Die Übersetzung von Rhythmus: Hölderlins Transitprogramm hin zu einer „belebenden Kunst“
Boris Previsic
Abstract:
Die Übersetzungen Hölderlins nach 1800 veranschaulichen seine ganz besondere Aneignung des griechischen Rhythmus: Während in einer ersten “metrischen Phase” zunächst die Metren und vor allem auch die äolischen Perioden des antiken Chorgesangs von Sophokles direkt von der Vorlage übernommen werden, entfernt sich Hölderlin zusehends davon, so dass er gegen Schluss der Übersetzungen von Oedipus und Antigonä zu einem Eigenrhythmus findet, der die rhythmisch-periodischen Muster der griechischen Vorlage verstärkt. Je mehr sich der Dichter rhythmisch vom Original entfernt und sich Freiheiten erlaubt, desto mehr imitiert er wiederum dessen Grundrhythmus. Diese gegenläufige Doppelbewegung, die so genannte “hesperische” Tendenz, die Hölderlin aus dem Übersetzungswerk gewinnt, bildet die rhythmische Grundlage der großen Gesänge wie beispielsweise “Friedensfeier”, “Der Rhein” und “Patmos”. Erst in der streng formalen Analyse des prosodischen Rhythmus, wie sie in diesem Artikel unternommen wird, kann Hölderlins kulturelles Transitprogramm erfasst werden.
Wohl am ausführlichsten und als einer der ersten hat sich Friedrich Beißner im Vorfeld seiner Stuttgarter Ausgabe dem Rhythmus in den Übersetzungen Hölderlins gewidmet.1 Er ist sich der Bedeutung des Rhythmischen bei Hölderlin von Anfang seiner editorischen Tätigkeit an bewusst. Während er in der Besprechung der Pindar- und der Sophoklesübersetzungen sehr genau auf stilistische Verschiebungen innerhalb von metrischen Mustern eingeht, die gerade in Bezug auf den freien Vers sehr interessant sein könnten, verliert er sich leider in Briefstellen und Sekundärliteratur, wenn er auf die so genannten „Vaterlandsgesänge“ im Übergang zwischen „Griechenland und Hesperien“ zu sprechen kommt.2 Hier klafft eine Lücke, die es auszufüllen gilt. Die dichte Übersetzungsphase Hölderlins erstreckt sich über eine relativ kurze Zeitspanne von zweieinhalb Jahren: Sie beginnt sehr wahrscheinlich im Frühjahr 1800, als Hölderlin einzelne Chöre aus der Antigonä übersetzt, und endet spätestens im November 1802 mit der Einsendung der beiden Sophokles-Tragödien an den Vermittler Fritz Horn.3 Zwar hat Hölderlin bereits vor dieser intensiven Phase Bruchstücke insbesondere aus Ovids Metamorphosen und Homers Iliade übersetzt. Doch erst ab 1800 ist ein neuer Stil auszumachen, der sich vom Bisherigen klar abhebt, weil sich Hölderlin mit dem Metrum des Originals und so mit der Signifikantenebene des ursprünglichen Wortmaterials eingehender zu beschäftigen beginnt.
In diesem Zusammenhang ist – darauf verweist auch Beißner – Hölderlins poetologischer Entwurf Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig erhellend. Dieser im Stuttgarter Foliobuch niedergeschriebene Aufsatz entsteht im Frühjahr 1800 gleich zu Beginn von Hölderlins intensiver Übersetzungsphase. Darin wird versucht, gattungspoetische Grundsätze in Bezug auf die Kant’schen Reflexionsbegriffe von „Form“ und „Materie“ der Kritik der reinen Vernunft festzulegen:
Zwischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts. Sie ists, die dem Gedichte seinen Ernst, seine Vestigkeit, seine Wahrheit giebt, sie sichert das Gedicht davor, dass die freie idealische Behandlung nicht zur leeren Manier, und Darstellung nicht zur Eitelkeit werde. Sie ist das geistigsinnliche, das formalmaterielle, des Gedichts […].4
In den Begriffen „geistigsinnlich“ und „formalmateriell“ werden die Antonyme „Geist“ und „Sinn“ sowie „Form“ und „Materie“ zusammengedacht. Ins Zentrum der Betrachtung rückt der Zwischenraum, in dem der „Geist“ nicht nur in der „Verfahrensweise des poëtischen Geistes“ auf den „Stoff“ angewiesen ist, sondern ebenso im „poetischen Ich“ (FHA 14, 309). Der Gedankengang, der auf die Begründung des Wechsels der Töne zusteuert, ist zunächst in nicht enden wollende Konditionalstrukturen eingebunden, welche die Bedingtheit des dichterischen Ausdrucks selbst offenlegen.
