Der Besuch / by Hakan Savaş Mican

Der Besuch

Hakan Savaş Mican


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Acknowledgements:

This text originally appeared in freitext, no. 18 (October 2011).

Der Besuch premiered at the Ballhaus Naunynstrasse on December 13, 2008, and was renewed on September 13, 2011.


http://vimeo.com/28017101

Personen

Ada, will das geerbte Grundstück in Berlin verkaufen und mit dem Geld ein Haus in Israel kaufen. Ihr Sohn Eyal kriegt ein Atelier.

Eyal, kann fotografieren, malen und Klarinette spielen. Er kann sich aber von der Mutter nicht abnabeln.

Ihsan, ist ein ehemaliger Gastarbeiter. Arbeiter ist er nicht mehr, aber Gast ist er immer noch. Er hat stets schlechte Laune.

Melike, hasst ihr Kaff Kulmbach und träumt von einem hübschen Mann und ihrem Nagelstudio in Istanbul.

Hunger und Leid sind Zwillinge. Sie verwandeln sich im Stück in alle anderen Figuren.

1 – DIE ERDE IST HEILIG

Eyal sucht das geerbte Grundstück und findet einen Tomatengarten und Berlin-Souvenirs.

(Ihsan arbeitet in seinem Garten. Eyal kommt vorbei.)

EYAL: Schöner Garten.

IHSAN: Du trittst auf die Blumen!

EYAL: Wie groß ist der Garten?

IHSAN: Verkauf ich nicht! Willst du Tomaten?

EYAL: Esse ich nie!

IHSAN: Du bist Tourist!

EYAL: Manchmal.

IHSAN: Amerikaner? Habe Teile von der Mauer!

EYAL: Kein Interesse.

IHSAN: Dann geh! Geh! GEH!

EYAL: Wie teuer ist die Mütze?

IHSAN: Wie viel zahlst du?

EYAL: Bei mir ist’s sehr warm. Brauch ich eigentlich nicht.

IHSAN: Die ist nicht zum Aufsetzen. Die ist zum Anschauen und sich Erinnern.

EYAL: Woran?

IHSAN: An die Vergangenheit. Hier lief die Mauer entlang. Bei mir ist Osten, bei dir ist Westen.

EYAL: Ich erinnere mich anders!

IHSAN: Fotos sind Leichen!

EYAL: Bitte ein Stück nach rechts und jetzt: Cheese! Klick.

IHSAN: Hier war das japanische Fernsehen. Sie haben einen Film über mich gemacht. Ich bekam 100 Euro.

EYAL: Ich bin Künstler.

IHSAN: Sie haben auch Geld.

EYAL: Ich kann doch nicht für jedes Foto bezahlen. Ich gebe dir 20 Euro, alter Mann. Aber nur für die Mütze!

IHSAN: 25!

EYAL: Schön hast du es hier! Haus, Tomaten, Souvenirs!

IHSAN: Wer bist du?

EYAL: Erde ist heilig. 20 Euro!

IHSAN: Gut!

IHSAN: Russisch. Mindestens 25 Jahre alt! Sie waren lange hier.

EYAL: Wir auch!

IHSAN: Habe auch Teile von der Mauer.

EYAL: Kein Interesse!

IHSAN: Dann geh! Geh! GEH!

EYAL: (Eyal setzt die Mütze auf.)  Warm.

IHSAN: Welche Kunst machst du?

EYAL: Hier ist es etwas Magisches. Krieg, Leid, Migration. Kannst du es sehen?

IHSAN: Ich sehe nur Tomaten! Kenne ich deinen Vater?

EYAL: Nein!

IHSAN: Vielleicht doch.

EYAL: Nein! Er war nie hier!

IHSAN: Habe auch Teile von der Mauer.

EYAL: Kein Interesse.

IHSAN: Dann geh! Geh! GEH!

EYAL: Wie groß ist der Garten?

IHSAN: Was willst du, Junge?

EYAL: Anschauen und mich erinnern.

IHSAN: Hau ab, Junge! Ich habe zu tun.

H&L: Verlassen Sie sofort das Sperrgebiet!

IHSAN: Wer bist du?

H&L: Sie befinden sich in der Gefahrenzone.

IHSAN: Ich höre dich nicht. Sprich laut!

