne man hautfarbe, sie wiederholten es, diese farbe nennen wir hier hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach” (94-95). Ein Vorgesetzter in einem Praktikum bei einer Investmentbank in Frankfurt sagte ihm: „wenn ich hier in deutschland karriere machen wolle, müsste ich meinen namen ändern. niemand könne sich so einen merken” (190). Er erzählt wie die Kollegen seines Vaters diesen „Neger” nennen: „sein name, unaussprechbar wie er sei, bricht ihnen die zunge, sagen sie” (92). Vielsagend ist die Verwendung des Präsens: Er wird immer noch so genannt. Und Valmira berichtet davon, dass ihre Schwester im Schulaufsatz schreibt, dass Albanisch und Deutsch ihre Muttersprachen seien, der Lehrer jedoch Deutsch durchstreicht (vgl. 192). Sie erzählt von ihrer Klasse, in der sie „dreckige Bettlerin und schmutziges Asylkind genannt wurde” (93). Jede einzelne dieser Anekdoten sind Momentaufnahmen einer kontinuierlichen Ausgrenzung.[16] Aber mehr noch stellen sie die unangefochtene Annahme des status quo sowie das Ausbleiben einer Reflektion dar. Es sind Beispiele, die zeigen, dass viele Menschen Integration als einen einseitigen Prozess auffassen und dabei mit Assimilation verwechseln. Integration ist ein Prozess, in dem sich beide Seiten anpassen müssen. Nicht nur Zugezogene müssen die deutsche Sprache lernen, auch die Mehrheitsgesellschaft muss Platz für neue kulturelle Impulse schaffen und diese erlauben anstatt sie zu unterdrücken. Wenn Manlio Graziano, wie bereits zitiert, schreibt: „Borders are not the same for everyone,“ dann heißt das auch, dass unterschiedliche Anstrengungen nötig sind, diese zu durchbrechen, beispielsweise durch eine Hinterfragung der Bezeichnung „hautfarbe“ – insbesondere, wenn vor einem Kinder sitzen, die eine solche Aussage alleine durch ihre Existenz ad absurdum führen.

Auch Stanišić weiß von ausgrenzenden Erlebnissen zu berichten: „Wir wurden auch oft daran erinnert, dass man sich in Deutschland an »die Regeln« zu halten habe. Als seien Regeln anderswo völlig unbekannt. »Do reddä märr Daidsch« an meinen Cousin und mich in der Straßenbahn gerichtet, war keine ernst zu nehmende Regel natürlich, der Spruch allerdings durchaus ernst gemeint. […] Und mit jeder Regel, an die man uns erinnerte, erinnerte man uns auch daran: ihr seid fremd hier” (151). Fremdheit, die Ergebnis von Entfremdung ist, wird Teil der migrantischen Identität. Je häufiger man als fremd charakterisiert wird, desto mehr entfremdet man sich von einer Gesellschaft, die einen ausschließt und die Fremdheit nicht als Vielfalt akzeptiert, sondern nur als etwas Unerwünschtes. Oder um erneut Balibar zu zitieren: Grenzen fungieren „as expressions of the very constitution of the subject“ (63, 1990). Wenn die Mehrheitsgesellschaft stets verdeutlicht, dass Migranten nicht dazugehören, dass sie keinen Platz in der Gesellschaft finden können, ja dies sogar nicht sollen, dann wird das von den Ausgegrenzten verinnerlicht.

Selbst wenn Aussagen nicht per se auf böser Absicht beruhen, festigt Xenophobie die Grenzen. Intention ist dabei nicht ausschlaggebend. Denn sie untermauern den Status des/der Anderen (othering) gegenüber dem Aussagesubjekt. Der Begriff othering wird hier als Abgrenzung der kulturellen Mehrheit gegenüber einer kulturellen Minderheit verstanden. Der Begriff, in den 80er Jahren von Gayatri Spivak geprägt, hat in den letzten Jahrzehnten verschiedene Ausprägungen angenommen (Said [1979], Clifford, Marcus [1986], Kitzinger, Wilkinson [1996], Abdallah-Pretceille [2003], Gillespie [2006]), grundlegend sind jedoch zwei Charakteristika: Wie Sune Ovotrup Jensen in seinem Artikel “Othering, identity formation and agency” (2011) schreibt: “The other is always the other as in inferior, not as in fascinating“ (65). Othering ist kein Ausdruck der Faszination, sondern einer der ethnischen und sozialen Hierarchie. Durch die Zuweisung eines Individuums zu der Gruppe der ‘Anderen’, meist einzig anhand externer Merkmale wie Hautfarbe, Akzent und Sprache, wird gleichzeitig die eigene Identität etabliert. So schreibt Fred Dervin in “Cultural identity, representation and othering” (2011): “Othering allows individuals to construct sameness and difference and to affirm their own identity” (187). Folglich wird othering als ein Instrument der Abgrenzung verstanden, in der man selbst in der Position der Norm und der/die Andere in einer untergeordneten Stellung ist. Oft unausgesprochen ist die Tatsache, dass othering immer als Zuschreibung geschieht. Das heißt, dass der und die ‘Andere’ immer passiv sind und sich nicht selbst zu Anderen machen. Diese Passivität findet sich in jedem bisher genannten Beispiel, ist jedoch auch Prämisse der Romane. Das Verhältnis von aktiv und passiv sagt daher meist mehr über die Personen in der Machtposition aus als über die ‘Anderen.’ Zudem kreiert und untermauert othering interne Grenzen.

Dabei sind die ‘Anderen’ keine homogene Gruppe, sondern eine Ansammlung einsamer Individuen. Valmira erzählt, wie sie für eine lokale Zeitung als Reporterin über die Eröffnung eines Begegnungscafés berichtete. Auf ihrem Aufnahmegerät hörte sie beim späteren Wiederhören zwei Frauen auf Albanisch sprechen: „Ajo esht nje gjermane, nuk do ten a kuptoje – sie ist eine Deutsche, sie wird uns nicht verstehen. Sie waren in demselben Asylbewerberheim untergebracht, in dem auch wir in den ersten Jahren gewohnt hatten” (79). Für Valmira ist das eine schmerzhafte Erfahrung, in der sie letztendlich von beiden Seiten als Andere wahrgenommen wird.

Dass diese unsichtbare Grenze an externen Charakteristika festzumachen ist, ist für Valmira und Senthil offensichtlich: es liegt an ihren Namen und an ihrer Hautfarbe. Valmira erzählt, dass sie sich im Gymnasium Mira nannte: „Jeder dachte, ich sei Deutsche, bis sie in der Klassenliste meinen Namen sahen” (189). Sie schreibt: „Unsere Namen stehen über allem, was wir sagen, sie gehen jedem Satz voraus, und auch hier stehen sie über ihnen” (192). Und Senthil antwortet: „nur gebrochenes deutsch wird uns zugestanden. es liegt an unseren namen. es liegt an meiner haut” (191). Die Sprache wirkt als wichtiger Faktor in der Manifestation der emotionalen Migrationslandschaft. Stanišić schreibt von ähnlichen Erfahrungen: „Ich weiß noch, wie es sich anfühlt, für etwas keine Sprache zu haben. Wie ich manche Unterhaltungen am liebsten einfach abgebrochen hätte, wenn meine Gesprächspartner ihre Ungeduld kaum verbergen konnten, weil ich so lange brauchte, um mich mitzuteilen. Wie ich mich der höchstens mittelmäßigen Sprachkenntnisse meiner Eltern geschämt habe nach drei oder vier Jahren in Deutschland” (134). Mehr noch als nur die Scham für die Sprachkenntnisse der Eltern bietet sich dem Leser hier ein Zusammenfall von Scham und Schuld. Offensichtlich ist die explizite Scham in der Vergangenheit. Impliziert ist jedoch auch die Schuld in der Gegenwart über das beschriebene Gefühl der Scham. Doch dabei belässt er es nicht. Denn Stanišić erzählt davon, wie schmerzhaft auch gespielte Freundlichkeit sein kann: „Ich wollte noch besser Deutsch lernen, damit die Deutschen in meiner Gegenwart sich nicht so viel Mühe geben mussten, zu verbergen, dass sie mich für dumm hielten” (147).[17] Beinahe fallen die Erfahrungen zusammen, wenn Valmira schreibt: „Sie sprechen mit ihr, als wäre sie schwerhörig oder schwer von Begriff. Sie reden langsam und gedehnt. Sie betonen jede Silbe” (92). Gutes Deutsch wird misstrauisch beäugt[18] oder auch komplimentiert, aber nicht als selbstverständlich angesehen. Schlechtes Deutsch wird erwartet. Varatharajah schreibt in seinem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung darüber „wie die Grenzen, über die wir gegangen sind, auch durch uns gehen, durch Körper und Sprache.“ Dabei werden sie zwar sichtbar, wollen aber von der kulturellen Mehrheit nicht gesehen werden.

Zwischen Erinnerung und Orientierung in der Gegenwart        

Dort hört jedoch das Gefühl des Dazwischenseins nicht auf. Ein in-between lässt sich in beiden Werken auch in Bezug auf die Erinnerung und Verortung in der Gegenwart erkennen. Was Varatharajah und Stanišić hier vereint, ist ein Nicht-Ankommen, das sich literarisch einerseits in einem nahezu konsequenten Nicht-Aufeinander-Eingehen/Aneinander-Vorbeisprechen (Varatharajah), andererseits in der Abschweifung (Stanišić) niederschlägt. Die Abschweifung, erklärt Stanišić 2017 in der ersten seiner drei Zürcher Poetikvorlesungen, sei “der Modus, das Movens meines Schreibens. […] Sie entspringt und entspricht der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Reize und Wahrnehmungen und Überforderungen der Gegenwart, versucht diese Heterogenität der Geschichten collagenhaft, multiperspektivisch, achronologisch gerecht zu werden” (26:05-26:27). Die detaillierte Rückbesinnung ist dabei immer eine Vergewisserung der eigenen Identität. Stanišić erklärt weiter: „Das Erzählen ist immer auch nur Ablenkung – Ablenkung von dem Grauen. In Augenblicken existenzieller Krise kann es aber auch eine Überlebensstrategie sein, eine Selbstvergewisserung einer Welt, der man misstraut” (47:34 – 47:52). Denn: „Solange ich erzähle, gibt es mich da” (47:46-48:00).