Wenn sie [die Verfahrensweise des poëtischen Geistes] die wahre ist, so muß noch etwas anders in ihr aufzufinden seyn, und es muß sich zeigen, dass die Verfahrungsart, welche dem Gedichte seine Bedeutung giebt, nur der Übergang vom Reinen zu diesem Aufzufindenden, so wie rükwärts von diesem zum Reinen ist. (Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen.)5
Damit entwickelt Hölderlin äußerst knapp eine semiotische Metakritik des „Übergangs“. Das enigmatische „etwas anders“ bzw. das „Aufzufindende“ bildet nicht nur den Ziel-, sondern auch Ausgangspunkt jener semiotischen „Verbindung“, welche „dem Gedichte seine Bedeutung giebt“; so wird nicht nur zwischen dem „Reinen“ und dem „Aufzufindenden“, sondern auch zwischen dem „Objektiven“ (kantisch: „Stoff“) und dem „Subjektiven“ eine Brücke geschlagen:
[…] so ist nothwendig, dass der poëtische Geist […] nicht blos objektiven Zusammenhang, für den Betrachter, auch gefühlteren und fühlbaren Zusammenhang und Identität im Wechsel der Gegensäze gewinne […].6
Die Ästhetik („für den Betrachter“) ist nicht einfach Dargestelltes; es muß auch „gefühlt“ und „fühlbar“ sein. Obwohl Hölderlins Aufsatz Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig … fragmentarisch bleibt, so ist der daran anschließende „Wink für die Darstellung und Sprache“7 aufschlussreich. Denn im ganzen Verfahren wird der Sprache schließlich eine a-priori-Funktion zugeschrieben, die auf dem Höhepunkt poetischer Erkenntnis des „Unendlichen“ eintritt:
In eben diesem Augenblike, wo sich die ursprünglich lebendige, nun zur reinen eines Unendlichen empfänglichen Stimmung geläuterte Empfindung, als Unendliches im Unendlichen, als geistiges Ganzes im lebendigen Ganzen befindet, in diesem Augenblike ist es, wo man sagen kann, dass die Sprache geahndet wird, und wenn nun wie in der ursprünglichen Empfindung eine Reflexion erfolgte, so ist sie nicht mehr auflösend und verallgemeinernd, vertheilend, und abbildend, bis zur blosen Stimmung, sie giebt dem Herzen alles wieder, was sie ihm nahm, sie ist belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war, und mit einem Zauberschlage um den andern ruft sie das verlorene Leben schöner hervor, bis es wieder so ganz sich fühlt, wie es sich ursprünglich fühlte.8
Hier manifestiert sich eine Präsenz der Sprache, welche nicht mehr mimetisch („abbildend“), generalisierend („verallgemeinernd“) oder analytisch („auflösend“ und „vertheilend“) wirkt, sondern „das Leben“ selbst „hervorruft“, in dem das Geistige „im lebendigen Ganzen“ aufgehoben ist. So wird die Dichtkunst zur „belebenden Kunst“ in dem Moment, in dem sie sich ihrer Sprachlichkeit versichert:
[…] es ist vorzüglich wichtig, dass [der Dichter] in diesem Augenblike nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe, daß die Natur und Kunst, so wie er sie kennen gelernt hat und sieht, nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist […].9
Die damit verbundene Vorrangstellung der Sprache vor dem abstrakten Gedanken („Natur und Kunst“) stellt in der Übersetzung die größte Herausforderung dar. Die Bedeutung ist nicht mehr vermittelndes Tertium zwischen Ursprungs- und Zielsprache. Vielmehr lässt sich etwas genuin Sprachliches direkt übertragen. Es gilt, den „Zauberschlag“ zu erproben, der das „verlorene Leben“10 in der Dichtung wieder „fühlbar“ macht. Während sich ein großer Teil der kritischen Hölderlin-Forschung bis heute weitgehend der „Reflexion“ widmet, welche „verallgemeinernd, vertheilend, und abbildend“ als „vergeistigende Kunst“ wirkt, soll hier nun die Wende zur Dichtkunst als „belebende Kunst“ anhand „formalmaterieller“ Überlegungen zu den Übersetzungen nachgezeichnet werden.