H&L: Eine 500 Kilo schwere alte Bombe in ihrem Garten! Wir müssen das Haus evakuieren. Sie gehen in die Turnhalle und wir entschärfen die Bombe.

IHSAN: Ich bleibe in meinem Garten.

2 – MITFAHRGELEGENHEIT

Melike will nach Berlin, aber sie hat keinen Cent in der Tasche.

H&L: Neue Felgen, 150 PS, polierter Auspuff, Seitenaufprallschutz, Außenspiegel sind verstellbar… Da, Haribo von der Tanke!

MELIKE: Danke! Was kriegst’n?

H: Kannst mir später geben.

MELIKE: Cool.

L: Haribo macht Türken froh.

H: Kannst auch vorne sitzen, wenn du magst.

MELIKE: Geht schon.

H: Ihr habt immer so schöne Namen, Namen, die was bedeuten.

MELIKE: Und wie heißt du?

H&L: Man nennt mich Atze… Atze… Atze… Atze… Atz… Atz…

MELIKE: Atze?

H&L: Eigentlich heiße ich aber Maik.

MELIKE: Mike? MIKE-Mike?

H&L: Nein! MAIK-Maik.

MELIKE: Und was bedeutet dein Name?

H&L: Nichts… außer Maik, halt.

MELIKE: Und wo kommst du her, Maik?

H&L: Aus Berlin. Eigentlich aus dem Spreewald. Du kannst rauchen, wenn du magst.

MELIKE: Ich rauche nicht.

L: Fährst du oft nach Berlin?

MELIKE: Zum ersten Mal. Ich bin Königin. Ich fahre, um mein Königreich zu finden.

H: Verstehe.

L: Kulmbach ist echt klein.

MELIKE: Was machst du hier, Atze?

L: Ich trinke Alkohol, viel…

H: Manchmal befürchte ich, dass ich Alkoholiker bin. Aber beim Saufen stirbt man sehr langsam.

MELIKE: Willst du sofort sterben? Warum fährst du nicht gegen die Leitplanken?

H: Das habe ich mir auch überlegt.

L: Aber mein Vater wäre dann sehr traurig.

MELIKE: Liebt er dich sehr?

H&L: Nein. Traurig wegen der Karre!

MELIKE: Ach so!

H: Ich hab mehrmals versucht, mich umzubringen.

MELIKE: Echt?!

H: Kaum zu glauben, aber, es ist echt nicht einfach sich zu töten.

MELIKE: Soll ich dir helfen?

L: Nur zu!

MELIKE: (Melike hält H&L die Augen zu.) Wie ist das so, Maik? Vorsicht! Eine Kurve! Da kommt ein LKW! Achtung! Paß auf! Paß auf, Maik!

L: Spinnst du!? Du hast mich fast umgebracht! Mensch! Du!

H: Melike, Mensch! Das kannst du nicht machen! Auf der Autobahn! Du hättest sterben können!

MELIKE: Du bist feige, Atze! Sich umzubringen, ist wie ein Liebesgedicht schreiben…mit der Rasierklinge (Sie zeigt ihre Arme) Du suchst nicht nach einzelnen Wörtern, du schreibst im Rausch einfach die kompletten Sätze!

L: Wow! Was steht denn da geschrieben?

MELIKE: (schaut sich lange ihren Arm an) Ich hasse!

L: Aber wen?

MELIKE: Weiß ich nicht! Ich hasse halt.

H: Warum schreibst du es denn auf den Unterarm?

MELIKE: So halt…

L: Die Türken sind echt krank, eh!

H: Verstehe.

MELIKE: Schön für dich! Ich nicht!

H: Du bist’n… Ich mag dich! Lass uns doch ein Bierchen heben, wenn wir in Berlin sind.

MELIKE: Ich mag Fahrer, die ihr Maul halten!

3 – DIE FOTOS DER WOHNZIMMERVITRINE

Ihsan weiß nicht, dass Melike seine Enkelin ist, aber Melike weiß es schon.

(Melike kommt zu Ihsan.)

MELIKE: Herr Toprak?

IHSAN: Wer bist du, Mädchen?

MELIKE: Als ich unterwegs nach Berlin war, wusste ich nicht, ob ich Sie finde. Ich wusste nicht mal, ob Sie noch leben.

IHSAN: Jetzt weißt du, dass ich lebe. Geh! Geh! geh!

MELIKE: Sie sehen noch genauso aus wie auf dem Foto. Es war in der Wohnzimmervitrine. Schwarzweiß. Sie als junger türkischer Soldat vor Ihrem Olivenhain. Sie sehen so kindhaft, unschuldig aus. Ich glaubte lange, dass man schon im Kindesalter in die Armee gehen muss. Obwohl Oma Sie hasste, durften wir das Foto nicht anfassen. Sie hat nie über Sie gesprochen, und wenn, dann hatte sie nur schlechte Worte für Sie übrig. Aber das Foto war immer da. Ich glaube, sie hat Sie innerlich geliebt. Aber ihr Hass war größer als alles andere. In meiner Kindheit, an jedem Tag in diesem Zimmer haben Sie mich angeschaut.

IHSAN: Angeschaut, aber nicht gesehen! Weder dich noch die anderen aus dieser verdammten Familie möchte ich sehen.

MELIKE: Aber ich bin nicht wie die anderen. Ich hatte immer schöne Gefühle für Sie in mir. Wenn man über Sie gesprochen hat, fühlte ich immer Mitleid. Ich habe mir immer vorgestellt, wie einsam Sie sein müssen.

IHSAN: Mitleid ist das letzte, was ich brauche! Wenn du ein wenig Geld für deinen Opa hast, dann können wir Freunde werden.

MELIKE: Wir sind doch schon Freunde! Jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, musste ich an dich denken. Ich dachte immer, du fühlst und teilst diese Gefühle mit mir.

IHSAN: Liebe macht nicht satt! Aber wenn du Tomaten willst, hier, bedien dich. Und dann lass mich in Ruhe!

MELIKE: Ich hatte mir das anders vorgestellt! Das ist so schlimm!

IHSAN: Das Leben hat mir noch schlimmere Sachen angetan. Guck, ich lebe noch. Was ist denn schlimm daran, wenn dein Opa dich nicht lieb hat.

MELIKE: Ich hab’ Handschuhe für dich gestrickt!

(IHSAN schaut die Handschuhe an.)

IHSAN: Es ist doch so warm. Was soll ich damit?

MELIKE: Warten! Und wenn es kalt wird, anziehen!

IHSAN: Danke!

MELIKE: Bitte.

IHSAN: Von wem bist du? Von Ayse oder Emine?

MELIKE: Ich bin Ayses Tochter.

IHSAN: Dachte ich schon. Ayse war hübscher als Emine. Emine war so hässlich. Du bist wie deine Mutter. Hübsch.

MELIKE: Danke.

IHSAN: Wie heißt du Mädchen?

MELIKE: MELIKE.

IHSAN: Schau auf die Rückseite des Fotos, Mädchen. Da steht ein Gedicht von mir. Lies es! Melike… dein Pullover ist falschrum…

4 – DEUTSCHLAND VISIONEN

Ada findet ihren Sohn in der Turnhalle, der evakuierten.

ADA: Was machst du hier?

EYAL: Hier.

ADA: Was ist das?

EYAL: Die Kunst des 21. Jahrhunderts in einer Turnhalle. Ein Mann schält eine Zwiebel. Vielleicht hat er gefastet. Licht scheint durch die Zwiebel und was ganz schön ist, es wirft bunte Schatten auf die Wand. Wie der Mann sein Messer hält, in der Hand, das ergibt eine Spannung mit der Zwiebel, auf dem Tisch. Ein Mädchen liest die Bibel neben dem Reck. Das goldene Kreuz zeigt auf uns. Da muss man nur den richtigen Winkel finden. Im Hintergrund sitzen Menschen… aber nur dunkel. Kann man ja alles retuschieren. Geht ja alles. Ist ja kein Problem. Eine Roma-Oma liegt auf dem Bauch, und ein Roma-Opa massiert sie. Die Oma gibt komische Geräusche von sich. Davon kann man einen Ausschnitt nehmen, wo sich die Hand vom Roma-Opa so in die Speckröllchen von der Roma-Oma arbeitet. Das ist dann so ein bisschen… naja. Zehn Männer, die zuschauen, zehn Augenpaare…

ADA: Meine Schuhe drücken, ich habe geschwitzt, mein BH klebt…

EYAL: Während du in der Moschee warst… konnte ich es riechen, spüren, wie kleine Puzzlestücke kommt das Bild in meinen Sinn. Alles, was ich sehe, deutet darauf hin. Hier ist die Zeit angehalten worden.

ADA: Wo? Die Hitze in diesem Land hat dich erschlagen. Nimm das mal ab da! Sag’ mal!

EYAL: Warm. Die ist nicht zum Aufsetzen. Die ist zum Anschauen und sich Erinnern!

ADA: Laß das sein, Eyal! Ist doch widerlich!

EYAL: Ich will keinen Sand mehr im Mund haben und blöde Freunde am Strand. Ich will nicht Bus fahren und Angst haben. Ich will nicht mehr ackern und meckern. Ich will nicht mehr.

ADA: Ich habe dir einen Anzug gekauft. Die Deutschen lernen langsam, wie man sich anständig anzieht. Morgen feiert deine Cousine Hochzeit. Sie wird sich sehr freuen, wenn du da bist…In New York hat es auch nicht geklappt…Du kommst doch wieder zurück…(Eyal spielt Klarinette)…Was denkst du eigentlich, wer du bist!? Mein Leben lang habe ich für dich geschuftet, du Lümmel…Nimm das Ding aus dem Mund und rede anständig mit deiner Mutter. Glaubst du, ich lasse mir alles von dir bieten, nachdem ich mein Leben für dich geopfert habe, auf alles verzichtet habe, Tag und Nacht für dich gesorgt habe … Wir werden glücklich sein! Bald kriegst du dein eigenes Atelier. Du musst nicht mehr jeden Tag nach Haifa fahren. Und ich werde Bernhardiner kaufen oder auch Dalmatiner. Egal welche Rasse! Süß müssen sie sein und viele. Ich werde Blumen im Garten haben. Dein Vater liebte Chrysanthemen. Er schenkte mir nach seinen Konzerten immer einen Strauß gelber Chrysanthemen. Wir werden einen Garten voller gelber Chrysanthemen haben und süße Hunde! Und das lass ich mir nicht von dir kaputtmachen!

EYAL: Ich war heute auf dem Gartengrundstück, weiß aber nicht so genau, ob ich unterschreibe…ich bin mir da ein bisschen sehr unsicher.

ADA: Was? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Red keinen Unfug!

EYAL: Ich kann mir auch irgendwie nicht so ganz richtig eine Moschee da vorstellen, weißt du!?

ADA: Dann bau dir eine Synagoge! Eigenhändig!

EYAL: Die Entscheidung ist einfach zu viel für mich, ich kann mich nie entscheiden…soll man, soll man nicht?

ADA: Das konntest du noch nie, du Tölpel!

EYAL: Mein Flugticket habe ich storniert. Und vielleicht kaufst du dir mal was Anständiges zum Anziehen für die Hochzeit. Guten Flug!

ADA: Ein Fuchs mag laufen, wohin er will. Am Ende landet er doch im Pelzgeschäft. Der kommt zurück!

5 – MY ONLY LOVE SPRUNG FROM MY ONLY HATE!

Melike weint auf dem Dach.

MELIKE: Hä?

EYAL: Komm’ mal `runter!

MELIKE: Warum?

EYAL: Fotos von traurigen Frauen sind interessanter als Fotos von nicht traurigen Frauen.

MELIKE: Die verkaufen sich besser, nehme ich an.

EYAL: Fünf Minuten.

MELIKE: Geh doch wieder rein. Da sind genug traurige Leute zum Fotografieren.

EYAL: Dein Vater muss ein Dieb sein.

MELIKE: Was?

EYAL: Er hat die Sterne vom Himmel geklaut und sie in dein Gesicht gesetzt.

MELIKE: Oh Gott!

EYAL: Sag mal, kennen wir uns nicht von irgendwoher?

MELIKE: Ja, vor fünf Minuten hast du mich neben dem Basketballkorb angequatscht.

EYAL: Du bist doch Miss Berlin?

MELIKE: Ja.

EYAL: Ich habe dich in der Zeitung gesehen.

MELIKE: Und wer bist du?

EYAL: Ich komme aus Wüste- Auf einem Kamel. Dann ich sah dich, fing es an zu regnen, eine zarte Pflanze wuchs aus Sand und Wüste wurde …rosa.

MELIKE: Wahnsinnig schlecht.

EYAL: Komm’ doch `runter!

MELIKE: So kriegst du in diesem Land kein Mädchen. Wo kommst du denn her?

EYAL: Meinst du, wo ich geboren wurde? Wo ich aufgewachsen bin? Wo meine Eltern herkommen oder wo ich gestern war?

MELIKE: Alle vier, ey!

EYAL: Eyal. Ich bin beschnitten.

MELIKE: Melike.

EYAL: Angenehm.

MELIKE: Nicht so angenehm.

EYAL: Melike, Hebräisch! Malakh bedeutet Engel.

MELIKE: Türkisch! Malka. Melike bedeutet Königin.

EYAL: Malka. Auch Hebräisch! Königin, hast du einen Freund?

MELIKE: Wenn dich mein Opa hier sieht, bringt er dich um.

EYAL: Dein Opa mag mich.

MELIKE: Mein Opa mag niemand. Was machst du für Fotos?

EYAL: Temptation of communication in the middle of migration celebration… Art.

MELIKE: Und was ist das?

EYAL: Portraits von Migranten.

MELIKE: Voll Scheiße, ey.

EYAL: Hast du einen Freund?

MELIKE: Einen?

EYAL: Wie?

EYAL: Deutsch?

MELIKE: Auch.

EYAL: Gut?

MELIKE: Ist doch egal, ey!

(Sie küssen.)

EYAL: Was hast du heute gegessen?

MELIKE: Gummibärchen.

EYAL: Bleib bei mir.

MELIKE: Nein.

EYAL: Liebst du Kulmbach?

MELIKE: Nein.

EYAL: Willst du zurück nach Kulmbach?

MELIKE: Kulmbach ist mir egal!

EYAL: Und deine Familie?

MELIKE: Die auch.

EYAL: Bleib bei mir.

MELIKE: Nein.

EYAL: Wie viele Kinder willst du haben?

MELIKE: Zwei, aber keine Zwillinge.

EYAL: Warum keine Zwillinge?

MELIKE: Zwillinge sind Scheiße.

EYAL: Also, meine Cousins sind Zwillinge, die sind nett.

MELIKE: Nett ist auch Scheiße.

EYAL: Bleib bei mir in Berlin.

MELIKE: Nein!

EYAL: Was hast du vor in Istanbul?

MELIKE: Einen gutaussehenden türkischen Mann kennen lernen, der mich liebt. Ein professionelles Nagelstudio eröffnen…

EYAL: Spannend.

MELIKE: Was wirst du malen?

EYAL: Menschen in Berlin. Japaner, Türken, Chinesen, Spanier… Ausländer. Ein riesiges Projekt! Mein Bild wird ca. 10 m lang, wie das Abendmahl. Jeder Jünger steht für eine Nation, in Öl, kombiniert mit den vergrößerten Fotos. Dann stelle ich das Bild Open Air auf meinem Gartengrundstück auf, und wer an dem Grundstück vorbeikommt der kann es sich anschauen und das Bild kaufen- und von dem Geld lade ich dich zum Essen ein…Bleib bei mir?

MELIKE: Nein.

EYAL: Du hast kein Geld, du kannst nicht richtig Türkisch sprechen und am Ende putzt du die Böden in einem anderen professionellen Nagellackstudio. Das ist dann dein Traum von Istanbul!

MELIKE: Keiner kauft deine bescheuerten Bilder! Niemand interessiert sich für deine Kunst! Ein Fremder bleibt hier immer ein Fremder!

EYAL: Bleib bei mir.

6 – DIE ERDE SPUCKT GLASSCHERBEN

Ihsan findet Ada in der Turnhalle.

(Ihsan nähert sich vorsichtig Ada.)

IHSAN: „Es brennt wie die Muschi der griechischen Frauen!“, pflegte meine Großmutter zu sagen, wenn es so heiß war. Für jedes Weihnachten in Berlin eine Jägermeisterflasche! Insgesamt 39! 39 verdammte Jahre! Und sie alle leere ich in dieser Nacht! Ich war GASTARBEITER in Deutschland! Arbeiter bin ich nicht mehr, aber Gast bin ich immer noch. Ich hätte mir ein anderes Leben gewünscht! Zu spät!!! Wissen Sie, ich war 28 Jahre jung, als ich nach Deutschland kam. Mein Vater hat lange versucht, mich zu überreden: “Junge, geh lieber eine Bank ausrauben. Ich behalte das Geld und du gehst 20 Jahre in den Knast! Und wenn du rauskommst, hast du einen Haufen Geld. Nach Deutschland zu gehen, ist wie in den Knast zu gehen. Und nach 20 Jahren hast du einen Haufen Scheiße.” Es ist sehr bitter, aber… mein Vater hatte Recht. Frau weg, Kinder weg, Haus weg, Tomaten weg. Nur diese Flaschen sind mir treu geblieben. Und die verlassen mich auch diese Nacht.

ADA: Ich habe heute Hunderte von gläubigen Türken in der Moschee kennen gelernt. Ich musste in der Mittagshitze in einem unklimatisierten Raum neben zehn nach Schweiß stinkenden religiösen Männern 3D-Animationen der neuen Moschee anschauen. Außerdem hat man mir eine Marzipanmoschee geschenkt. Mit Minaretten und so weiter. Für heute ist meine Aufnahmekapazität erschöpft was Türken angeht!

IHSAN: Denken Sie bloß nicht, dass ich in Ihren schiefen Rücken verliebt bin. Ich wollte nur übers Geschäft sprechen! Schauen Sie, Madame! Schauen Sie sich diese Leute hier an! Denken Sie, dass alle hier glücklich sind, dass eine neue Moschee entsteht? Ich zum Beispiel nicht. Deswegen verliere ich alles, was ich habe. Die Moschee ist mir egal. Ich möchte nur meinen Garten.

ADA: Sie sind der Tomatenheini!

IHSAN: Ja. Ich.

ADA: Man flucht über Sie in der Moschee.

IHSAN: Das tun sie seit 10 Jahren!

ADA: Mein Vater vererbte diesen Garten an meinen Sohn und wir verkaufen ihn.

IHSAN: Madame! Ich bin wie ein Fossil. Mit einem Bein stehe ich schon im Sarg. Ich muss nur noch lernen, anständig zu sterben. Warten Sie ein paar Jahre mit dem Verkauf! Madame, mein Großvater starb als osmanischer Soldat in ihrem Land…und Sie sind Jüdin. Sie wissen sehr gut, wie es ist, aus ihrem eigenen Land rausgeschmissen zu werden. Tun Sie mir das nicht an! Ich arbeite viel. Ich verkaufe Tomaten im Sommer, Soldatenmützen, Uhren, historischen Kram. Ich gebe Ihnen alles, was ich verdiene. Ich möchte nur meinen Garten. Habe auch 700 Euro Rente. Alles in allem habe ich tausend Euro im Monat. Lassen Sie mir mein Haus.

ADA: Ich mache Personal Coaching für irgendwelche Loser, damit sie keine nassen Hände kriegen, wenn sie mit dem Chef sprechen! Glauben Sie, dass ich lieber diese Arbeit mache, statt 500.000 Euro, zu bekommen, Sie Hirsch!?

IHSAN: JA!

ADA: Was für ein Jammer! So viel Lärm um ein verfluchtes Stückchen Land.

IHSAN: Wenn Sie mir meinen Garten wegnehmen, bringe ich Sie mit dieser Flasche um.

ADA: Woher haben Sie die Flasche?

IHSAN: Die Erde spuckt Glasscherben. Du gibst der Erde Tomatenkerne, Wasser, Liebe und die Sonne.

ADA: Sie gibt dir Scherben zurück… Ich habe ein Foto in der Wohnzimmervitrine von meinem Vater.

Er floh in letzter Minute, seine Mutter blieb in Theresienstadt und starb an Typhus. Er plante, nie nach Deutschland zurückzukehren und dort zu leben, aber er sagte immer – die verdammten Deutschen, alles was sie tun, tun sie besser als andere. Er flog nur mit Lufthansa, rasierte sich mit einem Braun-Rasierer. Er verbrachte seinen Urlaub in Baden-Baden, nicht in den Hot Springs des Toten Meers. Aber deutschen Wein trank mein Vater nicht mehr. Er war Weinhändler. Dort, wo bald die Bibliothek der Moschee gebaut werden soll. Die Erde spuckt Glasscherben, dort, wo Sie jetzt den Tomatengarten haben… Mein Schmerz ist größer als Ihr Schmerz. Vierzig!

7 – LOVE IS NOT A VICTORY MARCH IN KARAOKEBAR

Melike und Eyal singen in einer Karaokebar.

MELIKE: Es gibt keine glückliche Liebe. Liebe ist kein Siegeszug.

EYAL: Liebe ist ein Siegeszug. Liebe erobert alle Burgen. Wir können glücklich werden.

L: Baby I have been here before, I know this room, I’ve walked this floor.

EYAL: Ich werde dich jeden Tag mit einer Tasse Kaffee wecken. Ich werde deinen Kaffee in Liebe machen. Küssen werde ich dich überall. Deine Wangen werden warm, Kaffeetasse wird kalt.

MELIKE: Er wird nach Kardamom schmecken. Er wird mir fremd sein, dein Kaffee. Wir können nicht glücklich werden.

EYAL: Doch. Wir können!

MELIKE: Nicht.

EYAL: Turki Katan heißt der Kaffee bei uns. Der kleine Türke! Du bist auch klein. Es wird nicht fremd sein. Ich werde lachen.

MELIKE: Ich werde nicht lachen. Dein kleiner Türke wird mir fremd bleiben. Wir mögen kein Kardamom… Ich werde trotzdem mit dir schlafen. In meinem Mund Kardamomgeschmack und deine Schamhaare. Du lachst süß.

H: Ist das nicht Glück, Melike? Liebe zieht die Sonne hoch in den Himmel, Berlin tanzt mit euch einen heißen, langen Sommer.

EYAL: Wir können glücklich werden. Ich werde ihr meine Freunde vorstellen. Sie wird mir ihre Freunde vorstellen.

MELIKE: Ich habe hier keine Freunde! Verstehen deine Freunde meine Sprache?

EYAL: Liebe braucht keine Sprache. Du wirst meine Haare schneiden, meine Freunde lassen sich ihre Nägel lackieren. So sind wir alle gute Freunde!

MELIKE: Aber verstehen deine Freunde meine Sprache?

H: Oh, Melike! Wie hast du das denn gemacht!? Das sieht ja so schön aus. Aber sag mal! Was sagt Islam zum Nägellackieren?

MELIKE: Weiß ich nicht!

L: Hier in Berlin müssen viele Mädchen ihre Sexualität mit Kopftüchern zusammenbinden. Sie suchen aber Anale Freiheit. War das deine Freiheit? Danke für die Frisur!

MELIKE: Wir können nicht glücklich werden. Istanbul ruft mich!

EYAL: Doch. Meine Leinwand ist die Landkarte meines Verlangens. Deine Augen sind die Kontinente. Ich male deine Augen, meine Kunst wird endlich sehen.

H: Du hast sie heute nicht geweckt, Eyal, du hast ihr keinen Kaffee gemacht.

L: Du hast ihre Augen seit Wochen nicht berührt, Eyal.

EYAL: Meine Landkarte verlangt neue Leinwände. Verlangen ist der schnellste Wind der Erde. Aber…wir können glücklich werden. Ich koche dir ‚Gefillte Fisch’. Meine Freunde kommen zu Besuch.

H&L: Dein Fisch stinkt, Eyal. Dein Geld reicht nur für Fische mit weißen Augen.

MELIKE: Ich kann dir meine Augen geben, Eyal. Ich kann Nägel lackieren, Haare schneiden. Deine Fische können sehen.

EYAL: Mein ‚Gefillte Fisch’ stinkt und meine Landkarte verlangt neue Leinwände. Verlangen ist der schnellste Wind der Erde. (Melike küsst Eyal.) Deine Zunge schmeckt nach der Fremde.

H: Melikes deutsches Wörterbuch kennt keine ‚Gefillte Fisch’. Ihre Zunge berührt jetzt ihre eigene Sprache.

L: Du hast ihre Augen seit Wochen nicht berührt, Eyal. