„Felsenwand“ vs. „Blumental“: Fremdwahrnehmung und Selbststilisierung in J.G. Seumes Mein Sommer 1805
Jakob Starzinger
Abstract:
Der Beitrag verortet Johann Gottfried Seumes Reisebericht “Mein Sommer 1805” im Kontext der Reiseliteratur der Spätaufklärung und interpretiert ihn im methodischen Anschluss an neuere Ansätze der kulturpoetischen Ethnographie als Manifestation einer der personalen und der nationalen Identitätsbildung dienenden Konstruktion des Fremden. Es wird gezeigt, dass Seume, ausgestattet mit dem “cultural baggage” seiner Zeit, das Fremde ins Eigene zu übersetzen und unter Kontrolle zu bringen versucht, indem er das weite, unbegrenzte Russland als Gegenbild zu Italien bzw. als ‘große Schweiz’ inszeniert. Die literarische Darstellung seiner Reiseerfahrungen dient der Selbstbehauptung und dem kontrastiven Entwurf einer kulturellen deutschen Identität.
Im Zuge des Anlegens von Wissenskatalogen in der Aufklärung wurde auch Nicht-Wissen eingestanden, das durch weiße Flecken auf der Landkarte verzeichnet wurde. Dem impliziten Imperativ, sich entlang dieser weißen Markierung ins Unbekannte zu begeben, um dem Homo sapiens Wissenshoheit über die „Fremde“ zu verleihen, folgten zahlreiche Reisende, die ihre Erlebnisse in Berichten weitergeben wollten. Nach Hause zurück kamen die Forscher mit einem Register von bekannten Elementen wie Stadt-Land-Fluss, die sie mit und nach Eigenem benannt hatten. Damit gingen sie nicht viel anders vor als jene „frühen Geographen, welche die Karte von Afrika verfertigten“, wie sie Goethe beschreibt: Sie waren gewohnt, „dahin, wo Berge, Flüsse, Städte fehlten, allenfalls einen Elefanten, Löwen oder sonst ein Ungeheuer der Wüste zu zeichnen, ohne daß sie deshalb wären getadelt worden.“1 Das Unbekannte wird substituiert durch ein vertrautes (sprachliches) Bild, das das Andere symbolisiert. Die so erfolgende Erfahrung des Fremden ist zu sehen als Versuch der Kontrolle und Aneignung des Fremden mittels eines
„emblematischen Verfahren[s]“.2 Im Zuge dieses Vorgangs greift die Imagination, die für Gaston Bachelard Bedingung ist, „um einen neuen Raum zu ‚erleben‘“,3 auf selbst Erlebtes und auf ein kulturelles Gedächtnis zurück. So kommt es, dass Reisende (und mit ihnen die Rezipienten ihrer Berichte) in einer erinnerten und konstruierten Vergangenheit wandern, die den realen Raum als Schicht überzieht. Im „Wissensspeicher“, der für diese Übersetzung des Wahrgenommenen ins Vertraute herangezogen wird, sucht der Reisende umso intensiver nach Organisationsmustern zur Herstellung des fremden Wirklichen, je befremdlicher die Umgebung anmutet. Gleichzeitig wird durch das Aktivieren des Gedächtnisses auch das Eigene in der Konfrontation mit dem Fremden fixiert. Dabei „agiert“ der Reisende, so Gerhard Neumann, „einerseits improvisierend, indem er sich, ‚performativ‘ und experimentell, auf die Wahrnehmung dieses begegnenden Neuen und Fremden einstellt; er verhält sich aber zugleich imitierend oder rekapitulierend, indem er die im Gedächtnis […] aufbewahrten Vorbilder und Orientierungs- Muster möglichen Verhaltens memoriert und nachspielt.“4 Diese individuell und kulturell geprägten Muster bestimmen als „cultural baggage“,5 was und wie wahrgenommen wird. Die Resultate werden anschließend im Reisebericht auf der Grundlage eines mit der Zielgruppe geteilten kulturellen Wissens zu einem Konsens über eine Außenwelt verwoben. Ziel des Reisenden und seines Berichtes ist, so Murath über Fremderleben, „nicht etwa die Rekonstruktion einer ‚wahren Aussage‘, sondern die Konstruktion einer als kohärent empfundenen Aussage.“6 Die Fremde wird hinsichtlich der Intertexte wahrgenommen, gelesen und vom kulturellen Standpunkt des Betrachters aus interpretiert und benannt.
Als Beispiel für das Streben nach Kontrolle der Fremde mittels Übersetzung ins Eigene kann Goethes erste Schweizreise herangezogen werden. 1775 versucht er, bedeutende Ansichten zu zeichnen, muss aber erkennen: „für dergleichen Gegenstände hatte ich keine Sprache.“7 Sein Problem sieht er darin, dass er sich bislang „nur an beschränkten Gegenständen“ geübt hat und so in der gebirgigen Schweiz, dem Erhabenen gegenüber, „nach Art der Dilettanten [zeichnete], was nicht zu zeichnen war und was noch weniger ein Bild geben konnte“.8 Daraufhin wendet er laut Dichtung und Wahrheit die Taktik an, Landschaft zum Kunstwerk zu machen, indem er sie in seine Sprache überträgt (und sich gleichzeitig als Dichter inszeniert). Durch ästhetisierende Symbolisierung erhält er klarere Konturen und erfasst seiner Meinung nach das Wesentliche. In der Folge sieht er sich als Meister des Originals:
„So führte ich das Detail, das ich mit dem Bleistift nicht erreichen noch durchführen konnte, in Worten gleich darneben aus und gewann mir auf diese Weise eine solche innere Gegenwart von dergleichen Ansichten, daß eine jede Lokalität, wie ich sie nachher in Gedicht oder Erzählung nur etwa brauchen mochte, mir alsbald vorschwebte und zu Gebote stand.“9
30 Jahre später ist das Gebirge vertraute Fremde geworden: 1787 bestieg Horace Bénédict de Saussure mit Kompaß, Barometer und Thermometer den Mont Blanc und leitete mit seinem vielbeachteten Bericht eine neue Ära der Bergbeschreibungen ein. Die Turm- und Bergbesteigungen wurden modisch, wovon beispielweise Jens Baggesens Das Labyrinth von 1791 und Parthenais oder die Alpenreise von 1803 zeugen. Diese Texte gehörten zur Lektüre und zum cultural baggage eines Mannes, der zwar nebst dem Brocken auch Vulkane bestieg und den wilden Semmering-Pass überquerte, aber doch in erster Linie durch zu Fuß zurückgelegte Distanzen von sich reden machte: Johann Gottfried Seume, der 1802 in Sizilien und 1805 in Russland seine Fremde als Schreibanlass entdeckte. Wie Goethe macht er aus der durchreisten Landschaft ein literarisches Kunstwerk und sucht dabei nach Konturen, die er durch Projektionen oder durch das Auffinden des Eigenen in fremden Räumen erhält: Ob er nun seinen Blick in Panoramen kreisen lässt oder ob er zielstrebig vorwärts eilt, seine Beschreibungen visueller Eindrücke widmen sich vor allem der Bebauung des Bodens und militärischen Anlagen. Dem Pächtersohn und Leutnant geben sie Gelegenheit zur Entspannung, denn mit ihnen entdeckt er Vertrautes und kann sich aus dem informationslosen „weißen Rauschen“, der unfassbaren und unbeschreiblichen Monotonie des Fremden, befreien. Sein Auge findet heimelige Ruhepunkte zur Rast und sein Geist Anstöße zur Bewegung in Kanälen, Straßen und Abgrenzungen, die ihm auch überschaubar gliedernde geometrische Strukturen bieten: Sie teilen die Welt in Portionen, die vom Betrachter, der leicht vom Eindruck des Fremden überwältigt ist, verarbeitet werden können. Gleichzeitig dient die Infrastruktur der Kultur eines Landes, an der Seume die Qualität des Herrschers messen will. In diesem Sinne funktionalisiert Seume seine Umwelt: Er macht sie zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über Gerechtigkeit und Herrschaftssysteme, denn Land kann mit triumphalen Aquädukten bewässert oder mit Kanälen entwässert werden, wodurch „viel schönes Paradies geschaffen werden“ kann. (Sp 158)10
Das beste Beispiel für eine solche zweite Schöpfung ist das Anlegen von Gärten, die den Raum auch funktionalisieren und strukturieren, wodurch sie Sehbedürfnissen und dem moralischen Prinzip des prodesse et delectare der Aufklärung entgegen kommen. Den Garten hat Thomas Düe als maßgebliches Kriterium der Naturwahrnehmung Seumes auf seiner italienischen Reise ausgemacht; ob dies auch in Mein Sommer 1805 zutrifft, dies zu untersuchen ist seit Düe ein Desiderat. Er vermutet einen „Wandel“ in Seumes Wahrnehmung, die nunmehr „wesentlich stärker von gesellschaftlichen Aspekten bestimmt“ sei, und fragt sich nach den Gründen dieser Veränderung.11 Doch aufs erste ist keine Neuerung in Seumes Wahrnehmung auszumachen. Er sucht auch im Nordosten nach paradiesischen Gartenszenerien, durch die er spazieren kann. Auch ist er nicht wesentlich „politischer“ als 1802, denn Möglichkeiten zur Kritik am zaristischen „System“ lässt er aus: Die Gärten wurden durch Leibeigene bearbeitet, was er wissen musste, auch wenn er das nicht schreibt. Somit verurteilt er zwar die Leibeigenschaft, preist aber ihre Produkte, deren Zustandekommen er geflissentlich übersieht. Eine ganze Stadt kann ihm zu einem solchen Garten werden: Petersburg, die planmäßig in den Sumpfboden gestampfte Residenz mit idealen Proportionen, faszinierte Seumes Generation. In ihr findet er „vor dem Tore der Admiralität“ den „besten Punkte zum Orientieren“, denn hier wird seine Aufmerksamkeit wie in einer Parkanlage geschickt „in die drei Hauptperspektiven hinunter“ gelenkt. Somit ist der „Anblick“ trotz seiner Unvergleichlichkeit nicht überwältigend, sondern ästhetisch kontrolliert. Natürlich bewundert er den Schlossplatz und die mit ihm verbundene „Arbeit, die in anderen Hauptstädten nicht ohne große Anstrengung geschehen wäre“, (So 604) aber hier geschieht Kultivierung offenbar von selbst. Auch bei den Gartenpflanzen in Petersburg, die er als Sieg des Menschen über die Naturgegebenheiten bewundert, fragt er sich nur, woher sie kamen, nicht wie sie daher kamen. Im nahe gelegenen Zarenschloss von Pawlowsk entdeckt er sogar „einige ziemlich hohe italiänische Pappeln“, „die man aber gegen die Strenge der Kälte im Winter in große hölzerne Kasten einschließt und noch mit Stroh verwahrt. Sie sind die einzigen, die ich so hoch nordwärts gesehen habe.“ (So 633) Hier arbeitet Seume an seiner Bestimmung von Russland als Gegenbild zu Italien, denn trotz aller „Millionen“, die „der Kaiser von Rußland“ für die „Vegetation“ in Peterhof ausgibt, (So 716) bleibt das Land doch eines der „Antihesperiden“, dessen Land „kahl“ ist und durch Rodungen „noch verödeter“ wird. (So 575) Wenn Italien als Garten wahrgenommen wird, kann man aus der Gegenüberstellung Russlands schließen, dass dieses Land nicht als Gartenlandschaft erscheinen soll. Die ästhetischen und gegliederten Gärten in Russland dienen eher als Kontrastobjekte zur umgebenden Landschaft, die dadurch noch stärker als kulturlos und lebensfeindlich hervorgehoben wird. Auch ist das schon damals topisch „weite“ Russland im Gegensatz zum umzäunten Garten dank seiner Verbindung nach Amerika im Osten und dem unbekannten Eismeer im Norden nicht begrenzt.