Die Beschäftigung mit dem „[F]ormalmateriellen“ lässt sich in der Frühphase der intensiven Übersetzungstätigkeit im Frühling 1800 aus dem metrischen Schema der Parodos, des ersten Chors, aus der Antigonä ablesen. Es wird vermutet, dass dazu eine Übersetzung ins Deutsche verfertigt wurde, welche leider als verschollen gilt. Hier scheint sich Hölderlin intensiv mit dem Rhythmischen des griechischen Chors, mit der metrisch komplexesten Form überhaupt, auseinanderzusetzen. Es ist ein Bemühen auszumachen, welches zunächst auf das abstrahierte Formale, auf das Schematisierte des sinnlich wahrnehmbaren Rhythmischen abzielt. In den Pindarübertragungen jedoch, die abgesehen von den paar Anfangszeilen der ersten olympischen Ode mit hoher Wahrscheinlichkeit wenig später entstehen,11 übernimmt Hölderlin das metrische Schema des Originals nicht mehr. Es wird ersetzt durch eine Wort-für-Wort-Übersetzung.12 Dem Rhythmus wird keine Beachtung mehr geschenkt, da er – so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick – auf die Syntax reduziert wird. So bemerkt auch Beißner, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den vor April 1797 entstandenen Ovidübertragungen und denjenigen Pindars bestünde. Während sich Hölderlin „der Ovidischen ‚Töne‘ und ihres ‚Wechsels‘“ sowie „der äußeren Form, des Metrums“ sicher gewesen sei,13 so „stand er dem Pindar“ „ganz anders“ gegenüber: Weder „dessen formendes Gesetz“ sei ihm verständlich gewesen, „noch konnte ihm durch irgendeine Analogie in der Tradition der deutschen Dichtung Pindars enkomische Chorlyrik verständlicher werden“.14 Hölderlin – so Beißner weiter – werde durch Pindar „zu ganzer Bewusstheit geweckt“, da er zu einem „Hinhören“ gezwungen worden sei.15 Dieser Fokus auf das Akustische lässt sich in dem Zusammenhang fruchtbar machen. Denn dadurch wird das Geistige sinnlich. Beim Metrum handelt es sich nicht mehr um ein abstraktes Schema, weil es „in der alten Sprache eine ganz andere Funktion hat als in seiner Dichtung, dass es inniger mit der Sprache selbst verbunden ist und, in seiner strophischen Gliederung, sich dem Übersetzer bei seinem Geschäft nicht so unmittelbar und ohne weiteres gibt wie der stichisch wiederholte Vers.“16 Vielmehr entwickelt sich der Vers aus sich selber; man ist ständig auf der Hut, den individuellen, ständig wechselnden Rhythmus zu erfassen, welcher sich nicht einmal in der strophischen Gliederung wiederholt. Damit wird die Wende der Dichtkunst zur „belebenden Kunst“ vollzogen. Auf den daraus entwickelten freien Vers anspielend, vermerkt Beißner weiter:
„Diese neue Verfahrensweise macht dann auch in der Übersetzung den eigenen Hölderlinischen Ton frei.“17 Doch wie das geschieht, lässt er offen. Sattler präzisiert den Sachverhalt, indem er von einer „Befreiung der eigenen Sprache im Dienst einer anderen“18 spricht, was im Hinblick auf Hölderlins späteren Gesang zu verstehen ist. So schreibt Hölderlin gegen Schluss seiner intensiven Übersetzungsphase an Niethammer im Bewerbungsschreiben vom 23. Juni 1801 für eine Lehrstelle an der Universität:
Ich habe im Sinne, nach Jena zu gehen und möchte mich dort auf dem Gebiete der griechischen Literatur, die in den vergangenen Jahren der Haupttheil meiner Beschäfftigung gewesen ist, mit Vorlesungen nüzlich machen, indem ich Jünglingen, die sich dafür interessieren, die Karakteren der großen Dichtungen zeige und ihnen erkläre, was für ein Geist es war, der den Stoff zu organisiren und darin das poetische Leben zu befreien vermochte.19
Weder Regeln noch Schemata, sondern der „Geist“ „organisir[t]“ „den Stoff“. Damit gerät auch das „geistigsinnliche“ neben dem „formalmateriellen“ wieder ins Blickfeld. „[O]rganisiren“ impliziert bei Hölderlin immer auch Organizität und hat mit den einzelnen Gliedern eines lebendigen Körpers, mit mikro- wie auch makroformalen Einheiten zu tun. In den „vergangenen Jahren“, in denen sich Hölderlin hauptsächlich mit der „griechischen Literatur“ auseinandersetzt, hat er sich in die Extreme der Übertragung vorgewagt: Anfangs in die strikte Übernahme des griechischen Metrums, darauf in die Syntax. So kann die These aufgestellt werden, dass sowohl die ersten Sophokles-Übersetzungen wie auch in der Folge die Pindar-Übertragungen Bestandteil einer einzigen Übergangsbewegung bilden, nämlich der Bewusstwerdung des „[F]ormalmateriellen“. Einleuchtender scheint mir jedoch, dass es sich bei den Sophokles-Übersetzungen, da es sich um das Genre des Dramas handelt, um eine Bewegung, bei Pindar im spezifischen Odenschaffen um eine andere handelt. Die Transitbewegung wird somit immer von einer Gegenbewegung begleitet, was später auch in der rhythmischen Bandbreite des freien Verses zum Ausdruck kommt. Dieser Artikel konzentriert sich im Folgenden auf die Sophokles-Übersetzungen, wobei zunächst das Augenmerk auf die metrische Anfangsphase und erst dann auf die Schlussphase gerichtet wird.
Aus dem Frühling 1800 sind uns das metrische Schema der Parodos sowie die Übersetzung des ersten Stasimons aus der Antigonä und die Übertragung der ersten Verse aus Euripides’ Bacchantinnen überliefert.20 Der großformale Choraufbau im Drama entspricht der Strophenfolge aabb, wobei hier a eine Art Ode „with strophic lyric stanzas alternating with chanted anapaests“ und b quasi episch „with the flow of lyric dactyls“ sind.21 Da Hölderlin beim Niederschreiben des metrischen Schemas der Parodos den Wortlaut sehr wahrscheinlich „aus dem Gedächtnis wiedergegeben“ hat22 und „mehr den ohrenfälligen Takt skandiert, als dass er die Quantitäten mäße,“23 unterlaufen ihm einige Unregelmäßigkeiten, die in Bezug auf seine Übertragung des Metrums ins Deutsche erhellend sind. Nebst der Tatsache, dass Hölderlin möglicherweise größere Teile seiner zu übersetzenden Dramen bereits auswendig kennt, erstaunt zudem, dass er – wie es Beißner nennt – den „Takt skandiert“. Schon die angedeuteten Taktstriche im Schema verweisen auf die dem Deutschen und nicht dem Griechischen typische Skansion. Mit anderen Worten: Bereits die durch Hölderlin vorgenommene Schematisierung entspricht mehr der Ziel- als der Ausgangssprache. Aus der senkrechten Linienführung im Manuskript, welche sich zum Teil durch die Versfüße schlängelt, wird ersichtlich, dass die Taktierung erst nachträglich vorgenommen wird. Dies wiederum bedeutet, dass eine zunächst rein quantitative Metrisierung in eine skandierte überführt wird, welche den Vers in kata metron, in regelmäßige Takteinheiten, uminterpretiert und so die äolischen Perioden nicht kata metron vor allem der Anfangsstrophen auflöst. Damit schematisiert und systematisiert Hölderlin die erste Hälfte der Strophe folgendermaßen:
Während sich in den Versen 6 und 7 aufgrund einer anderen als heute gebräuchlichen Fassung, in Hölderlins Juntina-Version, Änderungen ergeben, entspricht das Schema – abgesehen von den grau markierten Stellen – genau der heute noch gültigen Version.24 Neben der unbegründeten Verwechslung von Länge und Kürze im vierten Vers ist die Verwendung einer Kürze statt einer Länge im dritten und achten Vers auf die Skandierung zurückzuführen, welche den Unterschied zwischen Spondeus und Trochäus einebnet, wie dies auch der spätere Klopstock im Unterschied zu Moritz propagiert.25 Die ersten drei Verse entsprechen jeweils einem Glykoneus (XX–uu–u–) und modulieren innerhalb der Strophe anschließend über variierte choriambische Dimeter (Grundform : –uu– –uu–)26 zu einem Pherekrateus im elften Vers (XX–uu– –). Das Verfahren Hölderlins, das die äolischen Perioden wie die Glykoneen und den Pherekrateus durch die Festlegung von Takten durchbricht, reduziert den Vers jedoch auf seine Füße. Es scheint, als ob Hölderlin eine vertikale Regelmäßigkeit eruieren will, um daraus ein metrisches Gesetz abzuleiten. Dieses Verfahren entfremdet das metrische Schema dem griechischen Original, welches durch die Vielfalt der horizontalen Rhythmusbewegungen bestimmt ist. Wie bereits erwähnt, ist uns leider von Hölderlin keine Übersetzung, welche auf diesem Schema basieren würde, überliefert, um ein erstes Resultat dieser Umformung analysieren zu können. Hingegen stammt die Übersetzung des ersten Stasimons, des zweiten Chorlieds der Antigonä, aus derselben „metrischen Phase“. Darauf Bezug nehmend, gibt Beißner seiner Verwunderung Ausdruck, „dass bislang niemand von denen, die sich mit Hölderlins Übertragungen beschäftigten, erkannt hat, dass diese Wiedergabe metrisch ist, zum mindesten metrisch gemeint ist.“27 Obwohl diese erste Übersetzung noch nicht abgeschlossen ist und somit hier eine einsichtige Version hergestellt werden muss, welche sich möglichst nahe an der Manuskriptseite 44 des Stuttgarter Foliobuchs orientiert und hier aus den verschiedenen Lesarten der Herausgeber Beißner, Sattler und Knaupp besteht, ist eine strikte Einhaltung des griechischen Metrums auszumachen. Dies zeigt sich unter anderem in der Klammer um die Silbe „-gel-“ von „Geflügelten“ im sechsten Vers und in der Aufzeichnung eines Daktylus (–uu) im Vers 8. Einerseits ist also Vorsicht geboten, da es sich erst um eine anfängliche Version handelt, andererseits können bestimmte Zwischenergebnisse, welche bereits im Schema der Parodos festgehalten wurden, nochmals erhärtet sowie durch andere ergänzt und damit der Umgang mit dem griechischen Metrum verfeinernd dargestellt werden. Während an den grau markierten Stellen das Metrum des Originals von demjenigen der Übersetzung abweicht, sind Endbetonungen fett gekennzeichnet:
Wie bereits im Schema zur Parodos kann auch hier ein Spondeus durch einen Trochäus ersetzt werden. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn er in den zwei unbestimmten Anfangspositionen (XX …) einer äolischen Periode zu liegen kommt (str. 1, v. 2 sowie str. 2, v. 4). Was Hölderlin noch nicht zuvor entscheiden konnte, weil durch die Taktierung des metrischen Schemas die Perioden auf Versfüße reduziert werden, lässt sich hier bestätigen: Allein die zweite Position im Glykoneus kann von einer Länge auf eine Kürze reduziert werden, da sie auch im Griechischen als anceps kurz oder lang sein kann. Damit schließt sich Hölderlin also nicht der durch Klopstock revidierten Auffassung an, ein Spondeus könne durch einen Trochäus ersetzt werden. Vielmehr bewegt sich Hölderlin in seiner „metrischen Phase“ streng innerhalb der antiken Regeln. Dennoch sind die unvollständigen Glykoneen in der ersten Strophe (str. 1, v. 3f.) und der anaklastische Pherekrateus (str. 1, v. 10) nicht erklärbar. Entweder ist die metrische Angleichung noch in einem sehr rudimentären Stadium, oder aber – und dies trifft wohl mit größerer Wahrscheinlichkeit zu – entwickelt hier Hölderlin ein Verfahren, welches auf der Basis des griechischen Metrums ins Deutsche übertragen wird. Man muss sich beispielsweise fragen, warum die beiden hinten gekürzten Glykoneen in der ersten Strophe zu Pherekrateen mutieren. In Ansätzen ersetzen hiermit die einen Perioden bereits andere und permutieren so im Deutschen häufiger als im Griechischen. Die Übersetzung Hölderlins erweist sich als „belebende Kunst“28 im „formalmateriellen“. Diese Beobachtungen sollen mit dem am Ende seiner intensiven Übersetzungsphase entwickelten Verfahren verglichen werden, um Hölderlins neuen rhythmischen Umgang vollständig zu erfassen.
Mit der Zeit kristallisiert sich ein Übersetzungsverfahren heraus, welches für den freien Vers Hölderlins zukunftsweisend sein wird. Dies kann vor allem an der Schlussversion der zwei bereits rhythmisch analysierten Anfangschöre aus der Antigonä aufgezeigt werden, welche in der Bordeauxzeit Anfang 1802 entstanden sein muss. Während im zuerst fertiggestellten Ödipus die Machart noch sehr den Pindar-Übersetzungen gleicht, findet Hölderlin in der Antigonä immer mehr zu einer eigenen Sprache. So sind „die Parodos der Antigonä-Übersetzung und die ihr folgenden Chorlieder im Rhythmischen einheitlicher und gebundener als die ersten Ödipus– Chöre, in denen sich bestimmte Linien der Melodie, wie immer sie der Einzelne in seinem Vortrag führen mag, nicht aufzeigen lassen.“29 Obschon immer noch davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei der Übersetzung für die Druckversion der Antigonä um ein aus der Beschäftigung mit Pindar gewonnenes Verfahren handelt, welches einer Wort-für-Wort-Übertragung den Vorzug gibt, klingen dennoch metrische Muster des Originals auch im Deutschen an. Beißner spricht vom „glykonischen Fall“30 in den Versen 1 und 18 der ersten Strophe der Parodos, wovon – wie bereits besprochen – vorher nur das metrische Schema überliefert ist. Er bestimmt dann jedoch die Einheit der Strophe weniger aufgrund rhythmischer als vielmehr semantischer Kriterien.31 Die rhythmische Analyse der ersten zwei Strophen (Strophe und Antistrophe, die im Original gleich metrisiert sind) bestätigt nicht nur den Hinweis Beißners auf die Glykoneen, sondern zeigt auch auf, dass die rhythmische Einheit durch äolische Perioden entsteht, welche noch öfter als in der griechischen Originalversion verwendet werden. Erst dadurch erhält die Übersetzung – um mit Beißner zu sprechen – den „einheitlichen Strophenschwung:“32
Sowohl die choriambischen wie auch die jambischen Passagen sind sich ähnlich. Der Unterschied zwischen äolischen und metrischen Passagen ist – phänomenologisch betrachtet – nicht groß. Denn nur die Position der Doppelsenkung entscheidet darüber, ob der Vers der Kategorie kata metron oder nicht kata metron angehört. Im Deutschen handelt es sich dabei um Unterscheidungen innerhalb einer bestimmten Klasse und nicht um Einteilungen in zwei Gegensätze, wie sie noch im Griechischen galten. So fungieren bestimmte Passagen – unabhängig davon, ob sie nun metrisch oder äolisch sind –, wie zum Beispiel Anfang der zweiten Strophe die Verse 3 und 4, als Modulationen: Vom akephalen Glykoneus („Voll blutiger Spieße, rings“ = u-uu-u-) zum akephalen Pherekrateus („Noch ehe von unsrem“ = u-uu-u) findet ein choriambisch-jambischer Übergang statt, indem zunächst die Doppelsenkung nach hinten verschoben wird, dann der Anfangsjambus entfällt und schließlich eine Senkung am Schluss den akephalen Pherekrateus vervollständigt. Natürlich wäre es ein Leichtes, den Übergang direkt zu bewerkstelligen, indem der akephale Glykoneus einfach um die Schlusshebung gekürzt würde: u-uu-u[-]. Damit verlöre aber der metrisch-äolische Übergang seinen Reiz. Dennoch sind in zweierlei Punkten die metrischen Erklärungsmuster zu relativieren: Erstens ist es durchaus möglich, dass das metrische Muster aus Zufall bei der Wort-für-Wort-Übersetzung entstanden ist. Zweitens wird immer noch der Vers als Einheit untersucht, obschon sich die Chorlyrik durch Enjambements innerhalb einzelner Worte im Original und in der Übersetzung innerhalb von syntaktischen Einheiten auszeichnet.
In der späteren Übersetzung des ersten Stasimons aus der Antigonä, dessen erste Version bereits ansatzweise untersucht wurde, stellt man fest, dass äolische Perioden nicht nur häufiger, sondern auch variierter auftreten:
[Note 33 from table:]33
Es geht nun nicht darum, statistisch festzustellen, ob das Original oder die Übersetzung mehr äolische Perioden aufweist, da die Übergänge zwischen Kata- und Nicht–kata-metron-Passagen sowieso sehrfließend sind. Dennoch könnte man einräumen, dass die Übersetzung mehr Pherekrateen hat. Kurz zusammengefasst: das Deutsche scheint in der Übersetzung das griechische Metrum vielfältiger zu variieren. Noch bemerkenswerter ist jedoch der Zusammenhang zwischen Rhythmus und Inhalt: Die rhythmisch-syntaktische Feingliederung illustriert die semantische Ebene sehr direkt. Die Übersetzung beginnt gleich mit zwei Glykoneen; die anaphorische Wiederholung von „Ungeheuer […]“ der ersten beiden Verse erhält dadurch zusätzliches Gewicht. Es ist sogar ein dritter, gleich anschließender Glykoneus möglich, der über die Versgrenze hinausgeht: „Denn der über die Nacht / Des Meers“ (str. 1, v. 3f.). Das rhythmische Enjambement vollzieht so das transzendierende Moment, welches den Menschen als Menschen auszeichnet. Die anschließenden zwei Pherekrateen – der erste um einen Daktylus erweitert (str. 1, v. 6), der zweite durch einen eingebauten Trochäus hingegen ein bisschen verlangsamt (str. 1, v. 7) – setzen die „sausende“ Geschwindigkeit um: „In geflügelten sausenden Häußern. / Und der Himmlischen erhabene Erde“ (str. 1, v. 6f.). Die beiden erweiternden Versfüße von Trochäus und Daktylus werden darauf extrahiert und wiederholt, um die „Erde“ als „unverderbliche“ und „unermüdete“ (beide Male: –u–uu), welche der stetigen Wiederkehr ausgesetzt ist, zu charakterisieren. Spätestens im Vers 9 wird die autopoetologische Ebene rhythmisch veranschaulicht: So wie die Erde immer wieder „aufgerieben“ und „mit dem strebenden Pfluge“ gekehrt wird, so wird der Vers selbst gewendet. Dafür ist der Choriambus rhythmisches Signum, weil er als palindromatische Struktur wahrgenommen werden kann, die Rede somit selbst in ihrer temporal vorgegebenen Richtung immer wieder umkehrt. Umso erstaunlicher ist nach dem jambischen Trott „Von Jahr zu Jahr“ (str. 1, v. 10) die erweiterte und längste palindromatische rhythmische Figur des letzten Verses in der ganzen Übersetzung: „Treibt sein Verkehr er, mit dem Roßegeschlecht“ (–uu–u–u–uu–). Diese rhythmische Besonderheit, welche zulässt, die Zeit selbst zu kehren, stellt auch später ein wichtiges Mittel des Eigenrhythmischen in seiner Selbstbezüglichkeit dar. In der zweiten Strophe bildet der Glykoneus den Rahmen, während dem Pherekrateus die Rolle zukommt, die zivilisatorischen Errungenschaften des Menschen, die Beherrschung der Natur im Jagen, Fangen und Unterjochen hervorzuheben. Durch die rhythmische Hervorhebung dieser menschlichen Errungenschaften wird wie in der ersten Strophe die autopoetologische Komponente, insbesondere die Übersetzertätigkeit selbst, mitgedacht: Es geht um die Jagd, das Er- sowie Begreifen und schließlich Nutzbar-Machen des fremden Texts auf dem Weg zum „freien Gebrauch des Eigenen“.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Hölderlin in der intensiven Übersetzungszeit in den Jahren 1800 bis 1802 zunächst eine metrische Treue erarbeitet, welche er aber zusehends verlässt. Die Erforschung des griechischen Kunstcharakters als Gesamtprojekt ist nicht zum Scheitern verurteilt. Vielmehr findet Hölderlin in den Sophokles-Übersetzungen, vor allem in der Antigonä, einen neuen Umgang mit dem griechischen Metrum, in dem er typische Perioden verstärkt und durchwegs im griechischen Geist (oftmals an der Dichterin Sappho anlehnend) erweitert und lebendig moduliert. Oder um die eigenen Formulierungen von Hölderlin im Brief an Böhlendorf nochmals zu paraphrasieren: Da der „Fortschritt der Bildung“ durch die Beschäftigung mit dem Fremden zustande kommt, was nicht nur auf die Deutschen, sondern ebenso auf die Griechen zutrifft, so soll man sich davor hüten, die griechische Form als reines Schema zu übernehmen: „Deßwegen ists auch so gefährlich sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortreflichkeit zu abstrahiren.