Gleichzeitig setzt die Gegenwart die Protagonisten weiter unter Druck – Stanišićs Abschweifungen sind dabei auch eine Form von Bekenntnis gegen die Konzeptualisierung von ‘Herkunft’, ‘Heimat’ und ähnlichen Begriffen: „Es erscheint mir rückständig, gerade destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei. In einer Zeit, als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde” (62). Stanišić schreckt in seinem Roman sichtlich nicht vor kontemporärer Politik- und Gesellschaftskritik zurück. Doch sowohl bei ihm als auch bei Varatharajahs Protagonisten lässt sich der gleiche Grundgedanke erkennen: eine Dilemma-Situation zwischen dem Wunsch, wirklich verstanden zu werden, sich aussprechen zu können, mit jemandem Erfahrungen zu teilen auf der einen Seite und auf der anderen Fragen nach der Relevanz der Herkunft für die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Inmitten all dessen wird Orientierung benötigt, um eine feste Verortung in der Gegenwart zu ermöglichen, in die gleichzeitig immer wieder die Vergangenheit einbricht. Bei Stanišić ist das deutlich zu sehen. Immer wieder unterbricht er seine Erzählung und holt den Leser mit einem Datum in die Gegenwart des Autors. Stanišić schreibt:

Heute ist der 30. Oktober 2018. In unserer Wohnung in Hamburg brennen Kerzen im Fenster zum Gedenken. Ich sehe mir Fotos meiner Großmutter an. Auf einem sitze ich auf ihrem Schoß. Ich bin sechs Jahre alt und vierzig Jahre alt. Es fällt mir schwer, mich an sie als gesunde Frau zu erinnern. Es fällt mir schwer, meine Großmutter hier am Leben zu halten. (317)

Ganz korrekt ist das Zitat nicht wiedergegeben, denn im Roman sind diese sieben Sätze kursiviert. Die einzige Ausnahme ist das Wort „hier” im letzten Satz. Was genau meint Stanišić mit der Emphase auf diesem Adverb: hier im Buch? hier in Hamburg? Wohl beides, aber mehr noch: “hier” in der Gegenwart – insbesondere die der Großmutter vor der Demenz, denn es „fällt mir schwer, mich an sie als gesunde Frau zu erinnern”. So geht es dem Leser ebenfalls, lernt er die Großmutter im Buch doch eigentlich nur und bereits im ersten Kapitel als demenzkrank kennen. Es ist gerade das Adverb „hier”, das für Stanišić in diesem kritischen Punkt als Anker in der Gegenwart fungiert. In Varatharajahs Vor der Zunahme der Zeichen ist es ebenfalls das „hier”, das immer wieder von beiden Charakteren benutzt wird, um der geographischen und temporalen Orientierung zu dienen. Valmira bemerkt das und schreibt reflektierend:

Sara sagte einmal, ihr sei früh aufgefallen, dass ich, wenn ich etwas erzähle, manchmal hier sage, auch wenn ich nicht an dem Ort bin, über den ich spreche, und dass ich Details wie Straßennamen und den Namen von Stationen nennen und mich an diese Dinge halten würde und dass es verständlich sei, weil es die Häuser, die Städte und Länder, aus denen wir kommen, nicht mehr gibt, und ich weiß, dass auch Du Dich so orientierst, auch Du erinnerst dich so. (173)

„Hier” – das Adverb als linguistischer Anker, der den Leser einerseits im Text, den Autor/Charakter andererseits in einer Gegenwart orientiert. Jonas Teupert argumentiert: “It remains questionable whether online communication reinforces the dislocation of the here or, quite on the contrary, provides a virtual space for the loss of a geographical sense of place” (9). Teuperts Fokus mag mehr auf der Form von Varatharajahs Roman liegen, sein Einwand ist allemal berechtigt. Er schreibt, „hier“ kennzeichne „the emergence of a new mode of orientation situated in a digital and dialogical present“ (9), beispielsweise, wenn Valmira im Chat der beiden fragt: „Bist Du hier?“ (28) Andererseits argumentiere ich, dass die häufige Verwendung des Adverbs nicht nur Orientierung in „a digital and dialogical present“ bietet, sondern auch in der physischen Gegenwärtigkeit. Oder wie Valmira schreibt: das „hier“ als eine Evokation der Körperhaftigkeit und der Präsenz des Lebensraums zur Orientierung in diesem.[19]

So versucht Valmira eine Erklärung zu geben, die den Bogen zwischen Vergangenheitserklärung[20] sowie Verortung in der Gegenwart spannt: beide sind Mechanismen der Orientierung. Denn wie Étienne Balibar schreibt: Grenzen funktionieren wie die foucaultsche Heterotopie, als ein Ort „where the conditions and the distinctions of normality and everyday life are ‘normally suspended’” (316, 2010). In einer Gesellschaft, in der man als Individuum zu den ‘Anderen’ zählt, umgeben von unsichtbaren Grenzen, bedarf es sowohl der Orientierung in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, um sich nicht selbst zu verlieren. Denn darum geht es letztendlich sowohl Stanišić als auch den Charakteren Varatharajahs. Deswegen schreiben Senthil und Valmira miteinander: um sich selbst zu verstehen und sich nicht selbst zu verlieren. Deswegen nennt Stanišić seine Versuche der Herkunftssuche eine “Überforderung mit dem Selbstporträt“ (49). Im Endeffekt ist es ein Versuch, sich selbst erkennbar zu machen, was unmöglich zu vervollständigen ist. Nicht ohne Grund findet die Kommunikation zwischen Senthil und Valmira für knapp eine Woche ausschließlich online statt, ohne dass sich die beiden jemals treffen. Valmira schreibt sogar: „Wir können nur aus dieser Entfernung zueinander sprechen” (120). Denn auch hier, zwischen Personen, die ähnliches erlebt haben, wird immer eine unsichtbare Grenze bleiben.

Auffällig sind das Format und die Ausführung von Vor der Zunahme der Zeichen. Für beide Figuren steht die Möglichkeit der ‚Beichte’ im Vordergrund. Durch den Charakter der Online-Konversation sowie der Beziehung der beiden besteht eine virtuelle Anonymität, die beide zwar immer wieder durch Informationen und Bilder reduzieren, jedoch nie ganz aufheben. So bietet die Online-Plattform die bestmögliche Fläche, um sich selbst zu projizieren, zu verstehen und an der anderen Person abzuprallen.[21] Denn häufig ist der Dialog zwischen den beiden eher ein Monolog. Senthil schreibt längere Nachrichten, auf die Valmira mit ihrer eigenen Geschichte antwortet. Und Valmira schreibt längere Nachrichten, auf die Senthil mit seiner eigenen Geschichte antwortet. Die Verbindung ist erkennbar, ein roter Faden nur teilweise und eine direkte Antwort auf das Geschriebene des Anderen gibt es nur manchmal. Valmira schreibt oft: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll” (z.B. 119). Das ist auch nicht relevant. Viel wichtiger ist die Chance, sich selbst mitzuteilen. Darauf läuft letztendlich auch Stanišics Buch hinaus. Seine demente Großmutter, die insbesondere zum Schluss der zentrale Part des Handlungsstrangs ist, wird Teil einer Geschichte, die Staniśić dem Leser als Schnitzeljagd präsentiert. Am Ende jedes Kapitels kann sich der Leser interaktiv zwischen mehreren Optionen entscheiden – und wird je nach Entscheidung gebeten, auf einer bestimmten Seitenzahl weiterzulesen. So kann man verschiedene Abläufe und Enden erleben. Die immer fantasiereichere Handlung (inklusive Drachen) wird jäh durch einen kurzen, kursiven Text am Ende eines Kapitels unterbrochen: „Heute ist der 29. Oktober 2018. Ich habe geschrieben: ‚Schmetterlinge sind es nicht, du Esel‘. Mein Telefon hat geklingelt. Meine Großmutter ist im Alter von achtundsiebzig Jahren in Rogatica gestorben” (312). Die Funktion des Todes wird in Kürze noch näher erläutert, im Moment jedoch ist die Reaktion des Autors von Interesse:

Nein, kein Ende. Ein geliebter Mensch stirbt. Ist gestorben. »Bin das ich?«, war Großmutters letzter Satz, an niemanden und an sich und an mich gerichtet, im Altenheim von Rogatica. Das fragte ich mich seit zwei Jahren in diesem Text: Bin das ich? Sohn meiner Eltern, Enkelsohn meiner Großeltern, Urenkel meiner Urgroßeltern, Kind Jugoslawiens, geflüchtet vor einem Krieg, zufällig nach Deutschland. Vater, Schriftsteller, Figur. Bin das alles ich? […] Bin das noch ich? (323)

Bin das alles ich? Bin das noch ich? Sowohl Senthil und Valmira als auch Stanišić selbst nutzen den literarischen Text als Erkundung der eigenen Identität. Sowohl Stanišić als auch Varatharajah lassen jedoch offen, inwiefern das erfolgreich funktioniert. Stanišić schafft es nicht erfolgreich eine Heimat für sich reklamieren kann und schweift letztendlich in eine fantastische Erzählung ab. Varatharajahs Roman hat ein offenes Ende: „bis zur äußersten bedeutung müsen wir gehen und es wird nicht weit genug gewesen sein. wir gehen“ (250).

Der Tod als fundamentale Lebensrealität  

Der letzte Aspekt der emotionalen Migrationslandschaft, der hier verhandelt wird, ist die Auseinandersetzung mit und die Omnipräsenz des Todes, so das nachfolgende Argument. Der Tod ist die fundamentale Lebensrealität. Gemeint ist dabei einerseits der Tod als finaler Aspekt der Existenz. Vielmehr ist der Tod in Varatharajahs und Stanišićs Texten jedoch sowohl Zäsur als auch Grund für das Leben und das literarische Schaffen. In einem YouTube-Interview mit der Robert Bosch Stiftung anlässlich des Adalbert-von-Chamisso-Förderpreises 2017 sagte Varatharajah:

„Es ist keine Geschichte über Flucht und das Aufwachsen im Asyl, sondern ein Versuch, mir darüber im Klaren zu werden, was es bedeutet, immer vom Tod her zu sprechen. Ich bin im Krieg gezeugt worden. Der Krieg war der Grund, weshalb wir dieses Land verlassen haben und nach Deutschland gekommen sind. Das heißt, der Krieg ist allem voraus gegangen. Der Krieg und der Völkermord. Und insofern ist der Tod für mich nicht nur eine leere Metapher“

Und in Vor der Zunahme der Zeichen liest man genau das in Senthils Worten: „ich glaube, erst jetzt beginne ich zu verstehen, dass [der Tod] die bedingung der möglichkeit und wirklichkeit unseres sprechens war, ist und bleiben wird, bis zum ende. wir wären nicht in dieses land und nicht in diese sprache gekommen, wenn er uns nicht erwartet hätte, in jaffna, in prishtina; du weißt, was das heißt, du warst auch dort, länger als ich” (151). Ohne den Tod, der hier sowohl Krieg als auch Verfolgung als auch Flucht impliziert, kurz: ohne den Tod als grundlegende Realität wäre Senthil nicht Senthil. Der Tod, so Senthil weiter, fungiere dabei einerseits als Bindeglied mit der Vergangenheit, andererseits als Erinnerung an eine Schuld, die in Sprache und Leben aufbewahrt ist: „ich wusste, dass unsere muttersprachen den tod bedeuten […]. ich wusste, dass der tod körperlich war, während wir aufwuchsen, in jaffna, in prishtina, in den asyllandheimen und auch danach noch, wir kennen seine bilder, aber ich wusste nicht, wie sehr wir noch von dorther kommen, ich wusste nicht, wie sehr wir von dort aus immer gesprochen haben werden” (151-152).[22]

Interessanterweise wird der Tod jedoch nicht nur als etwas „körperlich[es]“ wahrgenommen, sondern auch als Absenz, insbesondere als Absenz der Sprache. Ohne die Möglichkeit des Todes während des Bürgerkriegs wäre Varatharajahs Familie nicht aus Sri Lanka geflohen, ein in Deutsch schreibender Senthuran Varatharajah würde nicht existieren. Varatharajah selbst formulierte es im September 2018 in einem Essay in der Zeitschrift Merkur folgendermaßen: „Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich: aus der Sprachlosigkeit.” Der Tod, und die Absenz des Todes, sind die grundlegenden Erfahrungen, der fundamentale Grund der Lebensrealität.[23] Auch Stanišićs Migrationslandschaften sind vom Tod geprägt, wenn auch subtiler. Der Roman bietet das Beispiel der Erforschung der Herkunft, die symbolisch auf einem Friedhof spielt, auf dem er seinen Nachnamen auf nahezu allen Grabsteinen sieht. Stanišić schreibt: „Der bitter-süße Tag mit den Lebenden und den Toten, einer leibhaftigen Schlange oder einem symbolischen Tier. Das Picknick am Grab meiner Urgroßeltern. Das alles ist eine Art Urszenerie geworden für mein Selbstporträt mit Ahnen. Es ist auch ein Porträt meiner Überforderung mit dem Selbstporträt” (49). Es ist nicht einmal der Tod selbst, der hier überfordernd wirkt, sondern alles, was er auslöst: Flucht, Angst, Ungewissheit, fehlende Klarheit – auch in Stanišićs Leitfrage der Herkunft.

Insbesondere der letzte Teil von Stanišićs Herkunft, in dem der Tod der Großmutter lauert und sich – insbesondere in wiederholten Lesedurchgängen – über den gesamten Text ausbreitet, ist ein Anschreiben gegen den Tod. Im Epilog erfährt man in kursiver Schrift von dem Tod der Großmutter. Er bricht in den Text hinein und unterbricht ihn. Der Epilog selbst wird dabei immer fantasievoller, die Großmutter und der seit circa dreißig Jahren tote Großvater sind wiedervereint. Stanišić will dem Tod nicht die Übermacht über den Text geben. Bereits der erste Teil von Stanišićs Debütroman (Wie der Soldat das Grammofon repariert) schrieb gegen den Tod an, die Fantasie des jungen Alexander als Schutz vor dem einbrechenden Krieg. In seiner Zürcher Poetikvorlesung sagte Stanišić dazu: „Der Mantel der Fantasie liegt über dem Körper der Gewalt, dünn und durchlässig. Jede Idylle ist nur temporär.” (47:20-47:28) Stanišić versucht in Herkunft ebenfalls den Mantel der Fantasie über den Tod eines geliebten Menschen zu legen, doch es gelingt ihm nicht. Denn der Autor selbst lässt die bereits verstorbene Großmutter sagen: „Das Erzählen erhält mich nicht am Leben, Saša! Du verwandelst Funken in Feuerodem. Du übertreibst! Herkunft als Wimmelbild mit Drachen? Und einer bewacht den Steg über den Fluss in die jenseitige Welt?” (345) Die an Demenz verstorbene Großmutter wird zur fiktionalen Figur, zur weisen alten Frau, die dem Helden einen wichtigen Ratschlag gibt: „Begreif das endlich. Es zählt nicht, wo was ist. Oder woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. Und am Ende zählt nicht mal das. Schau mich an: Ich weiß weder, woher ich komme, noch wohin ich gehe. Und ich kann dir sagen: Manchmal ist das gar nicht so schlecht” (327). Während Varatharajah und seine Charaktere den Tod als Fundamentales der Existenz, als Beginn verstehen und sich damit auseinandersetzen müssen, versucht Stanišić den „fiktiven Mantel” über den Tod zu legen, kann dabei aber nicht diesen essentiellen Aspekt der emotionalen Migrationslandschaft überdecken. Der Tod ist Anfang und ständiger Begleiter. In seinem Merkur-Essay bündelt Varatharajah dieses Konzept in dem deutschen Wort ‘Aufbrechen’: „Das Wort Aufbrechen hat im Deutschen zwei Bedeutungen: 1. Eine Sache, die verschlossen war, (gewaltsam) öffnen. 2. Einen Ort verlassen, d.h. sich auf den Weg machen. Diese beiden Bedeutungen sind, auch, maßgeblich, um nicht zu sagen: wesentlich, konstitutiv für die Poetik meines ersten und einzigen Romans.” „Aufbrechen“ ist nicht nur aufgrund des gewaltsamen Aspekts relevant, den Varatharajah andeutet, sondern insbesondere, weil der Aufbruch der permanente Zustand der Charaktere ist, da ein endgültiges Ankommen nicht möglich scheint. Dieses Verlassen, dieses Nicht-Ankommen ist das singuläre Erlebnis der Migrationslandschaften,[24] in denen sich Grenzen und der Tod befinden. Es ist grausam, inhärent, und fundamental und wird erneut von Varatharajah in seinem Essay auf den Punkt gebracht: „Wir schreiben auf Abwegen, auf Umwegen, auf keinem Weg. Es gibt keinen Satz, den wir vollständig sagen könnten. Wir kommen nicht zur Sprache. Ich komme nicht zum Punkt.”[25] Es gibt keine Vollständigkeit des Romans und auch kein Ende, weil die Protagonisten nie ankommen werden. In diesen Worten sehen wir aber auch ein letztes Mal Étienne Balibars Verständnis der inneren Grenzen, die als Ausdruck „of the very constitution of the subject“ agieren. Denn wie Stanišić und Varatharajah zeigen, ist letztendlich das Finden der eigenen Identität immer nur fragmentarisch möglich. Insofern lässt sich abschließend formulieren, dass die emotionale Migrationslandschaft immer eine fragmentierte Landschaft ist. Sie ist fragmentiert durch die in beiden Romanen aufzufindenden Aspekte von Scham, Sprache, Tod und Ausgrenzung und letztendlich auch aufgrund der internen Grenzen, die das Individuum erlebt.


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[1] Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Konzept des Anderen und der Begriffe other und othering erfolgt auf Seite 12f.

[2] Ich verstehe damit einerseits den Umgang mit Rassismus und Flucht, das Ankommen und Aufwachsen in einem fremden Land, andererseits universelle Themen wie den Tod eines geliebten Menschen sowie die Suche nach Identität und die Navigation innerhalb der Familie. Relevant sind sie – wie später argumentiert wird – sowohl für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen oder als Didaktik. Relevanz haben sie zudem durch die in den letzten Jahren präsenteren Themen der Migration und einen offeneren Diskurs in der Öffentlichkeit über das Thema Rassismus.

[3] Auch wenn Stanišić der Synonymfunktion in Microsoft Word für seine Kreativität dankt, ist es sein Spiel mit der deutschen Sprache, das ihm zum Empfänger den Deutschen Buchpreises 2019 verschaffte. “Saša Stanišić ist ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut. […] Der Autor adelt die Leser mit seiner großen Fantasie,” urteilte die Jury des Buchpreises über Stanišić.

[4] Eine gelunge Analyse der Form von Vor der Zunahme der Zeichen bietet Jonas Teuperts Artikel „Sharing Fugitive Lives“ (2018).

[5] Ein bildliches, wenn auch extremes Beispiel hierfür wäre der Anschlag in München in 2016, bei dem ein 18-Jähriger auf Individuen einzig aufgrund ihrer Herkunft (sprich: Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe) schoss.

[6] Senthil verzichtet, wie viele in den Sozialen Medien, auf Groß- und Kleinschreibung. Senthils Schriftsprache ist allerdings keine zufällige Aneinanderreihung von Wörtern, der Verzicht auf Groß- und Kleinschreibung kein Merkmal von Faulheit oder Regelfreiheit, sondern eine spezifische Ausdruckswahl. Ebenso verhält es sich mit seinen verschlungenen Sätzen und der häufigen Verwendung von Negierungen und Konjunktiven, wenn man sie als Leser eigentlich nicht erwarten würde. Hier bietet Teupert (2018) einen guten Erklärungsansatz. Er bezeichnet den Verzicht auf Groß- und Kleinschreibung als Demokratisierung der Sprache. Viel mehr argumentiert er jedoch, dass sich die poetische Sprache Senthils und die eher prosaische Sprache Valmiras ergänzen: “these two ways of inhabiting the German language […] complement each other in their attempt to capture the utterly inaccessible experience of fugitivity” (4). Die jeweils unterschiedlichen Ansätze sind folglich Versuche der Orientierung in der Sprache und der Fluchterfahrung.

[7] Vgl. Bloch, Ernst. „Schöne Fremde”. In: Das Prinzip Hoffnung. Suhrkamp, 1985, S. 430.

[8] Sowohl Valmira (“Kosovo je Srbija, Kosovo sei Serbien, schrieb die Miliz auf das, was von unserem Haus übrig blieb” (84)) als auch Senthil (“hier, unser haus, das ist die veranda, das ist euer onkel, das alles gibt es nicht mehr, das alles haben wir verloren” (145)) sprechen mehrfach direkt die Zerstörung der Heimat der Eltern an.

[9] Erinnern wir uns an Balibar, der schrieb: “[B]orders are in fact both internal and external, or subjective and objective, i.e. imposed by state policies, juridical constraints, control over human mobility and intercourse, but also deeply rooted in collective identification and the assumption of a common sense of belonging” (316, 2010). In Valmiras Aussage finden wir also ein Aufeinandertreffen von internen und externen Grenzen – einerseits die staatliche Regulierung der Schulteilnahme, andererseits die potenzielle Ausgrenzung aufgrund von Sprache und – wie man später erfährt – auch aufgrund des Namens.

[10] Allerdings wird bisher nur vereinzelt Emotion zusammen mit Flucht und gezwungener Migration analysiert (u.a. Leurs 2019). In den meisten Fällen wird Migration weitläufiger aufgefasst und vor allem die freiwillige Migration untersucht (u.a. Svašek, Skrbiš 2007; Skrbiš 2008; Ward, Styles 2012; Ho 2014; Baldassar 2015).

[11] Eine umfassende Untersuchung einiger Studien bietet Bustamante, Lineth H.U., Raphael O. Cerquiera, Emilie Leclerc, Elisa Brietzke. “Stress, trauma, and post traumatic stress disorder in migrants: a comprehensive review”. In: Brazilian Journal of Psychiatry, Vol. 40, Nr. 2, 2018, S. 220-225.

[12] Zwei weitere Beispiele: “Als Mutter mit fünfunddreißig ihr Leben in Višegrad aufgeben musste [Hervorhebung des Autors], verließ und verlor sie einen Ort, der bereits voll war mit guten Erinnerungen, Erfolg und persönlichem Glück” (117); “Wir haben Großmutter Kristina abgeholt, die selbst nur bis über die Grenze mitkommen und später wieder mit Vater zurückfahren würde. Sie wollte sicher sein, dass wir die Stadt lebend verließen. Das haben wir dann, wir haben überlebt und sind, jeder für sich, raus aus unseren Leben” (118).

[13] Senthil spricht allerdings auch häufig über die verschiedensten geographischen Regionen: New York, Istanbul, London – seine beiden Brüder leben und arbeiten in England, mit ihnen spricht er fast nur auf Englisch (vgl. 106-107).

[14]Poskok bedeutet: ein Kind – ich? – und eine Schlange im Hühnerstall. Poskok bedeutet: Sonnenstrahlen, die zwischen den Brettern durch die staubige Luft schneiden” (26). Poskok ist das serbokroatische Wort für Hornotter. Für Stanišić ist es jedoch nicht das Gleiche: “Das übersetzte Wort – Hornotter – lässt mich kalt” (27).

[15] Ohne Zweifel verweist das Bild der Schlange (und auch andere Abschnitte und Bilder) sowohl bei Stanišić als auch Varatharajah auf religiöse Dimensionen. Zwar gibt es nahezu keine Quellen oder Texte auf Deutsch oder Englisch, die über Poskok sprechen. Allerdings scheint die Schlange eine gewisse Bekanntschaft in osteuropäischen Ländern zu haben. Wäre das der Fall, würde sie doppelt für eine verlorene Heimat stehen: einerseits durch die Sprache (Poskok ist für Stanišić mit mehr Assoziationen verbunden) wie auch Assoziationen mit der Natur und Kultur. Gleichzeitig deutet das Bild der Schlange aber auch auf Verrat, Versuchung und auf den Verlust des (kindlichen) Paradieses hin (“die Schlange sieht […] aus meiner Kindheit in mich hinein”). Die biblische Konnotation der Schlange allgemein ist offensichtlich, aber auch die Hornotter findet Erwähnung in der Bibel. Im ersten Buch Moses, Kapitel 49, Vers 16 heißt es: “Dan wird eine Schlange sein am Wege, eine Hornotter am Pfade, die da beißt in die Fersen des Rosses, und rücklings fällt sein Reiter.” Jedoch muss angemerkt werden, dass dies in der Elberfelder Übersetzung zu lesen ist. In Luthers Übersetzung ist die Rede von einer Otter. Gleichzeitig ist die Schlange natürlich auch in der biblischen Geschichte eng mit der Scham verbunden: erst als Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis essen, wird ihnen bewusst, dass beide nackt sind und beide fühlen erstmals Scham: “Da gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren” (1. Buch Mose 3,7). Erst durch das Wirken der Schlange wird Scham also bewusst wahrgenommen. Zweifellos kratzt diese Fußnote nur an der Oberfläche der religiösen Bilder, die Varatharajah und Stanišić verwenden.