Im Zuge der Untersuchung, wie das, was kein Garten ist, wahrgenommen, versprachlicht und vermittelt wird, stößt man immer wieder auf sein Gegenteil: „ziemlich fruchtbare gut bebaute Gebiete“ unterbrechen unfruchtbare „Wüste“. (So 584) Die Beschreibung der wechselnden Qualität der geistigen und agronomischen Kultur im Norden erinnert von Liefland an stark an die Beschreibungen von Almen im unwirtlichen Gebirge bei Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Héloise von 1762, mit der Titelvariante: Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Schon sein Fußmarsch nach Italien dürfte von Rousseau inspiriert worden sein, und 1805 ist Seume ein Briefe schreibender Liebender, der in ein den Alpen analog gezeichnetes Land aufbricht, um dort sein gepeinigtes Herz auszukurieren. Augenscheinlich ist Seumes Nähe zu Rousseau, wenn letzterer seinen Helden „zu Fuße“ in die weite Welt schickt: Dort „wollte [er s]einen Gedanken nachhängen und stets wurde [er] durch einen unerwarteten Anblick abgelenkt.“12 Rousseau fädelt in der Art der Reiseberichte eine Kette von Orten an die temporäre Kette von mehreren „bald“ aneinander und kontrastiert wie Seume häufig unter menschlicher Hand gepflegte loci amoeni („Wiese“) mit natürlichen loci terribili („Schlund“). Weiter im Norden, in Sippola, bleibt dieser Wechsel in Seumes Beschreibungen erhalten, bloß gibt es statt Sand nun Granit-Fels, auf dessen Spitzen er klettert, um „schöne fruchtbare bebaute Niederungen“ und ein „Ufer mit kleinen Dörfern und Wiesen und wogenden Fruchtfeldern“ unter sich zu betrachten. (So 655) Die Gewohnheit, „daß ich überall, wo ich kann, die Höhen zur Aussicht suche“, (So 617f.) hat er als Bewältigungsstrategie dem Fremden gegenüber aus Jugendtagen mit der Lektüre des von ihm lektorierten Küttner verfeinert. Er hat dank des Berg- Diskurses im Gegensatz zu Goethe schon die passenden Techniken und Formen, um das vertikal Erhabene in Elemente zu portionieren, die er verarbeiten kann. Die Horizontale der nördlichen Länder zu erfassen, fällt ihm hingegen ungleich schwerer als das Beschreiben seiner Bergerlebnisse, trotz seines früheren Dienstes im Süden Russlands. Somit geht es Seume in Sippola auf der Felsenspitze um eine Stilisierung der Landschaft mit dem Ziel, diese fassbar zu machen. Nicht nur, dass er der Weite der Landschaft Grenzen setzt durch einen gliedernden Blick aus der Vogelschau – er beschreibt sein Erleben im Diskurs der Gipfelstürmer: Kurz nach seinem Blick auf die Felder spricht er in der Gegend der damals teilweise unter russischer Hoheit stehenden finnischen Seenplatte von „Granitbergen“ und „unbezwinglichen Felsenspitzen“, als ob er eben einen Überhang überklettern müsste. (So 674)
Neben gezacktem Granitgestein gehört auch der Wasserfall gleichermaßen sowohl zum Inventar der Berg- als auch der Nord-Ikonographie. Schon in Hallers Alpen nehmen Sturzbäche eine prominente Stelle ein, und im italienischen Appenin ist Seume begeistert von der künstlich inszenierten Naturschönheit der Cascate delle Marmore. (Sp 277) Ein Wasserfall ist nicht nur eine Augenfreude, er ermöglicht als Zeichen (wie die Felsenspitze) auch die Lokalisation eines Ortes. Mit seiner Hilfe kann man Raum strukturieren, wie man es bei Goethe lesen kann: „Hier wird durch einen mächtigen Stromsturz merklich die erste Stufe bezeichnet, die ein Bergland andeutet, in das wir zu treten gewillet sind; wo wir denn […] Stufe für Stufe […] die Höhen mühsam erreichen sollen.“13 Seumes Verzeichnis solcher Stufen anhand eines Flusses, der sich „furchtbar steil, durch ein enges Granitbett herabreißt“, (So 653) verschafft ihm und dem Leser wiederholt Orientierung. In Kymengorod an der Grenze betrachtet er nochmals „einen schönen Wasserfall, wo der Fluß in einer schön gruppierten Gegend, nicht weit von einer Kirche, durch drei Felsenengen viele Klafter herabstürzt.“ Seine in diesen Beschreibungen deutliche Vertrautheit mit Bergbeschreibungen wird im Anschluss noch greifbarer: „Die Umgebungen sind malerisch, und in der Schweiz würde der Ort berühmt genug sein.“ (So 659) Schon kurz zuvor erscheinen ihm „Gruppen malerischer Inseln“ in einem nordischen See als eine „Aussicht“, „die einer Schweizergegend gar nichts nachgibt.“14 Seume schildert hier nicht nur seinen ästhetischen Genuss, er macht das Fremde mit seinen Vergleichen zum Vertrauten. Es fügt sich in Seumes Bild von Russland als großer Schweiz, dass die durch Natur und Lebensweise abgehärteten Russen (die Soldaten begnügen sich nach mehreren Quellen mit Zwiebeln als Menage) laut Seume in den napoleonischen Kriegen auf eidgenössischem Boden Pfaden folgten, die sonst nur „Gemsenjäger“ und „Steinböcke“ meisterten. (Sp 488) Es geht Seume nicht um Kontrastwirkung von freien Schweizern und geknechteten Russen, politische Fragen kümmern ihn bei diesen schweizerisch-russischen Naturerlebnissen wie schon bei der Betrachtung der Gartenanlagen wenig. Ein expliziter Vergleich der Systeme bleibt aus, vielmehr versucht er die Menschen des Nordens in einer Kategorie mit den Bergbewohnern der Alpen zu fassen. Wie den Bergleuten seit Haller wird auch den Bewohnern des Nordens ein durch die sie umgebende Natur bedingter natürlicher Lebensstil zugeschrieben. Sie, die auf einer von Petersburg in den Norden reichenden „ungeheure[n] Granitschicht“ (So 655) leben, sind „gute Leute“, die
„ihren tragbaren Boden erst den Granitbergen abtrotzen, ehe sie mit wahrhaft heldenmütiger Anstrengung es wagen können, ihm irgendwo etwas Samen anzuvertrauen. Und es ist sodann gewiß der schönste Sieg, wenn die Seiten der Berge von Korn wogen, und nur hier und da eine unbezwingliche Felsenspitze durch den Segen freundlich hervorragt.“ (So 674)
So sehr aber der für die Gebirgswelt typische Wechsel der Szenerien Kultur und Wildnis dominiert, so gibt es noch ein anderes beachtenswertes Muster in Seumes Wahrnehmung, das zur Parallelisierung von Berg- und Norderlebnis beiträgt: Er verfolgt den Wandel der Vegetationszonen, die sich je nach Höhenlage und je nach Breitengrad auf vergleichbare Weise verändern. Ähnlich wie Seume im Kunstbereich stets sein Dilettantentum hervorkehrt und trotzdem unter Zuhilfenahme diverser offizieller und inoffizieller Intertexte beschreibt, so auch bei der Flora und Fauna. Kurz nach seinem Blick von der Felsenspitze in Sippola knüpft er bei der Betrachtung des Bodens an dessen Bewuchs an und befindet: „Das Land hier herum ist das Land der Beeren, deren es eine Menge, bekannte und unbekanntere hat.“ Bekannte Beeren sind ihm die „Mamurami“, auf deren finnische Bezeichnung er die russische folgen lässt: „Knäschniky“. Diesen Ausdruck übersetzt er sofort frei ins Deutsche: „Fürstenbeeren.“ (So 655) Anschließend zeigt er, dass er nicht nur Buffons Allgemeine Historie der Natur gelesen hat, sondern auch Linnés Systema naturae. Dieses Werk ermöglichte dem Reisenden das Gefühl, auf einheimische Informanten und ihre Übersetzungen weitgehend verzichten zu können, denn er konnte die Vegetation mit Hilfe der dort angegebenen Systematik nach Fortpflanzungsmerkmalen selbst kategorisieren.15 Die so erlangte Autonomie nutzt Seume, um die exotischen Beeren als Brombeergewächs und damit als etwas Vertrautes und Essbares zu identifizieren.
Auch durch die Vegetationszonen verzeichnenden Karten, die ihm bei seiner Ätnabesteigung zur Verfügung standen, war seine Aufmerksamkeit hinsichtlich der Pflanzen geschult. Am vegetationslosen Gipfel des Vulkans liegt Schnee, darunter findet sich eine waldige Zone mit Eichen, auf die jene mit je nach Lage unterschiedlich bebauten Feldern folgt, bis am Fuße des Vulkans Orangen neben Palmen wachsen. (Sp 389) Seume folgt bei der Beschreibung seines Bergerlebnisses der „Reise auf den Aetna. Im Jahre 1770“ Patrick Brydones, der den Vegetationswechsel im Gebirge beobachtet und mit den Erdzonen vergleicht: „Man theilt gewöhnlich das ganze Gebirge in drei Regionen ein, wovon die unterste die fruchtbare, die mittlere die waldigte, und die oberste die wüste heißt. Diese drei Regionen sind so wohl ihrem Klima, als ihren Produkten nach, so wesentlich von einander verschieden, als die drei Erdzonen.“16 Seume gelangt, dieser Unterscheidung folgend, 1805 in die Vegetationszone der Gipfelregion, obwohl er weitgehend in der Ebene wandert.
Neben Seume suchten auch andere Russland bereisende Autoren Orientierung mit Hilfe der Naturwissenschaften, wobei sie den Spuren Johann Georg Gmelins und Peter Simon Pallas’ folgten, welche nach ihren naturkundlich motivierten Reisen in russischen Diensten Berichte verfassten. Kotzebue, der während seiner Verbannung in Sibirien neben Seneca auch die beiden Werke seiner Vorgänger liest, kommt laut Das merkwürdigste Jahr meines Lebens jenseits des Urals „kein Obstbaum, auch nicht einer […] zu Gesicht“. Er sucht sie in Tobolsk im „Garten des Gouverneurs, de[m] beste[n] im ganzen Lande“, doch staunt er dort nicht schlecht: Auf die den Garten umschließende „Bretterwand“ hatte „man Obstbäume gemalt […]. In der Wirklichkeit zierten ihn [den Garten] der Faulbaum, der Sibirische Erbsenbaum und die Birke.“17 Nach diesem potemkinschen Garten ist er umso gerührter beim lang „entbehrt[en]“ „Anblick“ der ersten Kirschbäume und Bienenstöcke, als er aus Sibirien zurückkehrt.18 Seume relativiert empirisch die angebliche Nichtexistenz von Obstbäumen im Norden, freut sich aber trotzdem sehr, als sich diese öfter sehen lassen:
„Vor meinem Fenster, das in den Garten geht, steht hier ein schöner großer Apfelbaum, eine Erscheinung, die mich zuerst wieder recht angenehm überraschte. In ganz Petersburg habe ich nur an einer einzigen Stelle, die von allen Seiten gegen den Wind geschützt war, einige Apfelbäume gesehen; aber keinen einzigen Birnbaum. Hier werden die Obstbäume schon wieder gewöhnlicher.“ (So 674)
Am nördlichen Wendepunkt seiner Tour findet er in erster Linie niedrige Strauchgewächse mit Beeren, danach „Haselsträuche“ (So 670) und erst dann kleinere Bäume. Als nächste Art nach dem Apfelbaum begegnen ihm bei seinem Abstieg „von den Hyperboreeren herunter“, wie er sagt, „die großen schönen Eichen, die hier einen wirklich heiligen Hain bilden“,19 (So 688) ehe er (nach einem seiner Sehnsuchtsrückfälle nach der Geliebten in der Heimat) in Grenna „zuerst wieder recht schöne Kirschen [findet], in denen mein Appetit ziemlichen Aufwand machte.“ (So 701) Der Vegetationswandel macht Seume bis zu Tränen sentimental:
„Hier sah ich zwischen Markaryd und Fagerhult in der Abendsonne wieder das erste Buchenblatt; und unwillkürlich fiel der alte Kerl daneben auf den Rasen, und küsste das Blatt und verhüllte das Gesicht in den Strauch. Ich glaube gar, die Augenwimper fing an mir zu glühen.“ (So 703)
Die sonst von ihm in den Vordergrund gestellte Männlichkeit des Soldaten spiegelt sich nur im ironischen Unterton der Passage. Hier findet man den Seume, der Werther las, Klavier spielte und in die Oper ging.
Durch die Darstellung der Reise als Folge der Vegetationszonen wird sie parallelisiert zu seinen einzelnen kleinen Gipfelsiegen am Weg, die ihm von der unbewachsenen Fläche aus Aussicht ermöglichen. In Nowgorod, der untergegangenen Hansestadt, „übersieht man bloß das große Feld der ehemaligen Herrlichkeit“. (So 612) Bei seinen allumfassenden Blicken schildert er einen Zustand der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die Unterscheidung von tatsächlich Sichtbarem und zu diesem Zeitpunkt noch nicht oder nicht mehr Sichtbarem fällt bei Seumes Höhepunkten, wenn die Faktoren Zeit und Raum aufgehoben werden. In Nowgorod blickt er in die deutsche Vergangenheit der russischen Stadt, sucht die Spuren der Hanse, ehe er diese Stadt, die „gewaltig viel zu bedeuten hatte“, mit ihrer russischen Gegenwart als „ziemlich öde und leer“ kontrastiert. Das Sprichwort, das sich in beinahe jedem Russlandtitel seit dem 17. Jh. findet: „Wer kann wider Gott und Nowgorod?“ dient ihm dann zu einem weiteren Bruch in Raum und Zeit, denn unvermittelt auf das Fragezeichen folgt ein assoziativer Gedankensprung:
„Ein Deutscher muß jetzt fast nur in dem Andenken an seine Nation leben. Hier ist ein Österreicher, dort ein Preuße; hier ein Sachse, dort ein Baier; hier ein Hesse und so weiter bis zur Legion der kleinen Fürstenkinder: aber nirgends ein Deutscher. Was soll mir die patriotische Aufwallung an der Wolga?“20
fragt er sich anschließend rhetorisch. (So 612) Sein russisches memento mori ist eine Aufforderung, für eine bessere Zukunft in der Heimat zu handeln. Indem ihm der Anblick Nowgorods zur Allegorie wird, ermöglicht ihm die reflektierte Aussicht auf die vergangene Stadt Kontrolle und Vergleichbarkeit in der Gegenwart.
Auch wenn Seume bei anderen „Berg“-Erlebnissen die Verarbeitung des Fremden nicht so gut gelingt, so versucht er dennoch, den nördlichen Wendepunkt der Tour zum Aussicht gewährenden Höhepunkt zu stilisieren, wobei er die politische Grenze gleichzeitig durch Überschreitung aufhebt und durch die Inszenierung als Grenzkamm hervorhebt: Von hier aus beschreibt er gleichzeitig die Gebiete Russisch- und Schwedisch-Finnlands, die sich hinsichtlich der Natur diesseits und jenseits des Grenzflusses nicht unterscheiden. Wie schon in Nowgorod koppelt er die Reisechronologie von der literarischen Reise ab: Vor seinem tatsächlichen Grenzübertritt richtet er schon über die Verhältnisse des noch nicht bereisten Schweden, andererseits kritisiert er die russischen Verhältnissen erst nach der Grenze massiv.21 Dass Seume letzteres erst an der Grenze wagt, kann verschiedene Ursachen haben, etwa Karrierepläne und Angst vor der Grenzkontrolle. Es gibt aber noch zwei Gründe für Seumes Achronie: Einerseits ist die Möglichkeit, nach vorn und zurück zu blicken, auf Bergkuppen gegeben – dass Seume hier seinen zukünftigen Weg sieht, lässt sich als Teil einer Inszenierungsstrategie der Reise als Bergtour verstehen. Andererseits haben wir es mit einer Grenzüberschreitung zu tun, wie Seume nicht müde wird zu betonen: Wiederholt weist er darauf hin, dass er sich nicht mehr im russischen Kerngebiet befindet, und berichtet von Zeichen der letzten nordischen Schlachten, obwohl er deren Spuren letztlich versäumt.
Nun gibt es um 1800 zwei paradigmatische „natürliche“ Grenzen in den deutschen Reiseberichten: den großen Teich zwischen den Kontinenten und die Alpen. Manche Russlandreisende sehen in der Steppe ein Meer, um das nah-fremde Russland zu distanzieren; Seume allerdings, der sich in den nördlicheren Vegetationszonen aufhält und so meist von Wald umgeben ist, orientiert sich eher an Darstellungen von Alpen-Pässen, die am Gotthard gemessen wurden. Schiller widmet sich 1804 diesem literarischen Topos, ohne ihn in natura gesehen zu haben, in seinem Berglied:
„Am Abgrund leitet der schwindlichte Steg,
Er führt zwischen Leben und Sterben,
Es sperren die Riesen den einsamen Weg
Und drohen dir ewig Verderben, […]“
Hat man aber alle Prüfungen unter Lebensgefahr bestanden, dann wartet Arkadien als Preis:
„Es öffnet sich schwarz ein schauriges Thor,
Du glaubst dich im Reiche der Schatten,
Da thut sich ein lachend Gelände hervor,
Wo der Herbst und der Frühling sich gatten,
Aus des Lebens Mühen und ewiger Qual
Möcht’ ich fliehen in dieses glückselige Thal.“22
Wie bei einer Alpenüberquerung wendet sich Seume nach Überwinden dieses Passes im Norden nun nach Süden. Um diesen Wendepunkt deutlicher zu markieren, inszeniert er ihn als Schwelle mit stygischem Grenzfluss, den man mit Hilfe einer Brücke (einem „Steg“ wie am Gotthard Schillers) überqueren muss, wenn man ins Paradies gelangen will. Der Grenzfluss weist eine Besonderheit auf, die seine Schwellenfunktion hervorhebt: Er teilt sich laut Seume in zwei Arme, und zwischen ihnen liegt „eine Insel von einigen hundert Schritten, welche die Markscheide beider Reiche macht. Die Brücke Questionis ist also eine Doppelbrücke: die über den nördlichen Arm gehört den Russen, und die über den südlichen den Schweden.