Wenn die Schweizer Heimat exotisch geworden ist. Das Thema der Heimkehr aus Brasilien bei deutschschweizerischen Autoren / by Jeroen Dewulf

Wenn die Schweizer Heimat exotisch geworden ist. Das Thema der Heimkehr aus Brasilien bei deutschschweizerischen Autoren

Jeroen Dewulf


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Abstract:

Wenn in einem schweizerischen Kontext von einer Heimkehr aus Brasilien die Rede ist, stellen sich unvermeidlich Assoziationen zu Gottfried Kellers “Martin Salander” (1886) ein. Doch während Keller die Rückkehr und Reintegration seines Protagonisten in die Schweizer Heimat als völlig unproblematisch darstellt, bilden die Texte authentischer Brasilienheimkehrer eine ganz andere Realität ab. Der Beitrag stellt mit Dranmor, i.e. Ferdinand Schmid (1823-1888), Walter Alvares Keller (1908-1965) und Walter Burkhart (1883-1961) drei von der Literaturgeschichte heute eher marginalisierte deutschschweizerische Autoren vor, die nach einem längeren Aufenthalt in Brasilien ihre problematischen Rückkehrerfahrungen literarisch verarbeitet haben. Im Gegensatz zu Gottfried Kellers idealisierter Konstruktion, die ihre Entsprechung in der zeitgenössischen Schweizer Nationalideologie hatte, zeugen die teils autobiographischen, teils fiktionalen Texte der drei Autoren von der Kälte der Ankunft, von den “saudades” nach Brasilien, von der Schwierigkeit, sich wieder einzugliedern in einer Gesellschaft, deren Regeln kaum mehr einleuchten, kurz, von der Frage, was man macht, wenn einem die eigene Heimat exotisch geworden ist.

Acknowledgements:

Der gegenwärtige Beitrag ist Teil des Forschungsprojekts „Deutschsprachige Erzählprosa vom ‚Poetischen Realismus’ bis Ende des 20. Jahrhunderts” des “Centro Interuniversitário de Estudos Germanísticos” (CIEG), einer von der “Fundação para a Ciência e a Tecnologia” im Rahmen des “Programa Operacional Ciência, Tecnologia e Inovação (POCTI) do Quadro Comunitário de Apoio III” finanzierten R&D-Einheit.


Martin Salander: der ideal(isiert)e Heimkehrer

Wenn in einem schweizerischen Kontext von einer Heimkehr aus Brasilien die Rede ist, stellen sich unvermeidlich Assoziationen zu Gottfried Kellers Martin Salander (1886) ein. Keller erzählt darin die Geschichte Martin Salanders, der sieben Jahre in Brasilien lebte, dort als Händler tätig war und von Provinz zu Provinz reiste. Kein Wunder also, dass Salander, der so lange von zu Hause weg war und sich in einer so fremden Gesellschaft hatte behaupten müssen, bei seiner Rückkehr leicht die Orientierung verliert:

Ein noch nicht bejahrter Mann, wohlgekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die frühern neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand. (511)

Eine genaue Lektüre dieses meisterhaften Auftakts zu Kellers letztem Roman führt zu einer überraschenden Feststellung: Das Orientierungsproblem ist da, aber nicht, wie man meinen könnte, weil sich Martin Salander nach sieben Jahren in der Fremde verändert hat, sondern einzig und allein, weil in der Heimat selber Änderungen stattgefunden haben. Keller vermittelt den Eindruck, dass, falls die Heimat gleich geblieben wäre, Martin Salander sogar mit geschlossenen Augen den Weg nach Hause gefunden hätte. Trotz sieben Jahren Brasilien empfindet Salander auch nicht die geringste Schwierigkeit, plötzlich wieder Schweizerdeutsch zu reden. Wenn nach seiner Rückkehr das Gespräch mit seinen Kindern stockt, dann nur, weil sich die Kinder geändert haben, ihn selber hat der Aufenthalt in der Fremde anscheinend in keiner Weise beeinflusst.

Die Perspektiven der einzelnen Figuren unterscheiden sich nicht von der des auktorialen Erzählers. Gleich im ersten Dialog auf Schweizer Boden macht Salander klar: „ich bin kein Auswanderer“ und zwar, „[w]eil ich im Vaterlande leben und sterben will (…) Hier habe ich Mosen und die Propheten“. (525) Für Salander gibt es also keine falschen Propheten aus dem Ausland. Noch deutlicher ist das Urteil seiner Frau. Sie bemerkt zwar, dass Salander „von der Tropensonne wohl gebräunt [war]“, aber sonst kann sie erleichtert feststellen, dass „nichts Fremdes an ihm haftete“. (539)

Indem Keller seinen Roman mit der Ankunft eines Emigranten in der Heimat beginnt, könnte sich die Vermutung einstellen, es handele sich hier um einen Auswanderungsroman. So sind die Parallelen zu Joseph Hörmeyers Was Georg seinen deutschen Landsleuten über Brasilien zu erzählen weiss (1869), der genauso mit der Ankunft eines Brasilienauswanderers in seinem Heimatort anfängt, durchaus auffällig. Allerdings, während Hörmeyer diesen Auftakt benutzt, um das Interesse der Dorfgemeinschaft auf die Figur des Auswanderers zu lenken, damit dieser eingeladen wird, ausführlich über seine Erlebnisse in Brasilien zu erzählen, spielt das Thema der Auswanderung bei Keller nur eine nebensächliche Rolle, es wird kaum etwas über Brasilien ausgesagt. Zwar ist gelegentlich von Zigarren und Kaffee die Rede, aber sonst hätte Salander durchaus auch aus Sibirien oder Patagonien zurückgekehrt sein können. Nur an einer einzigen Stelle wird zu der „neue[n] Welt jenseits des Meeres“ Stellung genommen, allerdings mit ausschließlich negativen Kommentaren. Brasilien wird darin als eine „unechte“ Nation der Schweiz, einer „wahren“ Nation, gegenübergestellt. Brasilien, so meint Salander in einem Gespräch mit seiner Frau, sei nur „schön und lustig für Menschen ausgelebter und ausgehoffter Länder“. Außerdem seien sich die Leute in Brasilien gegenseitig gleichgültig, weil sie nur das „Abenteuer des Werdens“ zusammenhalten würde. Den Brasilianern fehle eine gemeinsame Vergangenheit wie „die Gräber der Vorfahren“. Dem stellt Salander die Schweiz gegenüber, ein Land, in dem man „das Ganze unserer Volksentwicklung auf dem alten Boden haben kann, wo meine Sprache seit fünfzehnhundert Jahren erschallt“. Zu diesem Land, so beschließt er gegenüber seiner Frau, möchte er „gehören“. (561) Kein Zufall, dass Keller in diesem Zusammenhang das Verb „gehören“ verwendet. Das Verb „gehören“ ist tatsächlich von wesentlicher Bedeutung für das Verständnis der europäischen Konzeption einer Nation. Europäer sind in der Regel davon überzeugt, dass ihre Nation ihnen „gehört“ und dass sie zu ihrer Nation „gehören“. Diese Vorstellung eines wechselseitigen Besitzverhältnisses impliziert, dass Ausländer zwar willkommen sind, aber eben nur als Gäste, die zu akzeptieren haben, dass das Land bereits Besitzer hat.[1] Der amerikanische Kontinent dagegen „gehörte“, nachdem man den Indios ihr Land weggenommen hatte, lange niemanden und allen zur gleichen Zeit. Es war im wahrsten Sinne ein no man’s land. Dieser Mangel an Blutsverwandtschaft und gemeinsamer Geschichte ist genau der Grund, weshalb Brasilien als eine „unechte“ Nation dargestellt wird, eine Nation, zu der man nicht richtig „gehören“ kann. Wichtig dabei ist außerdem, dass Salander nicht etwa aus Unzufriedenheit mit der Schweiz auswandert, sondern einzig und allein, weil er sich wegen Betrugs genötigt sah, in absehbarer Zeit zu Geld zu kommen. Er bleibt denn auch keine Minute länger in Brasilien als nötig. Sobald er genügend zusammengespart hat, kehrt er in die Schweiz zurück.

Allerdings wandert Salander gleich nach seiner Rückkehr ein zweites Mal nach Brasilien aus. Dies, nachdem er hat feststellen müssen, dass die Bank, bei der er sein Geld angelegt hatte, Konkurs gemacht hat. Wenn die Beschreibung der Rückkehr nach der ersten Auswanderung bereits recht unglaubwürdig wirkt, wird sie bei der zweiten Heimkehrszene fast zu einer Karikatur. Denn obwohl Salander nicht weniger als drei Jahre in Brasilien bleibt, heißt es bei seiner Ankunft in der Schweiz lapidar: „Er erschien denn auch, noch vor elf Uhr, so frisch, freudig und fast stürmisch bei den Seinen, wie wenn er sieben Jahre jünger statt dreie älter geworden und ein brausender Windstoß neuen Lebens mit herein gekommen wäre.“ (567) Daraufhin fragt Salander die Kinder über die Schule aus, trinkt eine Kanne Weinmost, isst eine Schüssel gebratene Kastanien und schon hat man das Gefühl, dass er Brasilien für immer vergessen hat. Tatsächlich fehlt denn auch nach dieser Szene im sechsten der insgesamt einundzwanzig Kapitel des Romans konsequent jeder Hinweis auf Brasilien, fast als ob Salander nie dort gewesen und nichts in Erinnerung geblieben wäre.

„Nichts Fremdes haftete an ihm“ – dies ist sicherlich der Schlüsselsatz in Kellers Vision eines erfolgreichen, tüchtigen Schweizer Emigranten. Brav hat Salander im Ausland Tag für Tag sein Geld gespart, brav ist er seiner Frau zehn Jahre lang treu geblieben und genauso brav hat er die ganze Zeit zu seiner Heimat gehalten. Tatsächlich, der „richtige“ Auswanderer, wie Keller ihn sieht, ist einer, der seine Heimat geistig nie verlässt und nur solange im Ausland bleibt, bis er genug Geld verdient hat. Damit entspricht Salander in jeder Hinsicht dem idealen Auswanderer, wie ihn Keller 1856 im „Abschiedslied“ für seinen Freund Christian Heusser geschildert hat,[2] wo es heißt: „So schreite fest, umwandre, / Die Welt an Wundern reich! / Kehr einst und find uns andre, / Wills Gott, uns selber gleich! / Du kennst die besten Bande, / Die Altes binden neu: / Bleib treu dem Vaterlande, / So bleibst dir selber treu!“. (321)

Dass die Rückkehr Salanders hier so unglaubwürdig dargestellt wird, sollte nicht als eine konzeptuelle Schwäche auf Seiten des Autors gesehen werden. Falls sich Salander als Vertreter der europäischen Zivilisation durch die brasilianische Kultur hätte beeinflussen lassen, wäre dies aus damaliger Sicht einer Degeneration gleichgekommen.

Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Urteil Johann Gottfried Herders. Sein Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) kann als eine universelle Kulturgeschichte betrachtet werden, in der erstaunlich kritische Positionen gegenüber Eurozentrismus, Sklavenhandel und Kolonisation bezogen werden. Herder akzeptiert darin die aufklärerische Vorstellung, wonach die Verschiedenheit der Völker vom lokalen Klima abhängig ist, ergänzt diese aber um die Bedeutung des Bodens und die dort entstandenen spezifischen Traditionen, die den so genannten Volksgeist eines jeden Volkes ausmachen.[3] Nach Herder ist jeder Volksgeist im Prinzip gleichwertig; er warnt jedoch vor einer Degeneration, die dann eintrete, wenn sich verschiedene Volksgeister miteinander vermischen. Herder ist also nicht primär aus ethischen Gründen gegen den Sklavenhandels und die Kolonisation, er verwirft sie, weil sie die Leute entwurzeln, dadurch die natürliche Ordnung der Welt durcheinander bringen und so letztlich zu einer allgemeinen Degeneration führen.[4] Was für Sklavenhandel und Kolonisation gilt, trifft auch für Auswanderung zu: Wer seine natürliche Umgebung verlässt, wird zu einem „wurzellosen Baum“ und degeneriert (282ff.).[5]

Nun war die radikale Position Herders auf Dauer unhaltbar, da sie im Extrem zu einer weltweiten Stagnation führen müsste. Romantiker wie Jacob Grimm versuchten daraufhin, das herderische Denken so umzuinterpretieren, dass die Auswanderung an sich nicht per Definition schon zu einer Degeneration führt. Nach Grimm tritt Degeneration erst dann auf, wenn man als Auswanderer seinen eigenen Volksgeist verleugnet. 1846 plädierte er denn auch auf einem Germanistentag in Frankfurt dafür, Massnahmen zu ergreifen, um „auch unter ihnen an der neuen stätte, die sie sich erwählen, althergebrachte sprache und dadurch warmen zusammenhang mit dem mutterlande zu bewahren“. (565) Der Aufruf Kellers, dem Vaterlande in der Fremde immer treu zu bleiben, sollte im gleichen Sinne interpretiert werden. Die Idee, die dahinter steckt, ist klar: Auch wer auswandert, kann trotzdem ein guter Patriot sein, aber nur solange er eine Integration in die fremde Gesellschaft vermeidet.

Der leichteste Akzent, die geringste Änderung in seinem Benehmen, der kleinste Unterschied in den Gewohnheiten hätte daher gereicht, um Salander als Hauptfigur eines politischen und sozial-moralischen Entwicklungsroman untauglich zu machen. Nur so versteht man, weshalb sich Keller für einen Auswanderer als Hauptfigur entscheidet, der sich weigert, sich als Auswanderer zu betrachten, und der während zehn Jahren in Brasilien seinem Vaterland dermaßen treu bleibt, dass er sich in keiner Weise beeinflussen lässt.

Die Entscheidung Kellers, Salander gerade nach Brasilien auswandern zu lassen, hat sicherlich nicht nur mit der Freundschaft zu Christian Heusser zu tun. Brasilien galt damals im deutschen Sprachraum als das Auswanderungsland par excellence für Auswanderer, die sich in die neue Welt nicht integrieren wollten. So schreibt etwa der Auswanderungsagent Adolf Steger in seiner Propagandaschrift Brasilien, für deutsche und schweizerische Auswanderer (1857): „Die deutschen Kolonien in Brasilien bewahren ihre Nationalität viel leichter, als diejenigen in Nordamerika“. Und zwar, weil „der Gegensatz zu dem romanischen Brasilianer viel größer ist, während den Deutschen und den stammverwandten angelsächsischen Amerikaner kein so großer Abstand trennt“. (13) Steger betont auch die Möglichkeit zur Gründung von geschlossenen Siedlungen in Brasilien und fügt hinzu: „Liebt der Auswanderer seine Nationalität, seine Sprache, so muss er, um dieselben zu bewahren, ein Land zur Ansiedlung wählen, das unvermischte Kolonien von Landleuten aufweist“. (3) In Das Paradies in den Sümpfen (2004) konnte der brasilianische Historiker Dilney Cunha zudem zeigen, dass der Hamburger Colonisations-Verein Werbung für Brasilien machte nach der Devise: „Brasilien, ein Land, wo der Deutsche Deutscher bleibt“. (40)

Dass man als Schweizer zehn Jahre lang in Brasilien leben kann ohne sich auch nur im Geringsten zu ändern, ist allerdings nur in einem Roman oder in den Werbungsblättern von Auswanderungsagenten denkbar. Die Schicksale jener, die tatsächlich nach längerer Zeit aus Brasilien endgültig in die Schweiz zurückgekehrt sind, zeigen eine andere Realität. Bei authentischen Brasilienheimkehrern lässt sich vielmehr eine große Unruhe feststellen, die bis zum Lebensende andauern kann. Im Folgenden wird auf die Schicksale drei solcher Heimkehrer eingegangen. Ihre Darstellung der Heimat handelt von der Kälte der Ankunft, von den saudades nach Brasilien, von der Schwierigkeit, sich wieder einzugliedern in eine Gesellschaft, deren Regeln kaum mehr einleuchten. Es geht, kurz gesagt, um die Frage, was man macht, wenn einem die eigene Heimat exotisch geworden ist.

Dranmor: vom Panzerhemd des Weltbürgers

Es muss ein unvergessliches Ereignis gewesen sein, als im Mai 1887 der Dichter Dranmor (1823-1888) nach 44 Jahren in Brasilien gelebt zu haben, zusammen mit seinen Hunden, Papageien und Affen wieder in seiner Geburtsstadt Bern ankam. Augenzeuge berichten, wie er sich in der darauf folgenden Zeit wie ein buddhistischer Priester zu kleiden pflegte und immer seine goldene Medaille des österreichischen Kaisers auf der Brust hatte. Aber nicht nur Affen und Papageien brachte Dranmor aus Brasilien mit, auch eine innere Unruhe, die ihn nicht weniger als vier Mal die Wohnung wechseln ließ, bis er, kaum zehn Monate nach seiner Ankunft, einem Herzschlag – gemunkelt wurde auch: einem Peitschenhieb seiner Frau – erlag. (vgl. Vetter, 17f.)

Heute kennt kaum noch jemand die Gedichte Dranmors (1823-1888), um 1880 herum aber konnte sich der Schweizer Poet durchaus einer gewissen Berühmtheit erfreuen. Es war die Zeit, als die literarischen Revolutionäre der achtziger Jahre, die „Jüngstdeutschen“, den Kampf mit der Epigonendichtung aufgenommen hatten und dem Naturalismus den Weg bereiteten. Ihnen erschien Dranmor damals als „eine ernste, tiefe, gewaltige, vulkanische Dichternatur“, wie es Hermann Conradi in seiner Einführung „Unser Credo“ zum klassischen Werk Moderne Dichtercharaktere (1885) ausdrückte.[6] Aber schon früher hatte Johann Jakob Honegger seine ebenfalls klassisch gewordene Anthologie Die poetische Nationalliteratur der deutschen Schweiz (1876) mit den Worten eröffnet: „Es ist ein selten gegebenes, ein für den Literaturhistoriker besonderes Glück, wenn die Gunst der Götter es fügte, dass er die Betrachtung einer Periode mit dem mächtigen Namen eines Dranmor eröffnen durfte“. (VII) Und Johann Gottlieb Schaffroth nannte Dranmor 1885 „neben Gottfried Keller und Ferdinand Meyer de[n] bedeutendste[n] unsere[r] vaterländischen Dichter der Gegenwart“. (2)

Dranmor, mit bürgerlichem Namen Ferdinand Schmid, wurde 1823 in Muri bei Bern geboren. Der frühe Tod seines Vaters, der als junger Mann aus Deutschland in die Schweiz emigriert war, zwang den 17jährigen Ferdinand, eine kaufmännische Lehre anzutreten. Schon damals äußerte sich bei ihm eine sonderbare Mischung von Melancholie und Abenteuerdurst. Bereits mit 18 schrieb er das Gedicht „Ich möchte schlafen gehn“, das an Melancholie in der Schweizer Literatur unübertroffen sein dürfte. Bis zum Ende seines Lebens sollte dieses Gedicht, in dem der junge Dranmor einem Todeswunsch Ausdruck verleiht, sein berühmtestes bleiben:

Ich möchte schlafen gehn / Dort auf den grünen Matten; / Dort, wo die Tannen stehn, / Möcht’ ich in ihrem Schatten, / Befreit von Herzensqual, / zum letztenmal / Die blauen Wolken sehn / Und ewig schlafen gehn. // O langersehnte Lust, / Die Menschen zu vergessen / Und diese heiße Brust / In feuchten Tau zu pressen! / Kein Laut im weiten Raum – / Ein letzter Traum – / Und alles ist geschehn. // So möcht’ ich schlafen gehn. / Ich habe lang’ gewacht, / Von süßer Hoffnung trunken, / Nun ist in Todesnacht / Der Liebe Stern versunken. / Fahr’ wohl, o Himmelslicht! / Ich klage nicht – / Doch wo die Tannen stehn, / Da möcht’ ich schlafen gehn. (1924, 29f.)[7]

Dass der größte Wunsch eines 18jährigen der Tod ist, mag ungewohnt sein. Dennoch gehörten damals Spleen, innerer Zwiespalt, Melancholie, Todeswunsch, Zerrissenheit, Weltschmerz oder, wie es Dranmor selbst nannte, „die Krankheit des Jahrhunderts“, zum Repertorium vieler Dichter. Man denke an die Gedichte des Österreichers Nikolaus Lenau (1802-1850) oder des Italieners Giacomo Leopardi (1798-1837).

Im Falle von Dranmor handelt es sich keineswegs um eine mit Passivität verknüpfte Melancholie, sondern vielmehr um eine Gemütsstimmung, die ihn antrieb, nach neuen Abenteuern zu suchen. In dem Sinne soll auch das Pseudonym „Dranmor“ verstanden werden. Laut Werner Günther stammt das Wort aus dem Normannischen und würde es soviel wie „droit à la mer“ bedeuten. (22) Kein Wunder, dass der verlockende Ruf des Meeres eine Konstante in seinem dichterischen Werk ist; so etwa im Gedicht „Alea jacta est“ aus dem Jahre 1843: „Zur Rettung oder zum Verderben / Spült morgen mich das Weltmeer fort / – hinaus, hinaus! um nicht zu sterben“. (1924, 30)

Dieser Hang zum Abenteuer veranlasste ihn, 1843 nach Brasilien auszuwandern. Dort lebte Dranmor zuerst in Santos, wo er bei einer Exportfirma arbeitete, die aber bald Konkurs machte. Daraufhin zog er nach Rio de Janeiro, wo er sich in wenigen Jahren zu einem erfolgreichen Geschäftsmann emporarbeitete. So konnte er sich bereits als junger Mann recht teure Reisen leisten, nach Nordamerika zum Beispiel oder zu der Insel Sankt Helena. 1851 kehrte Dranmor zum ersten Mal nach Europa zurück, blieb aber nicht in der Schweiz, sondern machte eine große Rundreise durch den Kontinent. In den fünfziger Jahren besuchte er regelmäßig Europa. Für längere Aufenthalte schien ihm Bern aber zu klein, lieber hielt sich Dranmor in Paris auf. Dort lernte er auch seine spätere Frau Lise Aglaë Marque kennen, die weder lesen noch schreiben konnte und offenbar schwer Nerven leidend war. 1868 entschloss sich Dranmor, endgültig, wie er damals noch meinte, Brasilien zu verlassen und hinfort in Paris zu leben. Aber das aus Brasilien mitgebrachte Vermögen war bald aufgebraucht, und bereits 1874 sah er sich gezwungen, erneut seine Geschäfte in Brasilien aufzunehmen. Diesmal blieb der erhoffte Erfolg jedoch aus, so dass der frühere Millionär in einem Brief eingestehen musste: „Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, innerlich gänzlich gebrochen, materiell von Grund aus ruiniert“. (vgl. Vetter, 12) Dranmor probierte sein Glück auch als Journalist, zuerst als Redaktor bei der deutschen Wochenzeitung in Rio de Janeiro, der Allgemeinen Deutschen Zeitung, später mit einem eigenen Wochenblatt, der Deutsch-Brasilianischen Warte für freien Blick auf Land und See, jedoch ohne den geringsten Erfolg. Verarmt setzte er 1887 zu seiner letzten Reise an und kehrte zurück in die Schweiz..