[16] Interessant für eine weitere Ausführung, im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht umsetzbar, wäre eine Analyse der Genderfrage: Gibt es Unterschiede in den Erwartungshaltungen für Senthil und Valmira? Denn wie Oliva M. Espin schreibt: “For women, the crossing of borders and the subsequent crossing of boundaries take specific forms” (445). Relevant wären dabei unter anderem die unterschiedlichen Reaktionen auf ausgrenzende Erfahrungen, die Unterschiede in Sprache zwischen den beiden Charakteren, aber auch die Beschreibungen von Sexualpartnern und -akten, die sowohl Valmira als auch Senthil im Laufe des Romans beschreiben. Außerdem könnte romanübergreifend die Stellung der Mütter sowohl bei Varatharajah als auch bei Stanišić untersucht werden – warum, beispielsweise, ist die Mutter als einziges Familienmitglied nicht Teil der Zeugen Jehovas? Espin schreibt nämlich: Frauen “are more often than not forced to embody cultural continuity amidst cultural dislocation” (448). Oder inwiefern nutzt Stanišić seine Großmutter in Herkunft, um durch sie Heimat zu personifizieren? All diese Fragen könnten leitend für eine Diskussion von Gender sein, gerade in Romanen, die von Männern geschrieben wurden. Ein weiterer Startpunkt für eine Analyse könnte Cecile Vermots Artikel “Guilt: A gendered bond within the transnational family” (2015) bieten.

[17] Über seinen Namen schreibt Stanišić: “Wir tragen Häkchen mit Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte meine mal »Schmuck«. Ich empfand sie in Deutschland oft eher als Hindernis. Sie stimmen Beamte und Vermieter skeptisch, und an den Grenzen dauerte die Passkontrolle länger als bei Petra vor und Ingo hinter dir” (60).

[18] Senthil erzählt: „ein dozent wollte mir nach einem referat den modulbogen nicht unterschreiben. er sagte, mein vortrag müsse aus einem lehrbuch abgeschrieben worden sein. kein student würde so sprechen” (191).

[19] Ich gebe Teupert Recht, insofern als dass aufgrund der gewählten Form des Romans ein unvermeidbares Ineinanderfließen von physischem und digitalem Raum entsteht und es damit zu einer Desorientierung kommen kann. Es geht Valmira und Senthil jedoch weniger darum, ob dieser Versuch gelingt – es geht vielmehr darum, es zu versuchen. Teupert deutet das sogar an, geht diesen Schritt aber nicht weiter, wenn er schreibt: „The use of deictic expressions requires that one can relate the here to other points of reference such as one’s homeland or the house in which one grew up, which is ultimately not possible for war refugees.“ (8f) Zweifellos hat er damit Recht, Referenz zur ursprünglichen Heimat ist nicht mehr möglich. Nichtsdestotrotz versuchen beide Charaktere sich so zu orientieren.

[20] Oftmals aber auch eine Ausschmückung der Vergangenheit, insbesondere bei Stanišić.

[21] Zweifellos bieten Online-Plattformen auch die Möglichkeit der absichtlichen Falschdarstellung. Bedenkt man jedoch die detailreichen und intimen Geschichten, die Valmira und Senthil miteinander teilen, ist eine Falschdarstellung jedoch unwahrscheinlich.

[22] Dazu kommentiert Teupert: “As the condition of possibility in a Kantian sense, death continues to be at the core and at the boundaries of their language.” (12)

[23] In gewisser Weise treffen wir auch hier auf eine von Étienne Balibar angesprochene Heterotopie. Der Tod ist immer Zäsur und somit eine „exception where the conditions and the distinctions of normality and everyday life are ‘normally suspended‘“. Gleichzeitig wird das extrem Private (der Tod) durch seine Funktion als Grundlage für die Lebensrealität auch in den Raum der Öffentlichkeit getragen – ganz besonders sichtbar durch den literarisierten und im Buch veröffentlichten Tod der Großmutter. Der öffentliche Raum ist auch immer ein politischer Raum und insofern wird der Tod (das Private) ein “object of politics itself”.

[24] Es ist jedoch, so meine Vermutung, nicht exklusiv ein Erlebnis der Migrationslandschaften.

[25] In dieser Aussage findet man auch einen Grund für die verschlungene, von Konjunktiven geprägte Schriftsprache Senthils, auf die in diesem Artikel nicht eingegangen werden konnte, die aber Teuchert (2018) gelungen analysiert.