“ (So 662) Die Insel, deren Umfang er immerhin beziffert, fällt offenbar in keines der Herrschaftsgebiete, denn sie dient als Zeichen. Die utopische Möglichkeit eines neutralen Territoriums innerhalb dieses Zeichens, das man betreten kann, realisiert Seume nicht, aber er befindet sich allein schon in Anbetracht der Grenze in dem „Zwischenraum“ (Certeau), den diese Insel verkörpert; an diesem „dritten Ort“ hält man inne, um zu reflektieren.23 Laut Rüdiger Görner hat allein das Wort „Grenze“ eine Signalwirkung, die eine „Entschleunigung“24 folgen lässt. Sie mündet bei Seume in einem retardierenden Moment des Reiseberichts, einem Gedicht, und der Achronie: „Die Zeit der Dichtung ist vorbei“, schreibt er an dieser Stelle – und muss sich folglich gleich entschuldigen dafür, „[d]aß ich oft wieder jünger werde“. (So 658) In diesem vagen Zustand der „Liminalität“ sucht Seume an der Grenze nach einer Selbstdefinition.25
Wie schon sein Spaziergang 1802 entwirft auch dieser autobiographische Text ein Selbst in Konfrontation mit dem Ausgegrenzten. Als Reisender tritt man aus dem Alltag und muss sich in der Folge neu definieren – ein Grundmuster der Reiseliteratur, das in Seumes Fall durch die Misserfolge beim anderen Geschlecht noch potenziert wird. Umso markanter erscheint das „Bild von Seume selbst“ als „Vignette des Spaziergängers“ auf der Projektionsfläche der Fremde.26 Sein Selbstentwurf von 1802 als einsamer Wanderer mit Tornister wird in Mein Sommer 1805 trotz Kutschenfahrten weitergetragen, macht ihn zum „Erzfuß“27 und seinen Körper zum Kunstwerk. In beiden Reisen setzt er sich wie ein Ritter auf der Jagd nach Aventiure bewusst der Gefahr aus, um sie als Prüfung zu bestehen und Ruhm zu erlangen. Seume, der sich zu Lebzeiten lieber im Verein mit Toten, den Klassikern, als mit den gegenwärtigen Schriftstellern und Politikern sah, nimmt mit seiner Selbstinszenierung die Möglichkeit der europäischen Schriftkultur wahr, „dem sterbenden Körper das Textcorpus als Möglichkeit des Überdauerns im Zeichen“28 gegenüberzustellen. Hier findet bereits eine Verknüpfung statt von „dem sozial verträglichen, dem aufklärerisch und ästhetisch zweckbestimmten Wandern und dem Wandern, bei dem das Individuum die persönliche Herausforderung um ihrer selbst willen, den Genuß der Gefahr und eine neue, andere Identität sucht“, laut Ingrid Kuczynski im späten 18. Jahrhundert noch unüblich.29 Seume sucht seine Identität in der Gefahr, wie schon sein Einleitungsgedicht programmatisch verkündet:
Hinaus, hinaus zum Kampf der Elemente!
Dort findest du,
Als ob der Tod das Leben zaubern könnte,
Im Sturme ruh.
Ob mich, den Pilger, wilde Samogeten
In ihrem Reich,
Ob Räuber mich am Fuß des Aetna töten,
Mir ist es gleich. (So 558f.)
Die Fremde erscheint als zu überwindende Lebensgefahr, was durch ihre Inszenierung als Bergwelt hervorgehoben wird: Wenn Rüdiger Görner schreibt, dass Metaphern Selbstbestimmungsversuche sind, eine Lokalisierung des Ich, in der sich vor allem die Persönlichkeit des Schildernden „spiegelt“,30 so lässt das im Fall Seumes darauf schließen, dass er mit seiner Berg-Diktion nicht nur ein Wahrnehmungsmuster sucht, mit dem die Fremde wahrgenommen und auch vermittelt werden kann, sondern auch eine Funktionalisierung dieser Fremde zum Zwecke der Inszenierung seiner selbst vornimmt. In einem Moment seines Lebens, an dem er so ziemlich alles verloren hat: Jugend, Frau, Arbeit, Kraft, Poesie, wo er am vorläufigen Tiefpunkt seiner Karriere steht, stilisiert er sich zum Gipfelstürmer, der dem Licht nahe kommt. Mit dem Erklimmen des Parnass’ rettet er sein Leben als Schriftsteller und das Bild seiner männlichen Kraft. Dazu muss sich das Fremde als widerständig, als mit dem Eigenen nicht vereinbar erweisen, obwohl es mittels Schilderung kontrolliert wird.
Dabei entwirft sich Seume nicht nur als ein Individuum, sondern als Mitglied einer Nation, deren Identität er in einer Krise sieht, ehe sie noch gefunden ist. „Deutschland? aber wo liegt es?“ fragt Schiller 1796.31 Seume verortet Deutschland als Mittelpunkt Europas, dessen nördliche und südliche Grenzen er für den Leser auslotet. Dieses Zentrum erscheint ihm im letzten Jahr des Bestehens als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation bereits als zerfallen. Umso mehr kommt den Grenzen der Nachbarn Bedeutung zu, da sie einerseits als wegweisendes Gegenmodell die Möglichkeit eines starken, zentralisierten Nationalstaates aufzeigen, andererseits die diffuse Mitte einfassen und ihr so eine Form verleihen. Durch den Druck der Großmächte aus Norden und Süden soll ein utopischer Nationalstaat geradezu zusammengepresst werden. In seinem Abschlussgedicht, das sein antikisiertes Weltbild komprimiert wiedergibt, bilden nördliche „Felswände“ und das „Glutgürtelgestade“ die beiden Pole, in deren goldener Mitte sich das vaterländische Tal mit Äpfeln und Eichen befindet:
„Stürmenden Söhnen des Nordens ist
Die rötliche Beere der Felsenwand
Palmenwein; jubelnder hallt längs dem Berg
Ihr Gesang, über des Bergs Erntegeschenk.
Köstlicher nickt mir der Apfelbaum,
Und herrlicher als Atalantens Frucht:
Schöner ist Weizengebind auf der Flur,
Als am Glutgürtelgestad’ Ananashauch.
Rauschet, ihr Eichen des Blumentals […]“ (So 735)
Stellvertretend für das Vaterland als utopischen locus amoenus kontrastiert er das „Rosental“, den von Nachtigallen besungenen englischen Park in Leipzig, mit samogetischem Frost. (So 565) Doch auch wenn ihm der im milderen Klima beheimatete und seit Klopstock prototypisch „deutsche“ Eichenhain „heilig“ (So 688) ist – seine Fürsten sind es nicht: Teil von Seumes Nationbuilding-Projekt ist seine Kritik an Herrschern. Angesichts der als bedrohlich empfundenen Nachbarn ist es nicht genug, für eine gute Kultur zu sorgen, man muss das „Ährengold“ mit dem „Speer“ schützen, fordert der Veteran. (So 736) Dazu ist innere Ruhe und Kraft, die nur durch glückliche Bewohner gewährleistet wird, nötig: Dass Begeisterung für die Sache, für die man kämpft, den guten Soldaten ausmacht, ist eine häufige Maxime Seumes.
Folglich schließt er mit einer Aufforderung an die deutschen Fürsten, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ zu garantieren, damit ihre Soldaten einen Grund sehen, ins Feld zu ziehen. (So 736) Seumes Selbstbehauptung in der Fremde wird ermöglicht durch eine nationale Identität, die er sich allerdings erst neu entwerfen muss: Mit Hilfe eines Kontrastsystems zum Nördlichen wie zum Südlichen konstruiert er das „Eigene“, das er als das Deutsche und Humane benennt, und nimmt es als Maß seiner Orientierung. Seine Wahrnehmung ist daraufhin ausgerichtet, diesem Unterfangen zu entsprechen, wie sein Blick auf Nowgorod zeigt. Wie Sternes Yorick32 kommt er dadurch auf seiner rückwärtsgewandten, sentimentalen Reise nicht am Zielpunkt an, sondern bleibt auf den heimatlichen Fluchtpunkt fixiert. Obwohl er als Fußgänger laut Seumes Vorwort unmittelbares Erleben und Empirie für seinen Bericht in Anspruch nehmen will, bleibt der „Wanderer“, wie Certau erkannte, auf das Eigene konzentriert: „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen.“33 Was man beim Gehen allerdings stets mit sich herumträgt, ist ein Ich, das die Umwelt nach verwertbaren Informationen filtert, wobei selbst die Ebene zum Berg werden kann. Die Trennung von Ich und Welt ist somit obsolet, was auch Seume bereits im Eingangsgedicht vor dem Aufbruch festhält:
„Mir wird’s so dunkel und so abgestorben,
Und menschenleer.
Bin ich es, oder ist die Welt verdorben
Rund um mich her?“ (So 558)
Die vor 1800 noch verlässlich wahrnehmbare, objektive Realität wird dem Spätaufklärer zum subjektiven Ausdruck seiner Stimmung. Es ist sein Sommer 1805, und es ist seine Identität, die er mit seiner Reise zwecks Bewährung in eine selbst konstruierte Umgebung versetzt.
Bibliographie
Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. München 1975.
Brandstetter, Gabriele: Wege und Karten. Kartographie als Choreographie in Texten von Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin, ‚Ungunstraum‘ und William Forsythe. In: Neumann, Gerhard und Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 465-483.
Cooke, Maeve: Die Suche nach einem Selbst: Überlegungen zur Frage der Selbstwerdung in Jonathan Rabans Hunting Mr Heartbreak. In: Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, S. 35- 54.
Cronin, Michael: Andere Stimmen: Reiseliteratur und das Problem der Sprachbarrieren. In Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995 (Neue Bremer Beiträge 8), S. ???-???.
De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988.
Düe, Thomas: Über die Natur in Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. In: Drews, Jörg:
„Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben.“ Johann Gottfried Seume in seiner Zeit. Vorträge des Bielefelder Seume-Colloquiums 1989 und Materialien zu Seumes Werk und Leben. Bielefeld 1991, S. 72-96.
Egger, Irmgard: Strategien inszenierter aisthesis: Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus. In: Drews, Jörg (Hg.): Seume: „Der Mann selbst“ und seine „Hyperkritiker“. Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Leipzig und Catania 2002. Zweite, verbesserte Auflage. Bielefeld 2005, S. 309-322.
Fischer-Lichte, Erika, u.a. (Hg.): Ritualität und Grenze. Tübingen 2003.
Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995.
Gaderer, Rupert: „[…] auf einer Wanderung begriffen“. Literarisierte Raumkonzeption in Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus und Mein Sommer 1805. Wien 2005 (im Druck).
Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz
u.a. Hamburg 1971ff.
Görner, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge: Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen 2001.
Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahre 1769. Nachwort. Stuttgart 1976.
Kotzebue, August von: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965.
Kuczynski, Ingrid: Die Lust am Wandern – ein Hintergehen der bürgerlichen Moderne? In: Albrecht, Wolfgang und Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung. Tübingen 1999, S. 44-60.
—. Verunsicherung und Selbstbehauptung – der Umgang mit dem Fremden in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Fuchs, Anne und Theo Harden [Hrsg.]: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, 55-70.
Murath, Clemens: Intertextualität und Selbstbezug – Literarische Fremderfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systemtheorie. In: Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, S. 3-18.
Neumann, Gerhard: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Ders. u. Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 19-52.
Rousseau, Jean-Jacques: Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Héloise von 1762. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Übers. v. Johann Gottfried Gellius. München 1978.
Schiller, Friedrich: Berglied. In: Schillers Werke. Bd. 2.I, hrsg. v. Norbert Oellers u.a. Weimar 1983.
Seume, Johann Gottfried: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Jörg Drews. I: Mein Leben. Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Mein Sommer 1805. Herausgegeben von Jörg Drews unter Mitarbeit von Sabine Kyora. Frankfurt a. M. 1993.
Zänker, Eberhard: Johann Gottfried Seume. Eine Biographie. Leipzig 2005.
- Das nimmt Goethe in seinen Materialien zur Geschichte der Farbenlehre zum Anlass, selbst in seine Wissens-„Lücken […] einige Betrachtungen ein[zu]schieben, auf die wir uns künftig wieder beziehen können.“ Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz u.a. Bd. XIV, Naturwissenschaftliche Schriften. Hamburg 41971, S. 46f. ↩︎
- Brandstetter, Gabriele: Wege und Karten. Kartographie als Choreographie in Texten von Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin, ‚Ungunstraum‘ und William Forsythe. In: Neumann, Gerhard und Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 465-483, hier S. 466. ↩︎
- Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. München 1975, S. 236. ↩︎
- Neumann, Gerhard: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Ders. u. Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 19-52, hier S. 42. ↩︎
- Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, S. XII. ↩︎
- Murath, Clemens: Intertextualität und Selbstbezug – Literarische Fremderfahrung im Lichte der konstruktivistischen Systemtheorie. In: Ebenda, S. 3-18, hier S. 9. ↩︎
- Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz u.a. X: Dichtung und Wahrheit. München 61976, S. 146. ↩︎
- Ebenda, S. 149. ↩︎
- Ebenda, S. 152. ↩︎
- Texte Seumes werden im Folgenden im Fließtext mit Seitenangabe in Klammer zitiert als Sp = Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 und So = Mein Sommer 1805, beide in: Johann Gottfried Seume: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Jörg Drews. I: Mein Leben. Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Mein Sommer 1805. Herausgegeben von Jörg Drews unter Mitarbeit von Sabine Kyora. Frankfurt a. M. 1993. ↩︎
- Düe, Thomas: Über die Natur in Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. In: Drews, Jörg: „Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben.“ Johann Gottfried Seume in seiner Zeit. Vorträge des Bielefelder Seume-Colloquiums 1989 und Materialien zu Seumes Werk und Leben. Bielefeld 1991, S. 72-96, hier S. 93f. ↩︎
- Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Héloise von 1762. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Übers. v. Johann Gottfried Gellius. München 1978, S. 76-78. ↩︎
- Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz u.a. X: Dichtung und Wahrheit. München 1976, S. 134f. ↩︎
- Auf den Vergleich kommt Seume wohl, weil Freund und Briefempfänger Schnorr gerade in der Schweiz ist; beinahe gleichzeitig mit ihm kehrt er nach Hause zurück, wie er am Ende seiner Erzählung festhält. (So 736) ↩︎
- Vgl. Cronin, Michael: Andere Stimmen: Reiseliteratur und das Problem der Sprachbarrieren. In Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995 (Neue Bremer Beiträge 8), S. 19-34, hier S. 21. ↩︎
- Anonym [Patrick Brydone]: Die Reise auf den Aetna. Im Jahre 1770. Zit. n.: Obolen, 5. Jahrgang (2004), Nr. 2, S. 10-25, hier S. 20. ↩︎
- Kotzebue, August von: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 167. ↩︎
- Ebenda, S. 224. ↩︎
- Wiederholt bezeichnet er den Norden als „Oben“. Möglicherweise kommt dieser Sprachgebrauch von den genordeten Karten: Wenn diese an der Wand hängen, ist Norden „oben“. Die Bezeichnung fügt sich jedenfalls in das Bild Russlands als Berg ein, ein Bild, das auch Görres mit seiner Darstellung Russlands als bedrohlichen Gletscher nutzte, und Johann Gottfried Herder (Journal meiner Reise im Jahre 1769. Nachwort. Stuttgart 1976, S. 217), für den Riga „unter Rußlands Schatten beinahe Genf“ ist. ↩︎
- Dass sich die Stadt gar nicht an der Wolga befindet, sondern am Lowat, kann als eine zufällige Ungenauigkeit Seumes erscheinen. Zu untersuchen wäre, inwieweit dies auch interpretiert werden könnte als ein Zeichen der Aufhebung der Raumzeitlichkeit des Textes, den die Höhepunkte aus den Fugen geraten lassen. Damit gäbe es auf chronotopischer Ebene eine Entsprechung zur Suggestion von Authentizität durch freie Rhythmen, unvollständige Satzkonstruktionen und Auslassungen in Hymnen und anderen sentimentalen oder stürmerisch-drängerischen Werken. ↩︎
- Vgl. Gaderer, Rupert: „[…] auf einer Wanderung begriffen“. Literarisierte Raumkonzeption in Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus und Mein Sommer 1805. Wien 2005 (im Druck), S. 21 f. ↩︎
- Friedrich Schiller, Berglied. In: Schillers Werke. Bd. 2.I, hrsg. v. Norbert Oellers u.a. Weimar 1983, S. 216. ↩︎
- De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 234. ↩︎
- Görner, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge: Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen 2001, S. 75. ↩︎
- Victor Turner bezeichnet den Zustand außerhalb von Raum und Zeit beim Grenzübertritt unter Bezug auf eine anthropologische Theorie van Genneps als „Liminalität“ oder als „Zwischenexistenz“: „in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted.” Zit. n.: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Ritualität und Grenze. Tübingen 2003, S. 26. ↩︎
- Egger, Irmgard: Strategien inszenierter aisthesis: Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus. In: Drews, Jörg (Hg.): Seume: „Der Mann selbst“ und seine „Hyperkritiker“. Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Leipzig und Catania 2002. Zweite, verbesserte Auflage. Bielefeld 2005, S. 309-322, hier S. 310ff. ↩︎
- Der Freimüthige oder Ernst und Scherz, Nro. 82, dritter Jahrgang, 25.4.1805, S. 328. Zit. n.: Gaderer, Rupert: „[…] auf einer Wanderung begriffen“. Literarisierte Raumkonzeption in Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus und Mein Sommer 1805. Wien 2005 (im Druck). ↩︎
- Cooke, Maeve: Die Suche nach einem Selbst: Überlegungen zur Frage der Selbstwerdung in Jonathan Rabans Hunting Mr Heartbreak. In: Fuchs, Anne und Theo Harden [Hrsg.]: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, S. 35-54, hier S. 41. ↩︎
- Kuczynski, Ingrid: Die Lust am Wandern – ein Hintergehen der bürgerlichen Moderne? In: Albrecht, Wolfgang und Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung. Tübingen 1999, S. 44-60, hier S. 58. ↩︎
- Görner, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge: Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen 2001, S. 11. ↩︎
- Zit. n.: Zänker, Eberhard: Johann Gottfried Seume. Eine Biographie. Leipzig 2005, S. 323. ↩︎
- „I think there is a fatality in it: I seldom go to the place I set out for.“ Zit. n.: Kuczynski, Ingrid: Verunsicherung und Selbstbehauptung – der Umgang mit dem Fremden in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Fuchs, Anne und Theo Harden [Hrsg.]: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995, 55-70, hier S. 66. ↩︎
- De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 197. ↩︎