Anlässlich seiner Rückkehr hat man gerne und oft Dranmors Gedicht „Heimweh“ (1858) zitiert, ein Gedicht, das stark an Gottfried Kellers „O mein Heimatland!“ erinnert. „Heimweh“ liest sich wie die Bitte eines reumütigen, verlorenen Sohnes, wieder in der Heimat aufgenommen zu werden. Dranmor hebt an mit einem jugendlichen Übermut: „Helvetien, grüne Schweiz! Aus deinen Gauen / Ist trotzig einst ein Knabe fortgegangen, / Als tausend Wünsche ihre Löwenklauen / Um seines Herzens weiche Rinde schlangen.“ Nach Jahren des Kummers setzt aber über diesen unüberlegten Beschluss, der Heimat den Rücken zu kehren, Reue ein: „O dass ich diese Worte nie gesprochen, / Und dass ich nie den Blick gewendet hätte! / Denn jetzt ersehnt sich, einsam und gebrochen, / Der Pilger nichts als eine Ruhestätte.“ Er gesteht, dass die Entscheidung, in den sonnigen Süden zu ziehen, ein schwerer Fehler gewesen war: „Er gibt ihn hin, den sonnetrunknen Süden, / Für eine einz’ge schneebehangne Tanne.“ Also wendet sich Dranmor bittend an die Heimat: „Mein Vaterland, du bist das schönste, beste, / O nimm mich auf! – Ich habe viel gelitten!“ Und dies in der Anerkennung, dass die Auswanderung tatsächlich eine schwere Jugendsünde war: „Das also ist es, was die Jahre lehren: / Dorthin, woher man kam, zurückzuwandern, / Nach eitlem Forschen plötzlich umzukehren / Und dann als Greis zu werden wie die andern.“ (1924, 44ff)

Wenn Dranmor auch nicht als reicher Geschäftsmann zurückkehrte, so inszenierte er sich doch wenigstens in seinen Texten als reumütiger Sohn, der die Liebe zum Vaterland in der Ferne nicht verloren hatte. So sah man es in der Schweiz gerne, und so hat man ihn zu einem wahren Patrioten stilisiert. Honegger beschreibt Dranmor zwar als „eine exotische Erscheinung“, aber eine mit „Geisteswurzeln, [die] stark fundiert heimisch schweizerisch-deutsch geblieben sind“, wobei die Tropennatur „ihn nicht geblendet den Wurzeln der Heimat entfremdet hat“. (3ff.) Ähnlich urteilt Schaffroth: „Doch wie weit auch Dranmor gewandert, (…), als ächter Schweizer und Berner vergisst er seines theuren Vaterlandes nirgends.“ (8)

Auch Dranmor selber hat das Spiel mitgemacht, indem er das Ganze als eine Rückkehr aus dem Exil (!) dargestellt hat.[8] Im Vorwort zu der vierten (und erstmals in der Schweiz gedruckten) Auflage seiner Gesammelten Dichtungen entschuldigte sich Dranmor sogar für seinen Kosmopolitismus. Allerdings tat er dies mit einem recht hermetischen Satz: „Schweizerischer Nationalität, aber germanischer Abstammung, bin ich in meiner ganzen Richtung vielleicht allzu sehr in dem Panzerhemde eines ‚Weltbürgers’ heimisch geworden.“ (VI) In der Regel benutzt man den Begriff Panzerhemd als Metapher für eine Enge, aus der man nicht herauskommt, Dranmor aber spricht hier vom „Panzerhemd eines Weltbürgers“, also von der Enge des Weltbürgertums; darüber hinaus verknüpft er den Begriff „Weltbürger“ mit dem Adjektiv „heimisch“, wobei doch ein Weltbürger per Definition keine Heimat (mehr) hat und sich daher nirgends (oder überall) heimisch fühlt. Dieser dunkle, widerspruchsvolle Satz deutet an, dass die Geschichte vielleicht doch etwas komplexer war als die eines abenteuerlichen Schweizer Auswanderers, der in der Ferne immer mehr Heimweh empfand und gegen Ende des Lebens mit zunehmender Dringlichkeit wünschte, von der Schweiz wieder aufgenommen zu werden.

Tatsächlich gibt es vieles, das in diese romantische Skizzierung nicht hineinpasst. So hatte der „Patriot“ Dranmor bei seiner Rückkehr die größte Mühe, Berndeutsch zu verstehen, und reden konnte er die Sprache seiner Heimatstadt schon gar nicht mehr. Irritierend für diejenigen, die ihn als Patrioten darstellen wollten, war auch, dass damals, als Dranmor noch Millionär war, er sich in Brasilien als Diplomat betätigt hatte, aber nicht im Dienste der kleinen Schweiz, sondern als Generalkonsul der österreich-ungarischen Donaumonarchie. Auch war der gleiche Dranmor, der gegen Ende seines Lebens die Auswanderung als Zeit seines „Exils“ beklagte, wenige Jahre zuvor als Journalist in der deutschsprachigen Zeitung Rio de Janeiros sich noch als ein leidenschaftlicher Apologet des „Kolonistenlebens“ aufgetreten. (vgl. Vetter, 13f.) Erstaunlich ist auch, dass 1858, im gleichen Jahr, in dem Dranmor sein Gedicht „Heimweh“ schrieb, auch das Gedicht „Eine Nachtwache“ entstand, mit Strophen, die keineswegs von Heimweh nach der eidgenössischen Heimat zeugen, sondern vielmehr von einer pangermanischen Gesinnung wie etwa: „Eine blütenvolle Zukunft, Lorbeern, die kein Feldherr fand, / Harren deiner tapfern Söhne, o mein deutsches Vaterland!“, oder: „Träumt von deutschen Colonien, wo die deutsche Flagge weht, / Sieht ein Reich, in dessen Grenzen nie die Sonne untergeht. / Ja, das ist der Hauch des Frühlings, der des Dichters Busen schwellt, / Deutschland, dir gehört die Palme! Deutschland, dir gehört die Welt!“ (vgl. Honegger, 35ff.) Nicht nur als Dichter, sondern auch als Journalist stellte sich Dranmor oft als Angehöriger des Deutschen Reichs dar, in der Allgemeinen Deutschen Zeitung zum Beispiel, wo er sich zu seiner „heiße[n] Vorliebe für die wahre, patriotische, des gewaltigen Deutschen Reiches allein würdigen Kolonisation auf eigener Erde und unter eigener Flagge“ bekannte. (vgl. Vetter, 13) Aber, auch hier eine Überraschung, im täglichen Leben benutzte Dranmor nicht voller Stolz seinen deutschen Namen Ferdinand, sondern die brasilianisierte Form Fernando, und mehrmals hat er Brasilien als seine zweite Heimat bezeichnet. (vgl. 1886b, XI) Wenn Dranmor darüber hinaus im Gedicht „Requiem“ (1869) sein eigenes Paradies schildert, dann lassen sich dort die „schneebehangnen Tannen“ Nordeuropas nicht finden; vielmehr erinnert das Paradies an Brasilien:

Mich zieht es hin, in meinen liebsten Träumen, / Zu jenen Tälern mit den Kokosbäumen; / Ich möchte dort, auf freier Erde weilend, / Mein Paradies mit freien Männern teilend, / Ein Pflanzer unter Pflanzern, meine Saat / Ausstreuen, einer großen Zukunft Keime, / Und ohne Wortgeklingel, ohne Reime / Den Tod erwarten als ein Mann der Tat. (1924, 82)

Es wäre daher sicherlich falsch, Dranmor auf eine einzige, national oder kulturell begrenzte Heimat festlegen zu wollen. Bei der Geburt wurde er, so schrieb Dranmor einst über sich selbst, „hinausgeworfen in des Lebens Wirrwarr“, wobei man unweigerlich an Heideggers „Geworfenheit“ denkt. Deutlich wird auch, dass es ein fataler Fehler wäre, Dranmors Konzeption von Geburt nur mit der Stadt Bern und der Nation Schweiz in Verbindung zu setzen. Dranmor verknüpft die Geburt nicht mit einer bestimmten Stadt, Kultur oder Nation; er sieht sich von Geburt an als Weltbürger, als Kosmopolit. (vgl. 1900, XXVIII) Zu Dranmors Heimat gehören selbstverständlich die Tannen seiner Geburtsstadt, aber die Palmen Brasiliens oder die Wälder Nordamerikas gehören ebenso dazu. Zu Recht meint denn auch Otto von Greyerz: „Dranmors vaterländische Begeisterung ist mehr dichterische Schwärmerei als Gefühl natürlicher und bürgerlicher Zugehörigkeit. Sein Ehrgeiz war das Weltbürgertum, sein Bedürfnis die Luft der Weltstadt“. (vgl. Dranmor, 1924, 17)

Gerade dieser Kosmopolitismus, dieses multikulturelle Weltanschauung, macht Dranmor zu einem interessanten Fall innerhalb der Schweizer Literatur. So meint auch Martin Stern über das Werk Dranmors:

[E]s zeigt relativ früh die ja dann erst im 20. Jahrhundert evident gewordene ‚Mondialisierung’ der modernen, auch der geistigen und religiösen Probleme, ein waches Bewusstsein für das Schwinden der Distanzen und freien Räume, für die Gemeinsamkeit der Verantwortung und des Geschicks der Menschheit. Von Nationalkultur oder bloss kontinentaleuropäischer Bildung kann bei Schmid nicht mehr die Rede sein. (275)

Dranmor hat als einer der Ersten brasilianische Literatur ins Deutsche übersetzt.[9] Auch seine Aussagen über die deutsche Literatur sind manchmal von einer erstaunlichen Aktualität. „Für das, was ich mir von unserer Schriftsprache anzueignen vermochte, ist die Tropenwildnis meine Lehrerin gewesen“, schreibt Dranmor. Diese persönliche, kosmopolitische Literaturanschauung überträgt er auf die gesamte deutschsprachige Literatur und schlägt vor, alle Fenster und Türen des Literaturbetriebs zu öffnen und neue Themen in der weiten Welt zu suchen: „Nicht in kanonischen Verordnungen suche der Dichter der Gegenwart die Quellen seiner Verjüngung (…). Immer weitere Horizonte enthüllen sich dem innern Auge eines Dichters und Propheten.“ (1900, XXVII) Sein Fazit: „[B]evor in Deutschland ein neuer Orpheus geboren wird“, sei zuerst eine „Entwurzelung“ der Literatur vonnöten. (1900, XXIX)

Interessant dabei ist, dass Dranmor diese kosmopolitische Literaturauffassung anders als Goethes Definition von Weltliteratur mit der romantisch geprägten Kategorie des Fragmentarischen verknüpft. So schreibt er über seine Gedichtsammlung Poetische Fragmente: „Es trage von jetzt an diesen Titel, der um so passender ist, als nicht nur ein Teil, sondern das Ganze meines dichterischen Schaffens ein fragmentarisches genannt werden muss“. (1900, XXV) Diese Kombination von Weltbürgertum und Fragment leuchtet durchaus ein; gerade indem sich der Dichter der ganzen Welt öffnet, ist er nicht mehr imstande, ein geschlossenes, kohärentes und harmonisches Weltbild zu vermitteln, sondern lediglich eine Zersplitterung von Ansätzen und Ideen.

Diese Auffassung von Literatur hat Dranmor gegen Ende seines Lebens dazu gebracht, eine „fragmentarische Form von Weltliteratur“ anzustreben. Sein Ziel war es, die „wahre Weltliteratur“ zu zeigen, eine Weltliteratur, die, so meinte Dranmor, nicht gerade bescheiden, Goethe „vaguement pressentie, mais non comprise“ hat. (1886a, X) Allerdings war Dranmors Vorhaben revolutionärer als das eigentliche Ergebnis. Die zwei Sammelbände, die er 1886 in Rio de Janeiro herausgab,[10] sind nicht gerade Meilensteine in der Literaturgeschichte und weisen große Schwächen in der Konzeption auf. Dranmor schwebte ein Austausch zwischen der brasilianischen und der deutschen Literatur vor und er wollte dabei das Interesse der brasilianischen Jugend für deutsche Schriftsteller wecken. Obwohl er fließend Portugiesisch konnte, entschied er sich dennoch, die Bände auf Französisch herauszugeben, offenbar, weil ihm die Weltsprache Französisch für ein Projekt über Weltliteratur besser geeignet schien. Dass die französische Literatur in einer Weltliteratur nicht fehlen durfte, war Dranmor klar; dass aber seine Weltliteratur zu 90 % aus französischen und deutschen Autoren besteht, lässt das ganze Unternehmen fragwürdig erscheinen. Recht peinlich ist zudem, dass Dranmor seine „Weltliteratur“ mit eigenen Gedichten füllte. In den Pensées recueillies als auch in seinem Cosmos Littéraire sind nicht weniger als ein Drittel aller Texte von Dranmor selber.

Obwohl die Resultate nicht immer überzeugen, mag klar geworden sein, dass Dranmor keineswegs als nostalgischer Heimatdichter betrachtet werden darf. In Bern aber wusste man mit seinem skurrilem Kosmopolitismus und seinem sonderbaren Streben nach Weltliteratur nicht viel anzufangen. Lieber stellte man ihn als den verlorenen Sohn dar, der nach Jahren der Entbehrung im „bösen“ Ausland jetzt wieder froh und glücklich in seiner Heimatstadt leben konnte. Bezeichnend dafür ist die Farce, die bei seiner Beerdigung aufgeführt wurde.

Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass Dranmor in seinem Streben nach Weltbürgertum mit dem Christentum gebrochen hatte. Nicht Christentum, sondern Fortschritt und Vernunft seien für ihn die Religionen der Zukunft,[11] und in David Friedrich Strauß’ „neuem Glaube“ erkannte er sein Kredo. (vgl. Günther, 67) Im Gedicht „Reisestudie“ hatte Dranmor das Christentum sogar als eine vorübergehende Erscheinung, fast als eine Sekte geschildert, die in ein paar tausend Jahren sicherlich wieder verschwinden würde.[12] Und in seinem „Requiem“ stellte er den Tod dermaßen radikal als das definitive und absolute Ende dar, dass sich, wie Vetter berichtet, „die kirchliche Frömmigkeit davor bekreuzte“. (vgl. Vetter, 10) Konsequenterweise wollte sich Dranmor auch nicht kirchlich beerdigen lassen, sondern verlangte eine Einäscherung.

Zu jener Zeit aber war dies alles andere als selbstverständlich; viele sahen Kremation noch als eine direkte Fahrt Richtung Hölle an. Außerdem passte es nicht zur schönen Geschichte vom verlorenen Sohn, der aus seinem „Exil“ nach Bern zurückgekehrt war und jetzt glücklich in seiner einzig wahren Heimat mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen sterben konnte. Als Dranmor am 17. März 1888 in seinem Zimmer tot aufgefunden wurde, setzte man sich daher schlicht und einfach über seinen letzten Willen hinweg und organisierte eine Bestattungszeremonie, „mit einer für das damalige Bern außerordentlichen Feierlichkeit, ja Theatralik“, wie der Augenzeuge Otto von Greyerz berichtete. (vgl. Dranmor, 1924, 7) Gymnasiasten trugen den Sarg Dranmors in den Chor des Münsters, zwei jugendliche Kranzträgerinnen in Schwarz folgten, während von der Orgel herab ein Totenmarsch erbrauste. Und damit nicht genug, man machte aus ihm auch noch rasch einen guten Christen, da er, so Pfarrer Schaffroth, einmal gesagt haben soll: „Ich glaube an die Liebe Gottes in Jesu Christo“ (vgl. Vetter, 20) und illustrierte dies mit „unschuldigen“ Zitaten aus dem I. und X. Kapitel seines „Requiems“. Bevor dann der Sarg auf den Ostermundiger Friedhof getragen wurde, sang man noch Dranmors Evergreen „Ich möchte schlafen gehn“ in einer Komposition von Anton Hackel. (vgl. Vetter, 20f.)

Am Tag nach seiner Beerdigung wurde Dranmor in allen Zeitungen zum Patrioten gekürt. So schrieb die Neue Zürcher Zeitung in einem Nachruf: „Nachdem er die Welt durchreist und stürmische Meere durchschifft, große Reichtümer erworben und wieder verloren, gehofft und gezweifelt hatte wie nicht bald Einer, da erfüllte ihn nur noch der einzige, mächtige Drang, seine bernische Heimat wiederzusehen.“ Und wie glücklich Dranmor in Bern wohl war, wird, im Anschluss an einem Zitat aus dem Gedicht „Heimweh“ in herrlichen Farben geschildert: „Er wohnte in der Sommerzeit auf dem Schänzli bei Bern, welches einen so wunderbaren Ausblick in die Schnee- und Gletscherwelt gewährt. An einer so schönen, einzigen Stätte mag er wohl noch einmal Naturfreuden gefunden haben nach welchen er sich (…) so rührend sehnte“. (vgl. NZZ, 20.03.1888, 20)

Völlig anders aber hatte sich Dranmor über die Rückkehr nach Bern in einem Brief geäußert, den er kurz von seinem Ableben geschrieben hatte. Darin bekannte er: „Ich bin mit einem neuen Umzug beschäftigt, dem vierten in der patria dolorosa, die mich bis jetzt wenig anmutet und aus deren Banden ich mich täglich und stündlich hinwegseufze.“ (vgl. Vetter, 18)

Walter Alvares Keller: von den Tropen in die Politik

Heute mag sich in der Schweiz kaum noch jemand an den Schriftsteller Walter Alvares Keller (1908-1965) erinnern. In den fünfziger und sechziger Jahren gehörte er allerdings zu den erfolgreichsten Jugendautoren der deutschsprachigen Schweiz. Seine Karriere begann 1947, als der Kaufmännische Verein Zürich einen Berufsfragenwettbewerb ausschrieb und Keller mit einem Aufsatz über seine Erlebnisse in Brasilien den ersten Preis erhielt. Mit diesem Aufsatz legte Keller die Grundlage für sein schriftstellerisches Werk, das insgesamt sieben Romane umfasst.

Hedwig Kux meint zu den Abenteuerromanen Kellers, dass der Autor „etwas schwarz-weiss zeichne“ (444), und tatsächlich erinnern besonders die frühen Werke Kellers an die Romane Karl Mays. Sie sind voll grausamer Indios und werden von Themen wie Betrug, Liebe, Ehre, Kameradschaft und Rache vorangetrieben. Trotz allen Klischees bemüht sich Keller jedoch durchaus darum, seinen jungen Lesern weiterzugeben, was er als Auswanderer an Welt- und Menschenerfahrungen gesammelt hat. Dies gilt besonders für die Bekämpfung von Vorurteilen. So sind in Kellers Romanen gerade die jüdischen Händler am ehrlichsten, entpuppt sich von allen Arbeitskollegen ausgerechnet ein Schwarzer als wahrer Freund und ein ehemaliger Goldsucher, der früher noch Indios erschossen hatte, wird zum Schutzmann der Indios Brasiliens.

Keller wanderte bereits mit neunzehn Jahren nach Brasilien aus. Der Grund, weshalb er 1927 die Schweiz verließ, ist unklar. Er stammte aus einfachen Verhältnissen – sein Vater war Schuhmacher – und die Aussicht, die kümmerliche Existenz seiner Eltern im Lee-Quartier des damals noch armen Wollishofen (am Zürichsee) weiterzuführen, mag abschreckend gewirkt haben. Daneben dürfte auch die Lust auf Abenteuer eine Rolle gespielt haben. In Brasilien führte Keller auf jeden Fall ein recht abenteuerliches Leben, zuerst als Brauereiarbeiter in São Paulo, später als Händler, Steinschleifer und kaufmännischer Angestellter im brasilianischen Binnenland und schließlich als Transportunternehmer in Paraná. Da Kellers Archiv verloren ging und die Sekundärliteratur zu seiner Person und seinem Werk nur sehr spärlich ist, können wir uns fast ausschließlich auf die Angaben, die er in seiner Autobiographie Brasilianisches Abenteuer (1948) machte, stützen. (vgl. Meier/Winkler, 141) In dieser Autobiographie, die in einer späteren Ausgabe das erste Kapitel der Trilogie Urwald – Liebe – Diamanten (1952) bildet, werden die Erlebnisse eines jungen Schweizer Auswanderers erzählt, der in Brasilien ein neues Leben beginnen will und sich daher, ganz anders als dies Gottfried Keller etwa für seinen Martin Salander vorsah, um eine vollständige Integration in die brasilianische Gesellschaft bemüht.

Die Trennung von der Heimat wird in drei Phasen dargestellt. Am Anfang steht die Trennung von den Schweizer Behörden. Keller schildert, wie sich die Ich-Figur auf dem Konsulat nach einer Stelle erkundigt, aber einsehen muss, dass er von seinen Behörden keine Unterstützung zu erwarten hat:

Als ich schließlich das Dienstbüchlein in der Hand und im Glauben, die Konsulate wären in erster Linie zur Betreuung der Landsleute da, die Büros betrat, erkannte man auch hier in mir den Neuling; denn noch ehe ich etwas vom Zweck meines Besuches gesagt hatte, führte mich ein Bürodiener grinsend und wortlos zu einem Beamten, der meine Anmeldung mit sachlicher Höflichkeit entgegennahm. Als ich jedoch nach offenen Stellen fragte, war es mit dem vaterländischen Wohlwollen aus. Beleidigt maß mich der Mann von Kopf bis Fuß und brummte: ‚Das Konsulat ist kein Arbeitsvermittlungsbüro’. (13)

Als der junge Schweizer dann aber wissen will, wozu das Konsulat denn eigentlich da sei, wird er sofort auf seine Pflichten als Auslandschweizer verwiesen, besonders was die Bezahlung der Militärsteuer angeht. Auch bei den Behörden herrschte ein Bild des Auswanderers, das durchaus jenem von Martin Salander entsprach; d.h. obwohl man ausgewandert war, blieb man aus der Sicht des Konsulats der Schweiz verbunden; daher wurde erwartet, dass man sich nach wie vor für die Verteidigung der Heimat engagierte. Die Bezahlung der Militärsteuer brachte aber viele Auslandschweizer in Verlegenheiten; es handelte sich um einen Betrag in Schweizer Franken, was umgerechnet in der Lokalwährung für viele Emigranten eine große, oft eine allzu große Belastung war. So auch für die Ich-Figur in Kellers Autobiographie:

‚Darauf habe ich gerade gewartet!’ schnauzte ich, steckte hastig Pass und Dienstbüchlein wieder ein und machte mich fluchtartig davon. Militärsteuer! So also lief der Hase! Die Konsulate waren wohl nur deswegen da! Aber einem eine Stelle verschaffen? Ziellos, doch um eine Erfahrung reicher, schritt ich durch die Avenidas und stellte grimmig fest, wie liebevoll sich Mutter Helvetia im Ausland um ihre Söhne kümmert, wenn sie vermutet, es wäre etwas bei ihnen zu holen! (14)

Als Nächstes folgt der Bruch mit den anderen Auslandschweizern in São Paulo. Die Tatsache, dass sich die Ich-Figur mit Brasilianern, auch mit Schwarzen, anfreundete, hatte bereits zu einer gewissen Distanzierung der eigenen Landsleute geführt. Der endgültige Bruch fand aber anlässlich einer blamablen 1. August-Feier statt. Die Ansammlung von Klischees beschreibt Keller peinlich genau:

Erst trat ein bunt zusammengewürfeltes Trachtenchörlein auf, flankiert von zwei Fahnenschwingern. Jodel um Jodel ging über die Zuhörer hinweg, Fahnen flatterten in die Höhe, eine blieb in der Bühnendraperie hängen, und mancher heimwehkranke Eidgenosse wischte sich verstohlen über die Augen. Und die anwesenden Brasilianer? Auf sie musste die Jodlerei eher komisch wirken, denn sie brachen in schallendes Gelächter aus. (57)

Statt dass die Ich-Figur während der Bundesfeier stolz sein kann auf ihre Heimat, fängt der junge Schweizer an, sich für seine Landsleute zu schämen:

Zum Teufel, fragte ich mich, hatte man denn in der Schweizerkolonie noch nie bemerkt, dass die Jodlerei auf andere lächerlich wirkt? Doch es kam noch schöner! Ein Theaterstück auf Schweizerdeutsch folgte mit Schauspielern in Tirolertracht, die vor einer Sennhütte mit einer Palmenkulisse als Hintergrund umherstelzten; mir grauste es vor dem Kitsch, den meine Miteidgenossen zu bieten wagten. Die Hälfte des Publikums, meist junge Leute, die hauptsächlich des Tanzes wegen gekommen waren, wusste nicht, was das Getue auf der Bühne bedeutete. Gelangweilt auf ihren Plätzen sitzend gähnten einige, und die jungen Mädchen kritisierten kichernd die behaarten Beine der Darsteller, die provozierend die kurzen Hirschledernen zur Geltung brachten. (57)

Die unangenehmen Erfahrungen bei der 1. August-Feier sind für den jungen Emigranten ein Zeichen, dass er bei seinen Landsleuten eigentlich nichts mehr zu suchen hat. Daher entschließt er sich, die Kontakte zum Schweizerverein abzubrechen:

War ich deswegen nach Brasilien ausgewandert, um mir von den Landsleuten etwas vorjodeln zu lassen? Was erwartete ich eigentlich von ihnen? Etwa im Büro eines Schweizer Unternehmens eine untergeordnete Stellung mit ‚Aufstiegsmöglichkeiten’ und, verbunden damit, dieselbe Liebedienerei, wie ich sie in der Heimat kennengelernt hatte? (58)

Der dritte und letzte Bruch vollzieht sich mit der Familie. Als die Verwandten in der Schweiz erfahren, dass es das ausgewanderte Familienmitglied nicht wie erwartet zu großem Reichtum gebracht hat und sich außerdem noch in die brasilianische Gesellschaft zu integrieren scheint, beschließen sie, ihn zurückzurufen. Eines Tages erhält der Brasilienauswanderer daher einen Brief mit folgendem Inhalt:

Gleichzeitig mit diesem Brief haben wir Dir das Reisegeld auf das Schweizer Konsulat überwiesen. Es hat ja doch keinen Wert, dass Du noch länger in Brasilien bleibst. Wir haben nämlich in Erfahrung gebracht, dass Du uns angelogen hast; denn Du arbeitest nicht auf einem Büro, sondern vegetierst dahin als ganz gewöhnlicher Arbeiter. Desgleichen wissen wir, dass Du Dich mit allerlei ordinärem Gesindel, mit Kellnern, Negern und Mulatten herumtreibst, statt dich mit deiner beruflichen Weiterbildung zu befassen. (75f.)

In seiner Antwort bricht der Protagonist definitiv mit der Familie. Zum ersten Mal spürt er, dass der Aufenthalt in Brasilien ihn verändert hat und dass er für seine frühere Heimat jetzt ganz andere Gefühle hegt. Interessanterweise benutzt Keller dabei die später durch Paul Nizons Diskurs aus der Enge (1970) sprichwörtlich gewordene Metapher der Enge:

Als ich mich hinsetzte, um dem Bruder zu antworten, fand ich keinen Anfang; denn jäh gewahrte ich die Kluft, die sich zwischen mir und der alten Heimat aufgetan hatte. (…) Beklommen spürte ich die Enge der Heimat, wie sie just der Brief bezeugte, und ich begann zu ahnen, wie schwer es für mich sein würde, mich je wieder an die dortige feste Rangordnung des Daseins zu gewöhnen. (…) Zornig schlug ich mit der Faust auf den Tisch, und jetzt fand ich den Anfang und schrieb dem Bruder in kurzen Worten, ich käme erst dann nach Hause, wenn es mir und nicht wenn es dem hochwohllöblichen Familienrat passe. (77)

Diese Angaben sind Kellers Autobiographie entnommen worden. Es betrifft hier also eine fiktionale Darstellung von Erlebtem. Dennoch stimmen die Angaben im Großen und Ganzen überein mit den wenigen Informationen über den Autor, die bei seinen früheren Verlagen sowie im Nachruf in der Neun Zürcher Zeitung anlässlich seines Todes gefunden werden konnten.

Keller, der sich zusehends der Schweiz entfremdete und sich stattdessen immer mehr in die brasilianische Gesellschaft integrierte, heiratete 1930 die Brasilianerin Margrit Pieper, eine Tochter von deutsch-baltischen Auswanderern. Zwei Jahre später jedoch nahm sein Leben eine dramatische Wende: eine schwere Gelbfiebererkrankung mit Komplikationen zwang ihn zu einer Rückkehr in die Heimat.

Da aber Keller alle Beziehungen zur Schweiz abgebrochen hatte, entsprach der Heimkehrer keineswegs dem Idealbild eines Martin Salanders. Keller kehrte ohne Geld in die Heimat zurück, dazu noch mit einer brasilianischen Frau. Die Rückkehr wurde für ihn zu einem traumatischen Erlebnis und dies nicht nur, weil er zuerst 600 Franken Militärsteuer nachzuzahlen hatte. Seine Erfahrungen als „gescheiterter“ Brasilienheimkehrer hat Keller später in einem autobiographisch geprägten Roman niedergelegt: Peter Stäubli – Was nun? (1959). Diesmal erzählt Keller nicht in der ersten Person, sondern er schildert die Erfahrungen eines gewissen Peter Stäubli, der zusammen mit seiner brasilianischen Frau Lorli nach fünf Jahren in die Schweiz zurückkehrt. Dieses Werk ist kein Jugendbuch mehr, sondern richtet sich an ein erwachsenes Lesepublikum. Es enthält denn auch teilweise recht bissige Kritik an der kleinbürgerlichen Mentalität der damaligen Schweiz.

Das erste Gefühl, das Peter bei der Ankunft in Europa empfindet, ist die Kälte:

Wie jeden Morgen, seit er sich vor zwölf Tagen in Santos zur Fahrt in seine Heimat eingeschifft hatte, eilte er, nur mit Hemd, Hose und Turnschuhen bekleidet, durch die menschenleeren Laufgänge. Mit jugendlichem Elan stürmte er die Treppe hinauf, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, und um der dumpfen Luft des Schiffsinnern zu entgehen, riss er wie gewohnt die Türe zum Promenadendeck auf. Ein bissiger Nordwest packte ihn an. Wie gebannt blieb er stehen und blinzelte in die diesige Luft hinaus. Es dauerte eine Weile, ehe er sich von diesem Überfall erholt hatte. Dann aber versenkte er trotzig die Fäuste in die Hosensäcke und trabte über das Deck. Doch der kalte Wind setzte seinem Körper, dem Brasilien alles überschüssige Fett weggeschmolzen hatte, dermaßen zu, dass er sich steif und zähneklappernd in den geheizten Rauchsalon verzog. (15)

Die europäische Kälte lässt die Kräfte des Rückwanderers aus Brasilien schwinden. Er, der meinte, dass Charakterstärke und Durchhaltevermögen reichen würden, um die Rückkehr problemlos zu verkraften, muss sich geschlagen geben und zieht sich kleinlaut in eine Ecke zurück. Mit dieser Szene nimmt Keller den Rest der Geschichte vorweg. Denn tatsächlich, genauso kalt wie der Nordwestwind vor der Küste Frankreichs ist auch der spätere Empfang durch die Familie:

Denn während Peter auf dem Bahnsteig nach vorne schritt, Lorli zögernd an seiner Seite, entdeckte er schon von weitem die Mutter, neben ihr die Schwester Clara und den Schwager Kaspar, und die Gesichter aller sahen aus, als kämen sie von einem Begräbnis. (…) ‚Guten Tag, Mutter’, grüsste er auf eine Art, als wäre er erst gestern weggegangen. ‚So – hm – bist also wieder da’, kam trocken und spröde die Antwort. (…) ‚Wo habt ihr denn die Koffer?’ fragte Mutter Stäubli (…)‚Ihr seid doch hoffentlich nicht mit nichts angekommen!’ Peter fuhr unmerklich zusammen. Mit nichts angekommen? Da war sie doch wieder – die Heimat! (61f.)

Von einer brasilianischen Umarmung, einem abraço, will die Familie nichts wissen, dafür interessiert sie um so mehr, was sich im Koffer des Heimkehrers befindet. Als sich herausstellt, dass das junge Paar ohne Geld gekommen ist, ist die Enttäuschung komplett. Als Heimkehrer entsprach er eben keinem der Klischees, die man damals in der Schweiz mit einem Brasilienauswanderer verband. Genauso schlimm wie die Tatsache, dass er ohne Geld zurückzukommen wagte, war es für die Familie, dass sich Peter Stäubli nicht demütig und dankbar zeigte, dass man bereit war, ihn wieder in den Schoß der Familie aufzunehmen. Und was für die Familie galt, galt darüber hinaus für die ganze Nation, als ob die Schweiz für die Wiederaufnahme eines verlorenen Sohnes Reue voraussetzte sowie das Eingeständnis, dass die Auswanderung ein Fehler, ja sogar eine Form des Verrats gewesen war.

Genau dies aber hatte sich Peter Stäubli immer geweigert zu tun. Vielmehr hatte er das Land und die Familie ständig kritisiert:

Es war die Furcht vor der großen Unbekannten, vor seiner Heimat, hauptsächlich aber vor seinen Angehörigen, die ihn, weil er ein unbegütertes Mädchen geheiratet, mit Warn- und Protestbriefen beinahe erschlagen hatten. Ahnungslos, dass er aus gesundheitlichen Gründen sehr bald die Reise in die Heimat antreten musste, hatte er sich nicht nur über diese Briefe lustig gemacht, sondern auch noch wacker Pfeffer und Salz in die Antworten gestreut. (18)

Die Integration in der alten Heimat erweist sich denn auch als ein schwieriger Prozess. Die Schweiz erscheint Peter als muffig und verdorben, als ein Gefängnis, in dem er kein stolzes Individuum mehr sein kann, sondern nur das Rädchen in einer Maschine, der man nicht entkommt. (vgl. 23, 44, 94, 95) Er muss eingestehen, dass ihn die fünf Jahre Brasilien so sehr verändert oder, wie es im Roman heißt, „verbrasilianert“ haben, dass ihm das Leben in der eigenen Heimat exotischer geworden ist als in Südamerika. Bezeichnenderweise scheinen ihm die Ausländer in der Schweiz näher zu stehen als die eigentlichen Landsleute. So kalt der Empfang durch die Familie war, so herzlich werden die beiden durch den italienischen Gastarbeiter Fiori begrüsst: „’Buon giorno, buon giorno, che sorpresa’, rief er, zog vor Lorli artig die Mütze und wandte sich anerkennend an den jungen Mann: ‚O Signor Peter bringen bella Signora mit. – Immer gut, wenn junge, übsche Frau in alte Aus.“ (65f.)

Was Peter Stäubli in der Heimat am schwersten fällt, ist der Verlust an Freiheit. In Brasilien war ihm, wie es heißt, „das Wagnis in Fleisch und Blut übergegangen“, jetzt aber hat er das Gefühl, in einem Käfig von Vorschriften eingesperrt worden zu sein:

Er erinnerte sich seiner Ankunft in Brasilien und wie er hatte lernen müssen, sich der Fremde und ihren Menschen anzupassen. In der Heimat gab es zwar keinen Zuckerhut, der nachts aussieht wie ein drohender Finger. Doch hier drohte etwas anderes, etwas, das sich schon in der Schalterhalle der Hamburger Schiffsgesellschaft und auf dem Konsulat bemerkbar gemacht hatte, und jetzt drohte es sogar in den Abteils des Eisenbahnwagens und auf allen Stationen mit Schildern: Es ist verboten…! Peter lächelte vor sich hin. Nein, er ließ sich von Verboten und Vorschriften nicht imponieren. Er hatte die persönliche Freiheit genossen, jene in der Wildnis und jene im Erwerbsleben, und seither fühlte er sich durchaus nicht als braver Untertan, der die rechte Wange auch noch hinhält, wenn er auf die linke eine Ohrfeige bekommt. (59)

Was in Brasilien noch so selbstverständlich war, gilt plötzlich in der Schweiz als unverschämt. So etwa der Vorschlag, ein bürokratisches Problem mit einem Dreh, einem jeitinho, zu umgehen:

Peter stieg es rot in die Stirne. ‚Fehler hin oder her, ich denke, die Gesellschaft ist für die Reisenden da und nicht umgekehrt’, entgegnete er, und sein Tonfall klang schon ordentlich gereizt. ‚Für einen kaufmännischen Betrieb ist doch eine solche Dispositionsänderung eine Kleinigkeit – wenn Sie wollen.’ Der Angestellte schluckte und machte ein Gesicht, als stoße es ihm sauer auf. ‚Bedaure sehr’, wiederholte er, ‚ich habe nichts zu wollen, ich habe nur meine Vorschriften’. Vorschriften? Peter stutzte. Da war sie doch wieder, diese unfassbare Drohung, die ihn noch unheimlicher dünkte, als seinerzeit jene der Wildnis! (49f.)

Die Konsequenz ist, dass die Erinnerungen an Brasilien immer stärker werden, so dass allmählich eine Art Heimweh einsetzt. Es ist aber kein Heimweh nach der Heimat, sondern vielmehr ein Heimweh, das von der Heimat wegführt, zurück nach Brasilien, so dass er letztlich eingestehen muss, dass seine Reintegration in die Schweizer Gesellschaft gescheitert ist.

Mit einem schweren Atemzug wandte sich Peter zum Gehen, musste sich, während er unschlüssig die Bahnhofstrasse hinaufschlenderte, einige Male entschuldigen, weil er mit eiligen Passanten zusammenstieß, und je länger er über das Geschehen nachdachte, desto deutlicher erkannte er, dass er den Anschluss an die Heimat verpasst hatte. Wie recht hatte doch der brasilianische Freund gehabt, als er ihm gesagt, die Zivilisation werde desto schneller wieder zur Wildnis, je enger die Menschen zusammenwohnen. Zwar trachtete diese Wildnis nicht nach seinem Leben – Noch nicht! Vorläufig forderte sie erst die Preisgabe der Persönlichkeit. (111)

Die Entscheidung nach Brasilien zurückzukehren, die Walter Keller wirklich traf und auch seine autobiographische Romanfigur Peter Stäubli treffen lässt, wurde durch die Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren verzögert und schließlich durch den Kriegsausbruch 1939 verunmöglicht. Auch die nazistische Agitation unter deutschen Auswanderern in Südbrasilien trug dazu bei, dass Walter Keller mit seiner Frau in der Schweiz blieb. Dass er ab 1947 angefangen hatte zu schreiben und mit seinen Büchern einen gewissen Erfolg erlebte, mag diese schwierige Entscheidung durchaus erleichtert haben. Für die innere Unruhe, von der er sich seit der Rückkehr nicht mehr befreien konnte, spricht auch, dass sich Keller politisch gegen faschistische und kommunistische Gruppierungen in der Schweiz engagierte und nach dem Krieg in den Gemeinderat der Sozialdemokratischen Partei gewählt wurde. Die Sachen so zu akzeptieren, wie sie sind, und sich geduldig und gehorsam zu fügen, war für Keller anscheinend nicht mehr möglich. Dank der Politik hatte er wenigstens das Gefühl, durch eigene Initiative einiges ändern zu können. Die Politik wurde so für ihn zu einer Art Ersatz für sein abenteuerliches Leben in Brasilien. Mit der Entscheidung Peter Stäublis, in die Politik zu gehen, beschließt Keller seinen Brasilien-Roman. Peter Stäubli – Was nun? ist somit keine bittere Abrechnung mit der Schweiz aus der Perspektive eines erfolglosen und verbitterten Rückwanderers. Trotz aller Kritik am helvetischen Spießbürgertum zeugt das Werk auch von einem unerschütterlichen Glauben an die demokratischen Ideale des Landes. In diesem Sinne lässt sich durchaus eine Parallele zu Martin Salander ziehen, sei es, dass auch hier die brasilianischen Erfahrungen nicht verdrängt oder abgelehnt, sondern ganz im Gegenteil als ein Mehrwert betrachtet werden, der dem Engagement für eine bessere Schweiz erst einen Sinn erteilt.

Nicht ohne Grund tauchen daher bei der Entscheidung, in die Politik zu gehen, Gedanken auf, die Peter Stäubli für einmal wieder in die Tropen versetzen: „Und da sollte die Politik nicht abenteuerlich sein? Nun, auf der Tribüne wußte einer, dass eine Schlange noch lange nicht das Rückgrat bricht, bloß weil man auf sie schimpft! Man muss sich mit dem Stock in ihre Nähe wagen. Und da er noch immer das Wagnis liebte…“ (384) Es wundert daher auch nicht dass Keller oft Probleme mit der Parteidisziplin hatte. Wenige Monate vor seinem Tod erschien noch sein Roman Anny, in dem er mehrere politische Seitenhiebe auf seine eigene Partei austeilte. Das brachte den sozialdemokratischen Gemeindepräsidenten Max Bryner dazu, Keller später einen „ausgeprägten Individualisten“ zu nennen, allerdings einen, der „stets sich selber treu blieb und nie Opportunist war“. (vgl. Das Volksrecht, 08.09.1965, 14)

Hedwig Kux lobt diesen völlig in Vergessenheit geratenen Roman Kellers mit den Worten: „Immer wieder werden in diesem Roman Werturteile überprüft: Freiheit? Sicherheit? Abenteuer? Sicheinfügen? Gehorchen aus Einsicht? Verantwortung?“. (444) Obwohl es Walter Keller nicht gelungen ist, eine kritische Distanz zu sich selbst einzuhalten (für alles, was schief geht, sind immer nur die andern schuld) und das Happyend etwas forciert wirkt (sobald er in die Politik geht, scheinen alle anderen Probleme gelöst zu sein), hat der Roman durchaus seine Bedeutung als authentisches, wenn auch literarisiertes, Zeugnis der Schwierigkeiten eines Heimkehrers, zumal Keller eine Reihe von Kritiken am bürgerlichen Spießbürgertum der Schweiz vorwegnimmt, die sich Ende der 1960er Jahren unter dem Stichwort „Land der Enge“ mit aller Heftigkeit zurückmelden. (vgl. König, 21ff.)

Der Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung anlässlich des Todes von Walter Alvares Keller war nur kurz; seine literarische Bedeutung war wohl zu gering. Zudem hatte er sich ja für die sozialdemokratische Partei entschieden, was der bürgerlichen Neuen Zürcher Zeitung missfallen haben mag. Auffällig aber ist, wie sehr sich die Zeitung im Nachruf Mühe gibt, den Autor postum noch zu verbürgerlichen. Nicht von etwelchen Schwierigkeiten bei der Integration ist die Rede, hervorgehoben wird vielmehr, dass der Rückwanderer aus Brasilien „in beharrlicher Arbeit eine bürgerliche Existenz in seiner Heimat aufgebaut [hat]“. (vgl. NZZ, 02.09.1965, 16) Es zeigt, wie stark der Druck auf Heimkehrer damals war, sich nach dem Vorbild Martin Salanders den bürgerlichen Lebensidealen der Schweiz folgsam zu fügen. Man liest es fast, als wäre gemeint: Aus dem erfolglosen Auswanderer ist am Ende doch noch ein tüchtiger Schweizer geworden. Immerhin.

Walter Burkart: vom ertränkten Heimweh nach „drüben“

Den Namen Burkart verknüpft man heute in der Schweizer Literaturszene fast automatisch mit der Lyrikerin Erika Burkart (º1922). Wer einigermaßen mit dem Werk dieser Schweizer Autorin, die Heinrich Meyer mal „die größte lebende deutschsprachige Dichterin“ genannt hat,[13] vertraut ist, kennt sicher die tiefe Angst vor dem Vater, die in fast jedem ihrer Bücher auftaucht. Wenige wissen aber, dass ihr Vater, Walter Burkart (1883-1961), einst selber auch ein viel gelesener Autor von Abenteuergeschichten war.

Walter Burkart wurde in Rheinfelden geboren. Nachdem er dort eine kaufmännische Lehre abgeschlossen hatte, arbeitete er zuerst in Basel, später in der Westschweiz, in Marseille und auch in London, wo er zwei Jahre blieb. Von London aus überquerte er 1904 den Atlantik nach Brasilien. Er hielt sich daraufhin sechzehn Jahre lang in Südamerika auf, zuerst als Goldsucher im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais und später als Reiherjäger in den riesigen Sumpfgebieten, die in Argentinien, Paraguay und Bolivien El Gran Chaco und in Brasilien O Pantanal genannt werden. In der Modewelt der zwanziger Jahre waren Reiherfedern sehr gesucht, so dass jedes getötete Tier ein kleines Vermögen wert war. Zur Erholung von Malaria, Gelbfieber und anderen Tropenkrankheiten unterbrach er drei Mal seine Abenteuer für kurze Aufenthalte in Europa. Während des letzten Aufenthaltes in der Schweiz lernte er seine spätere Frau kennen, Marie Glaser, die damals in Irland als Lehrerin arbeitete und wie Walter ihre Ferien in der Heimat verbrachte. Obwohl sich das Paar verlobte, kehrte Walter dennoch nach Brasilien zurück, um dort eine nach Erdöl und Gold ausgeschickte Expedition in Amazonien zu leiten. Erst fünf Jahre später, 1920, kehrte er endgültig heim und heiratete. (vgl. Seelig, 224)

Mit dem Erlös der Reiherfedern kaufte sich Walter Burkart das „Haus zum Kapf“, das ehemalige Sommerhaus der Äbte des nahe gelegenen Klosters Muri im Kanton Aargau. Dort führten die Burkarts eine Wein- und Speisewirtschaft. Dass Walter unbedingt das „Kapf“ kaufen wollte, obwohl es damals fast zu einer Ruine heruntergekommen war, hat einen Grund: Das Haus lag damals noch inmitten einer einsamen Moorlandschaft. Heute ist das ehemalige Sumpfgebiet längst melioriert worden, aber in den zwanziger Jahren muss es wie ein Pantanal im Kleinformat ausgesehen haben, wobei die kleine Reuss mit etwas Phantasie zum riesigen Amazonas anschwellen konnte. Diese Entscheidung kann man so deuten, dass Walter nur widerwillig „sein“ Südamerika verließ und – als ob er die späteren Schwierigkeiten schon vorausgesehen hätte – wenigstens ein Stückchen Tropennatur bei sich behalten wollte. Von der Schwierigkeit, sich von Südamerika zu trennen, zeugen auch die vielen Tierpräparate, mit denen er das Haus dekorierte. Mit seinen ausgestopften Schlangen und Papageien, mit den Affen- und Alligatorschädeln, den Jaguarfellen, einer Sammlung bunter Schmetterlinge und nicht zuletzt mit den in Kuraregift getupften Indianerpfeilen wurde das „Haus Kapf“ zu einer Art Raritätenkabinett, das von den Schulen aus der Umgebung als Attraktion besucht wurde. Nicht ungern pflegte Walter Burkart bei solchen Gelegenheiten seine Lichtbilderschau vorzuführen. Auch brachte er nach der Rückkehr seine südamerikanischen Erlebnisse zu Papier. So entstand das Reisebuch Der Reiherjäger vom Gran Chaco: Als Jäger und Goldsucher vom Amazonas zum La Plata, das zuerst 1931 bei F. A. Brockhaus in Leipzig und dreißig Jahre später auch in der Schweiz beim Schweizer Druck- und Verlagshaus erschien. In seiner Einführung zur schweizerischen Ausgabe hat Carl Seelig über diesen abenteuerlichen Erlebnisbericht nicht mit Lob gespart. Von einer „jägerscharfen Beobachtungsgabe“ ist die Rede, von einem „klassisch-schönen Werk“, das „in der Reiseliteratur der Schweiz (…) überzeitlichen Wert [besitzt]“. (225f.)

In Der Reiherjäger vom Gran Chaco vermittelt Walter Burkart ein Bild der Natur, das heute kaum noch vorstellbar ist. Da das Werk aus der Perspektive des Jägers geschrieben worden ist, wird die Natur prinzipiell als feindlich und grausam dargestellt, als ein Sich-Gegenseitiges-Fressen, dominiert vom Recht des Stärkeren. Illustrativ ist die Art und Weise, wie Walter Burkart das Leben der Krokodile im Pantanal schildert:

Die Krokodilplage würde noch viel größer sein, wenn sich diese Ungeheuer nicht selbst gegenseitig auffressen würden. Es ist ein widerwärtiger, grausiger Anblick, wenn zwei dieser Tiere im Kampfe liegen, wenn sie mit dem Rachen ineinander verbissen sind und dann das Größere das Kleine einige Male durch die Luft hin und her schleudert, bis es den Hals gebrochen hat, sich dann breit hinlegt und mit geöffnetem Rachen seinesgleichen ganz hinabzuwürgen versucht. (89f.)

Jedoch, wie heldenhaft sich der Jäger in seinem Buch auch darstellen mag, nie tritt er als Herrscher über die Natur und die damals noch oft als „Naturmenschen“ charakterisierten Indios auf. Vielmehr beschreibt er, wie er im Laufe der Zeit selber immer stärker Teil der ihn einnehmenden Natur wurde:

Die Zeitrechnung geht gewöhnlich schon nach den ersten sechs Monate verloren. Zuerst weiß man noch, in welchem Monat man sich befindet, doch bald ist man auch hier im ungewissen und hört dann ganz auf zu rechnen. Nun begreift man, wie es den wilden Indianern geht, die nicht wissen wie alt sie sind, die überhaupt den Begriff ‚Zeit’ nicht kennen. Darum sind sie noch die glücklichen Kinder der Natur, es gibt bei ihnen kein Hasten und Drängen nach dem Morgen und Übermorgen. (97)

Hier steht also keineswegs der damals gefeierte germanische Übermensch einer Gruppe primitiver Indios gegenüber. Burkart fühlt sich den Indios (und damit: der Natur) viel näher als den so genannten Zivilisierten.

Für jemand, der sich so stark mit der südamerikanischen Natur identifizierte, war eine Rückkehr in die Schweiz verständlicherweise nicht leicht. Tatsächlich konnten weder die schöne Aussicht des Hauses „Kapf“ noch die ausgestopften Papageien oder die literarische Tätigkeit Burkart von der inneren Unruhe, die ihn seit der Rückkehr quälte, befreien. Er fühlte sich, wie es Carl Seelig formulierte, „in der von Paragraphen ummauerten Schweiz wie ein gefangener Löwe“ und verfiel allmählich dem Alkohol, woran auch die Geburt zweier Töchter, 1922 Erika und 1924 Mimosa, nichts änderte.

Selber hat Walter Burkart nie über diese Schwierigkeiten geschrieben. Im Werk seiner Tochter taucht das Thema jedoch ständig auf. Obwohl man die Figur des Vaters, so wie sie im Werk Erika Burkarts erscheint, nicht mit dem Menschen Walter Burkart gleichsetzen kann – zu Recht mahnt Ernst Halter zu Erika Burkart an: „Was sie über ihre Kindheit schreibt (in Prosa öfter als in Gedichten), [ist] eher Erfindung als Erinnerung“ (232) –, lädt das autobiographisch geprägte Werk dazu ein, die Autorin Erika Burkart mit der Erzählerin und sogar mit der Ich-Figur zu identifizieren. Dies tat z.B. ohne zu zögern Doris Rudin-Lange in ihrer Biographie über Erika Burkart, in der sie schreibt: „Im Roman Moräne gelangt Lilith – das Mädchen, das identisch ist mit der fiktiven Ich-Erzählerin, also mit der Autorin Erika Burkart – im Traum zur Wahlheimat ihres Stiefvaters, der Urwaldjäger war wie der Vater der Dichterin“. (28f.) Selbstverständlich kann eine literarische Figur nie mit einer Autorin „identisch sein“; dennoch scheint es durchaus legitim, ein Bild des Vaters aus Burkarts Büchern zu gewinnen, jedoch immer im Bewusstsein, dass es sich dabei um eine literarische und daher fiktionale Darstellung handelt. Im Gegensatz zu Martin Salander betrifft es aber nicht eine erfundene Figur, sondern die literarisierte Version eines Mannes, zu dem auch andere Daten vorliegen.

Weshalb Walter Burkart die Integration in der Schweiz so schwer fiel, wird anschaulicher, wenn wir zwei Jagdszenen miteinander vergleichen, eine aus Brasilien und eine aus der Schweiz. Fangen wir an mit einer Reiherjagd im Pantanal, wie sie Walter Burkart in Der Reiherjäger vom Gran Chaco beschrieben hat:

Die Jagd auf den Edelreiher ist das Schwierigste, was es für den Weidmann geben kann, denn der überaus scheue Vogel sucht sich die unzugänglichsten Orte für seine Brut- und Schlafplätze aus. (…) Die ersten Reiher müssen gewöhnlich auf große Entfernung mit der Kugel erlegt werden. Sie werden auf ganz einfache Art ausgestopft und als Lockvögel in allen möglichen naturgetreuen Stellungen um das Versteck herum an langen Stöcken im Wasser aufgestellt. (…) Auf den ersten Schuss fliegen sie nach allen Richtungen davon, doch sofort kommt der eine oder andere wieder zurück, um nachzusehen, was denn hier los war; auch er fällt getroffen ins Röhricht. (…) Trotzdem Gesicht und Hände von den blutgierigen Steckmücken bedeckt sind, wird ihrer nicht mehr geachtet, das Jagdfieber hat einen ergriffen. Schuss auf Schuss folgt, immer neue Scharen rücken heran und kreisen über den Lockvögeln. Das dauert etwa eine bis zwei Stunden, dann tritt Ruhe ein, und man kann sich mit der erlegten Beute befassen. Es ist auch höchste Zeit, denn schon sind die Krokodile angerückt und beginnen die Vögel zu verschlingen. Auch Riesenschlangen tauchen auf, um mit blitzartiger Geschwindigkeit ihre sehr beliebte Beute zu erhaschen und wieder unterzutauchen. Manchmal bis zur Brust im Wasser stehend, hat man nach allen Seiten die Augen offenzuhalten und sich zu wehren, damit einem die kostbare Jagdbeute nicht vor den Augen verschwindet. (87f.)

Der Erzähler benutzt hier das neutrale Pronomen „man“, spricht von einem nicht weiter charakterisierten „Weidmann“ und erzählt in einer trockenen Schlichtheit, fast als würde es sich um eine Gebrauchsanweisung handeln. Obwohl absichtlich nicht in der Ich-Perspektive berichtet wird, ist dem Leser klar, wer zwischen den Krokodilen und Riesenschlangen im Wasser gestanden hat. Gerade indem er sich gegenüber dem Geschehenen zurücknimmt, gewinnt der Erzähler an Glaubwürdigkeit, denn er vermeidet so jeden Eindruck von Hochstapelei. Burkart schreibt nicht: „Nur ein ausgezeichneter Jäger wie ich ist für die Reiherjagd geeignet“, sondern „die Reiherjagd ist das Schwierigste, was es für den Weidmann geben kann“. Letztlich aber ist mit beiden Sätzen das Gleiche gemeint. Indem er sich zurücknimmt, stellt Burkart sich selbst ins Zentrum der Bewunderung, als stolzer Jäger, der vor keiner Gefahr zurückschreckt. Bemerkenswert ist auch der Ausdruck „Jagdfieber“, der vom Erzähler benutzt wird, als wäre es eine höhere Macht, die von einem Besitz ergreifen kann und einen gegenüber allen Gefahren gefühllos macht.

Ein solches Jagdfieber kam bei Walter Burkart in der Schweiz nie wieder auf. In Erika Burkarts Der Weg zu den Schafen (1979) wird beschrieben, wie sich der Vater der Ich-Figur nach einer heimischen Jagdpartie fühlt:

Im großen einsamen Sumpf, im Dschungel, in den Fluss- und Pampa-Einöden, die er oft als Erster betreten hatte, war er der große Jäger gewesen, hier, in Gesellschaft der Herrn, die das Weidwerk wie einen Sonntagssport betrieben, fühlte der Jäger aus Not und Leidenschaft sich ebenso fremd wie lächerlich. Die kindische Bewunderung, die seine Schießkunst erntete, verdross ihn nicht weniger als das Misstrauen, mit dem seine hiesigen Jagdkollegen seine Schilderungen fremder Jägerbräuche anhörten. Verbittert und stark betrunken kehrte er von diesen Frosch- und Hasenjagden heim. Immer seltener nahm er teil, die Waffen, die über seinem Bett hingen, blieben unberührt. Im Bett liegend, auch tagsüber, blickte er zu ihnen auf; einzig in seiner Erinnerung fand er die Jagdgefilde, die seiner würdig waren. (121)

Hier lassen sich keine Riesenschlangen oder Alligatoren ausmachen, höchstens vielleicht ein Frosch oder ein Hase, und dies alles in einer Gesellschaft von Leuten, die mit der Jagd keineswegs höhere Gefühle verbinden, sondern das edle Weidwerk zu einem banalen Sport degradiert haben. Kein Wunder, dass Walter Burkart von solchen Jagdpartien verbittert heimkehrte und nur noch in seinen Erinnerungen an „drüben“ und im Alkohol Trost suchte.

Die Unruhe, von der sich Walter Burkart bis zum Tode nicht befreien konnte, und die tragischen Folgen für die Familie haben das Gesamtwerk von Erika Burkart geprägt. Immer wieder lassen sich bei ihr Stellen finden, in denen sie sich mit ihrem Verhältnis zum Vater, oder vielmehr mit dem Fehlen eines solchen, auseinander setzt. In Die Spiele der Erkenntnis (1985) schildert sie, wie ein Kind allmählich den Kontakt zu seinem Vater verliert. Als Kleinkind ist das Verhältnis noch ungestört, da ist der Vater der große, starke Held, bei dem es sich sicher und geborgen fühlt:

Es gab eine Zeit, da das Kind, in den sandigen Furchen zwischen den Wällen stehend, aufmerksam jeden Schritt und Griff des Vaters verfolgte, der ein langes Messer handhabte, das tief in den Boden fuhr und unterirdisch den Spargenstengel durchschnitt. Das Kind durfte den Kessel tragen, in welchen der Vater die Spargeln stellte, die schuppigen Grün- und Lilaköpfe nach oben. (161)

Allmählich jedoch scheint sich der Vater zu entfernen, indem er sich nach und nach in eine andere Welt zurückzieht:

Wohin entfernte sich der Vater vom heranwachsenden Kind? (…) Die Verständnismöglichkeiten wurden weniger. Geduckt saß man bei Tisch und würgte an einem Kloß. Der Schnaps- und Tabakdunst, der, vom Vater ausgehend, die guten Speisegerüche zersetzte, verschlug einem Atem und Appetit. Als etwas, das aus einer anderen Welt kam, nötigte er den Kindern einen mit Ekel vermischten Respekt ab. In stummen Aufmerksamkeiten, die der mächtige Vorsitzende nicht beachtete, die er, auf seine Art gerührt, entgegennahm, warben sie, scheu und scheuer, um die launische Gunst des Vaters. Nachts beschäftigten sich die Gedanken mit ihm, den man ins Gebet einschloss. Ohne Stoßgebete war nicht auszukommen im Haus dieses Vaters. Er verkaufe die Bude, sagte er jedesmal, wenn er betrunken war; Frau und Kinder möchten zum Teufel gehn, er kehre nach Südamerika zurück, auf Nimmerwiedersehen. (161)

In Burkarts neuestem Roman Das Schimmern der Flügel (1994) widerspiegelt sich dieses allmähliche Verschwinden des Vaters im allmählichen Verschwinden der väterlichen Schmetterlingssammlung. Die Schmetterlinge von „drüben“ haben für die Ich-Figur einen hohen emotionalen Wert. Sie sind für sie Teil einer Traumwelt, in der sich alle Gegensätze und Probleme der Wirklichkeit auflösen. Diese Schmetterlinge werden vom Vater, der weiß, welche Bedeutung sie für seine Tochter haben, eine nach dem anderen verkauft. Mit jedem verkauften Falter entfernt sich der Vater ein Stück weiter von seiner Tochter, bis zum völligen Verstummen der Beziehung.

Dieses Verschwinden des Vaters, das sich fast bis zur völligen Auflösung radikalisiert, transformiert ihn allmählich in eine Art Gespenst. Allerdings ist es kein spirituelles Wesen ohne Körper, sondern vielmehr ein Körper ohne Geist, genauer gesagt, ein Körper, dessen Geist nicht bei der Familie in der Schweiz ist, sondern weit weg, in einem imaginären Südamerika. Erika Burkart beschreibt die Figur des Vaters in ihrem Werk grundsätzlich als jemand, der abwechselnd in der Vergangenheit und in der Zukunft lebt, aber nie in der Gegenwart: „Vaters Sätze beginnen mit ‚später’ und ‚früher’: Der Heimweh-Jäger verpasst den Tag.“ (42) In dem Sinne ist auch die Bedeutung des so genannten „Jägerstüblis“ zu verstehen, eines Raumes im „Haus Kapf“, in dem Walter Burkart seine schönsten Trophäen aus Südamerika aufbewahrt hat und wohin er sich im Laufe der Zeit immer mehr zurückzog. Es ist aber mehr als ein bloßer Ort der Erinnerung oder des Heimwehs nach Südamerika; im Jägerstübli kommt Südamerika oder besser das Südamerika seiner Träume wieder zum Leben. Besonders ein Tier aus der Jägerstube hat es ihm angetan, ein Insekt, das er „die fliegende Schlange“ zu nennen pflegt, eine Mischung aus Libelle, Geistermotte und Krokodil, „Vaters Spiritus familiaris“, wie Erika Burkart schreibt. (24)[14]

„Sehnsucht nach drüben!“ oder „Achtzehn Jahre Urwald!“, mit diesen Ausdrücken pflegte die Familie das für Außenstehende sonderbar erscheinende Benehmen Walter Burkarts zu beschönigen. Allerdings, Verständnis heißt noch lange nicht Vergebung. In Burkarts erstem Prosawerk, Moräne (1970), erscheint der Vater in der Gestalt des Monstrums Robur, „ein[es] zum Dämon gesteigerte[n], zum Menschen entwürdigte[n] Affe[n]“ (134), und in Das Schimmern der Flügel als ein Krimineller, der zwar nicht schießt, aber dennoch jedes Mitglied der Familie tief verletzt und bleibenden Schaden zufügt: „Schwarze Kapseln im Gemüt, Samen, aus denen taubes krauses Gewächs hervorgeht. Zivile kleine Feigheiten und neurotische Ängste lassen sich auf sie zurückführen.“ (53)

Obwohl zutiefst verletzt, ist bei Erika Burkart immer auch eine gewisse Zärtlichkeit gegenüber dem Vater anwesend. Bezeichnend ist, wie die Autorin ihre gemischten Gefühle am Todestag des Vaters in Die Spiele der Erkenntnis (1985) schildert: „Die Trauer um ihn und das mit Schaudern sich zugestandene Wissen, man müsse sich nun nicht mehr fürchten, (…) vernichteten sich gegenseitig und erzeugten eine Leere in ihr, aus der sich kein Gedanke ziehn ließ.“ (160) So gemischt die Gefühle beim Tod des Vaters sind, so doppeldeutig ist die Interpretation des Getroffen-Seins im Gedicht „Mein Vater“ aus dem Lyrikband Die Zärtlichkeit der Schatten (1991):

Ein guter Jäger. Ein schlechter Vater. / Mit den Indios, die er liebte, / ist er im Tod nach Westen gegangen. / Seine Urne hat einen Sprung – / nun lachst du, Vater, / du, der du niemals gelacht hast, / der Tod war dein Freund, / in seinem Schatten / liebten wir dich, / immer hast du getroffen, / Vater, auch uns, ins Herz. (50)

Einerseits erinnert hier das Wort „getroffen“ an das wilde Benehmen des betrunkenen Vaters, der bewaffnet durch die Wohnung geistert und droht, Frau und Kind zu erschießen, daneben aber deutet das „Ins-Herz-Getroffen-Sein“ auch auf ein Gefühl der Liebe hin, das die Tochter trotz allem Leiden gegenüber ihrem Vater empfunden haben muss.

So kommt es, dass die südamerikanischen Tiere und Objekte des Vaters auch in die Träume und Phantasien der Tochter hineingelangen. Erst dort gelingt es ihr, ihre Angst und ihren Ekel vor diesen Tieren zu überwinden: „Wäre ich ein Vogel“, schreibt Erika Burkart in Das Schimmern der Flügel, „flöge ich furchtlos an der über eine bauchige Wand gespannten, von vorstehenden Nägeln durchstochenen Haut der Riesenschlange vorbei“. (13) Nicht nur die Schlangenhäute und Tigerschädel werden in dieser Traumwelt friedvoll, sogar die Beziehung zum Vater kann harmonisch werden. Die einzige Stelle im Werk Erika Burkarts, in der sich Vater und Tochter nah kommen, ist jene des Jägerspiels, bei dem beide versuchen, auf der Tapete der Stube Tiere zu entdecken:

Der Vater machte mich auf Vögel aufmerksam, die mit schwarzen Perlaugen hinter Blattpranken hervoräugten. Eine Grauzone beherbergte eine Reiherkolonie, und in einem bis auf undefinierbare Taschierungen ausgebleichten Schilftümpel stöberte er den Weißen Hirsch auf. Umsonst habe ich später versucht, die Tiere wiederzufinden, die Vaters Blick und Wort in den Tapetenhain hinein- und aus ihm hervorgezaubert hatten. (180)

Sie finden sich in einer Welt der Imagination, wo nicht das gilt, was ist, sondern das, was einen die Phantasie sehen lässt. So werden die südamerikanischen Erinnerungen des enttäuschten und heruntergekommenen Vaters nach und nach von der Tochter aufgenommen, bis zu dem Stadium, in dem, obwohl Erika Burkart nie in Südamerika war, die brasilianischen Wälder, Sümpfe und Flüsse mit ihrem ganzem Reichtum an Pflanzen und Tieren ebenso zu ihrem Werk gehören wie die Tannen und Eichen, die um das „Haus Kapf“ rauschen.

Ob Burkarts Alkoholabhängigkeit, Kellers politisches Engagement oder Dranmors monatlicher Umzug – ein jahrelanger Aufenthalt in Brasilien machte die Rückkehr in die Schweiz offenkundig zu einem schwierigen Prozess. Weder Walter Alvares Keller, noch Dranmor oder Walter Burkart sind große Autoren, aber ihre Schicksale sind in jeder Hinsicht durchlebt. Im Vergleich zu ihnen steht Gottfried Kellers Held Martin Salander, dem sogar nach sieben Jahren Brasilien „nichts Fremdes anhaftet“, blass und unglaubwürdig da. Die kontrastive Gegenüberstellung zeigt, wie ergiebig es sein kann, an bekannte Themen aus der Schweizer Literatur aus einer ungewohnten Perspektive heranzugehen und dazu vergessene Autoren neu zu lesen.

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  1. [1] Eine Definition dieser Konzeption findet man bei dem an der Princeton University lehrenden ghanaisch-britischen Philosophen Kwame Anthony Appiah, der in Identities (1996) den Unterschied zwischen Amerikanern und Europäern in Sachen Identität und Nationalbewusstsein dadurch erklärt, dass es in der Alten Welt in allen Territorien Menschen gibt, die glauben, schon immer dort gewesen zu sein, während sich in der Neuen Welt jeder als jemand begreift, der aus allen möglichen Gründen von anderswo kam. Entsprechend ist in Europa die Einstellung ganz ‘natürlich’: Wir gehören hierher, ihr seid unsere Gäste, also diktieren wir die kulturellen Normen.
  2. [2] Der Zürcher Christian Heusser, der mehrere Jahre in Argentien gelebt hatte, reiste am 11. Dezember 1856 als Schweizer Gesandter nach Brasilien, wo er über die schwierige Lage der dortigen Schweizer Kolonisten zu berichten hatte. Mit Heusser hatte Keller eine erstklassige Informationsquelle zu Brasilien. Es ist daher keineswegs Zufall, dass in Kellers Gesamtwerk gelegentlich Hinweise auf Brasilien auftauchen, dies nicht nur in Martin Salander, sondern auch in Das Sinngedicht (1881). Zu Heusser und den Schweizer Emigranten in Brasilien, siehe Dewulf (2002). Zu der Freundschaft zwischen Keller und Heusser, siehe Ermatinger (1924), S. I-218 u. 382.
  3. [3] Siehe Young: „Herder claims that individuals, and the character of nations, develop not only in relation to the local climate (a common Enlightenment assertion) but also in intimate connection to the land and the specific popular traditions that develop out of it. Herder’s emphasis (…) on an intrinsic link between particular people and specific places was later developed into polygenist theories of ‘acclimatization’ and ‘non-acclimatization’, such as those of the Swiss-American biologist Agassiz, who argued that distinct human types (in effect, species) developed in different regions of the world, and degenerated when taken from them.“ (38)
  4. [4] Siehe Young: „[Herder’s] hostility to slavery is based not on the immorality of slavery per se, but on the iniquity of tearing peoples away from their native land; in the same way, his attacks on colonialism do not censure it on the basis of unjustified oppression and exploitation of other peoples but rather because he considers that it will inevitably destroy the fundamental unifying principle that every nation is one people, having its own national form, as well as its own language.“ (39)
  5. [5] Die Idee, wonach Europäer in der Neuen Welt unvermeidlich degenerieren würden, findet sich auch bei Christoph Meiners, im Aufsatz „Über die Ausartung der Europäer in fremden Erdtheilen“ (1791). Siehe dazu Zantop (1997), S. 94. Wie groß damals unter deutschen Auswanderern die Angst war, in Brasilien zu degenerieren, mag folgende Anekdote des Schweizer Naturwissenschaftlers Johann Jakob von Tschudi über die deutsche Kolonie Neu-Petropolis (in der Nähe von Rio de Janeiro) illustrieren: „Die meisten von ihnen sprechen deutsch, natürlich immer den Dialekt ihrer Herrn. Der schon erwähnte Pastor Klingelhöfer soll einen Schlingel von Neger gehabt haben, der den reinsten Hundsrückdialekt sprach. Wenn Schiffe mit Auswanderern anlangten, so machte er sich den Spaß und begrüßte die Ankömmlinge als Landsleute. Wenn ihm dann irgendeiner der gaffenden ihn umstehenden Bauern schüchtern die Bemerkung machte: ‚Aber Sie sind ja schwarz’, so erwiderte er mit trauriger Miene: ‚Wenn ihr einmal wie ich 30 Jahre in diesem Lande gelebt habt, so werdet ihr genau ebenso ausschauen!’ Manches Mädchen soll sich bei dieser Bemerkung weggestohlen und bitterlich über seine schwarze Zukunft geweint haben.“ (27f.)
  6. [6] Vgl. Conradi: „Das ist es ja eben: Unsere Literatur ist überreich an Romanen, Epen, Dramen – an sauber gegossener, feingeistiger, eleganter, geistreicher Lyrik – aber sie hat mit wenigen Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Imposantes, Majestätisches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinster, intimster Menschlichkeit an sich trüge! (…) Wie gesagt: mit wenigen Ausnahmen. Zu diesen rechne ich u.A. Dranmor, Lingg, Grosse, Schack, Hamerling. Vor allen Dranmor. Er ist eigentlich der Einzige, der in seinen Dichtungen einen prophetischen, einen confessionellen Klang anschlägt. Bei ihm fließt jede Strophe aus einer ernsten, tiefen, gewaltigen, vulkanischen Dichternatur. Aus ihm spricht ein großartig erhabener Dichtergeist. Dranmor darf mit seiner hinreißenden Intimität, seiner machtvollen Bildnerkraft, seiner lebendigen Künstlerwahrheit, seiner freien, kosmopolitisch-germanischen Weltanschauung, uns jüngeren Stürmern und Drängern, die wir alles epigonenhafte Schablonenthum über den Haufen werfen wollen, weil in uns ein neuer Geist lebt, wohl Meister und Führer sein.“ (III)
  7. [7] Es betrifft hier allerdings eine später bearbeitete Version dieses Gedichtes. Im Original aus dem Jahre 1841, hiess die erste Strophe noch: Ich möchte schlafen gehn, / Dort wo die Hügel wallen, / Und wo die Tannen stehn, / Dort möcht’ ich niederfallen / Und ohne Herzensqual / Zum letzten mal / Die blaue Wolken sehn / Und ewig schlafen gehn. (vgl. Günther, 70)
  8. [8] Vgl. „Arm bin ich ausgegangen, arm kehre ich nach 42jährigem Exil zurück“. (vgl. Vetter, 58)
  9. [9] Zu erwähnen ist hier seine Übersetzung von Gonçalves Dias’ Exillied „Canção do Exílio“; aber auch das berühmte „Marília“ von Tomás Gonzaga wurde von ihm übertragen. Nicht ungern behandelte Dranmor in seiner Poesie brasilianische Themen, und dies zu einer Zeit, als das in Brasilien selber noch revolutionär war. Dies z.B. im Gedicht „Saudades“ oder in der gereimten Verserzählung „Januario Garcia“, die auf eine brasilianische Volkssage über einen tragischen Fall von Blutrache zurückgeht. In seinem bekanntesten brasilianischen Gedicht „Febre Amarela“ stellt Dranmor das Gelbfieber, dessen Ursache und Erreger damals noch unbekannt waren, als eine Rache Afrikas am Sklavenhandel in Brasilien dar: „Schleichend kam der Feind, doch immer fester, / Immer rascher, kühner ward sein Gang, / Seine Herkunft ist ein Schreckensklang, / Pest die Mutter, Cholera die Schwester; / Mitleidslos sein Blick, / Der aus schwarzen Augenhöhlen zündet, / Unerwartet, ach! und unergründet / Kam er, wie ein rächendes Geschick. / Ausgespien von Guineas Küste, / Deren arme Kinder ihr geraubt, / Ihr, die an Vergeltung nie geglaubt, / Stillt er jetzt dämonische Gelüste.“ (vgl. Honegger, 26ff.)
  10. [10] Pensées recueillies par Dranmor und Cosmos Littéraire: Recueil international de fragments poétiques, extraits, traductions et imitations (beide 1886).
  11. [11] In „Eine Nachtwache“ (1858) nennt er Suez und Panama „unsere neuen Wallfahrtsorte“. (vgl. Honegger, 40)
  12. [12] Vgl.: „Erschüttert ist der schöne Christenglaube, / Doch mächtig bleibt der Drang, mit unserm Staube / Der Nachwelt neue Tempel aufzubauen. / Sie aber wird zu andern Göttern beten / Und unseren Werken wenig Achtung zollen.“ (vgl. Schaffroth, 15)
  13. [13] Vgl. Rudin-Lange, 11. Zu erwähnen ist hier auch die beeindruckende Reihe von Literaturpreisen, mit denen Erika Burkart ausgezeichnet worden ist: Droste-Preis (1957), Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (1961), Johann-Peter-Hebel-Preis (1978), Mozart-Preis (1990), Joseph-Breitbach-Preis (2002) und Schiller-Preis (2005).
  14. [14] Das Tier ist allerdings keine Schlange. Durch eine Analyse der mir von Erika Burkart zugeschickten Fotos stellte sich heraus, dass es sich um ein, auch in Südamerika, seltenes Insekt handelt, die Fulgora laternaria. Das Tier beißt nicht, kann jedoch bei Gefahr spucken. Da es Pflanzen mit – für Menschen – toxischen Stoffen frisst, kann es sein, dass der Speichel des Tieres den Tod eines Menschen herbeiführt. Es wird daher von den Indios Südamerikas sehr gefürchtet.