“34 Denn die Griechen selbst haben auch dem „eigentlich [N]ationelle[n]“ den „geringeren Vorzug“ gegeben, so dass sie nicht ihr „Pathos“ ausbildeten, sondern sich des „fremden“ bedienten, indem sie „die abendländische Junonische Nüchternheit für [ihr] Apollonsreich“ „erbeuteten“. Hölderlin hat nun aber das griechisch Angeeignete zunächst im Schema der Antigonä–Parodos „abstrahiren“ wollen. Dieses entspricht aber genau dem Deutsch-„[N]ationellen“, der „abendländische[n] Junonische[n] Nüchternheit“ und muss nicht noch zusätzlich angeeignet werden. Hölderlin erfasst das Dilemma, denn er hat „lange daran laborirt“, und „weiß nun, dass außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen“. Das „lebendige Verhältniß und Geschik“ entfaltet spätestens in den späteren Übersetzungen insbesondere in der Antigonä, in den ständigen Verschiebungen rhythmischer Perioden, um das „[H]öchste“ hervorzuheben, seine volle Wirkungskraft. Die neue Dichtung Hölderlins ist nicht etwas genuin Losgelöstes und in dem Sinn Eigenes, sondern steht immer noch im „Verhältniß“ zu den Griechen und macht dieses mit großem Können und „Geschik“ deutlich. Damit wird der Übergang hin zu einer „belebenden Kunst“ vollzogen. Die Übersetzung des Rhythmischen übernimmt eine Hauptrolle im kulturellen Transitprogramm von Hölderlins hesperischer Bewegung.
- Friedrich Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (Stuttgart: Metzler 1933). ↩︎
- Ibd., 147-184. ↩︎
- Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Hg. Michael Knaupp, (München: Hanser 1992), Kommentar Bd. III, 430. (Sigle: MKn) ↩︎
- Friedrich Hölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig…, in: Sämtliche Werke: Frankfurter historisch- kritische Ausgabe (Sigle: FHA), Hg. Dietrich E. Sattler, (Frankfurt/M.: Roter Stern 1974ff.), Bd. 14, 306. ↩︎
- FHA 14, 309. ↩︎
- Ibd., 311. ↩︎
- Ibd., 318. ↩︎
- Ibd., 319. ↩︎
- Ibd., 321. ↩︎
- Ibd., 319. ↩︎
- Während D.E. Sattler noch in FHA 15 davon ausgeht, dass nur die Fragment gebliebene Übersetzung der Ersten Olympischen Ode Pindars im Spätsommer 1799, der Hauptharst aber erst im Winter 1800/1801 entstanden sein muss (14), so datiert er im später erschienenen Band 8 alle Pindar-Oden ins Jahr 1799. Normalerweise schwanken die Datierungen zwischen 1800 (Zuntz) und 1803 (Hellingrath). Am meisten leuchtet jedoch Knaupps Hinweis auf den Brief vom 2. Juni 1801 ein, in dem Hölderlin Schiller verspricht, „Papiere“ (wobei es sich höchstwahrscheinlich um die Reinschrift von Pindars Oden handelt) vorzulegen, um sich als Dozent für griechische Literatur zu empfehlen (MKn III, 421). ↩︎
- Bereits Christoph Theodor schreibt im biographischen Teil der zweibändigen Ausgabe 1843: „Es [findet] sich […] nie mehr, als eine ganz wörtliche, ohne das Original fast unverständliche, Uebertragung, die vermuthlich nur die erste Grundlage zu einer freieren schönen Ausführung bilden sollte.“ (FHA 15, 25) ↩︎
- Hölderlin übersetzt Teile aus dem neunten Buch von Ovids Heroiden, die in Distichen gehalten sind. Mit dem von Friedrich Beißner hervorgehobenen Unterschied zwischen den Ovid- und Pindarübersetzung wird auch deutlich gemacht, wie das elegische Metrum vom Original einfach übernommen wird, während dieses Verfahren bei Pindar offensichtlich nicht mehr von Belang ist. ↩︎
- Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, 32. ↩︎
- Ibd., 110. ↩︎
- Ibd., 95. ↩︎
- Ibd. ↩︎
- FHA 15, 12. ↩︎
- MKn II, 907. ↩︎
- Beißner datiert alle drei „nach Ende 1799“ (Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, 96) und führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „metrischen Phase“ ein (ibd., 98). ↩︎
- Sophocles, Antigone, ed. by Mark Griffith (U.P. Cambridge 1999), 140 und 142. ↩︎
- FHA 15, 63. ↩︎
- Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, 89. ↩︎
- So zum Beispiel in der Ausgabe von Mark Griffith: Sophocles, Antigone, 140/141. Zudem wird davon ausgegangen, dass Hölderlin vermutlich neben der Juntina-Version spätestens während seines Aufenthalts in Bordeaux Anfang 1802 eine 1781 in Paris erschienene, zweibändige Ausgabe mit den sieben überlieferten Tragödien von Sophokles zur Verfügung hatte. Darin ist die im Laufe des 18. Jahrhunderts geschaffene Rekonstruktion der metrischen Form des Chors im griechischen Drama bereits eingeflossen. (FHA 16, 63) ↩︎
- In der Wiederholung der Strophe, wie sie bei Hölderlins Schema abgebildet ist, wird diese Tendenz noch verdeutlicht. Der abschließende Pherekrateus der ersten Strophe (– – –uu– –) wird ohne Motivation durch das griechische Original im Schlussvers der gleich metrisierten Antistrophe auf –u–uu–u verkürzt, was sich wiederum nur aufgrund einer skandierten Prosodie erklären lässt. ↩︎
- Die Choriamben sind nicht erkennbar, da die Verse 5 bis 7 in Hölderlins Juntina-Version die ursprünglichen zwei Verse 5 und 6 des Chors auseinander reißen. Noch drastischer werden die Choriamben in der Strophe und Antistrophe b unkenntlich gemacht: Durch die unterschiedliche Versbrechung werden die choriambischen Passagen zu Anapästen bzw. zu Joniken a minori (uu– –). ↩︎
- Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, 90. ↩︎
- FHA 14, 319. ↩︎
- Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, 117. ↩︎
- Ibd., 99. ↩︎
- In einer poetischen Analyse – durchsetzt von musikhaften Flussmetaphern – spricht Beißner von „Ansteigen“ und „Anstauen“ (der Verse 1 bis 5 der ersten Strophe), „während nach dem sechsten, der auf dem Gipfel die Schwebe hält – ‚Gegangen über die Dirzäischen Bäche’ – die Bewegung sich wieder langsam abwärts neigt: jeder der folgenden vier Verse liegt in der Stimme tiefer als sein Vorgänger, bis das Ende des Melodiebogens die Tiefe des Anfangs erreicht hat: ‚Bewegst Du mit der Schärfe des Zaums’ – dann aber schnellt das den Vers schließende ‚ihn’ wieder hinauf und weckt eine Empfindung wie in einer fließenden Musik eine plötzliche Oktave.“ (ibd., 116) Obschon diese Analyse auf relativ abstrakter Ebene – und angeblich von einer Semantik losgelöst – den „Strophenschwung“ beschreibt, so ist nicht zu übersehen, dass von „Ansteigen“ in dem Moment gesprochen wird, in dem Hölderlins Übersetzung vom „Blik der Sonne“, der „erschienen“, darauf von „Schwebe“ beim Sonnenhöchststand und schließlich von „Abstieg“ im Zusammenhang mit dem „hinstürzenden Flüchtling“ spricht. Der Vergleich mit der „plötzliche[n] Oktave“ ist zwar nachvollziehbar, jedoch zu banal, um eben dieses neue „Aufschnellen“ im selben Vers 11 der ersten Strophe angemessen zu beschreiben. In der folgenden Strophe stellt Beißner eine „parallele“ Bewegung fest, sieht in den Versen 12 bis 14 der zweiten Strophe (rein rhythmisch durchwegs alternierend zwischen Hebung und Senkung) ein „siegesgewiß[es]“ „Erklimmen“, dessen Bildspender wiederum derselben Strophe entnommen ist („Den Sieg anhebet zu jauchzen“, str. 2, v. 19), um schließlich zu bemerken, dass der Schlussvers wieder ins originale Versmaß zurückfinde (ibd., 117). Damit zeigt sich, dass es immer sinnvoll ist, in der formalen Analyse gegenüber der semantischen Ebene zunächst eine gewisse Distanz einzuhalten. ↩︎
- Ibd., 116. ↩︎
- Gemäß Christian Utzinger, Periphrades Aner – Untersuchungen zum ersten Stasimon der Sophokleischen „Antigone“ und zu den antiken Kulturentstehungstheorien (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003), 20, bzw. als Vorlage der Versbrechung nach der Juntina-Version (1555). ↩︎
- MKn II, 913. ↩︎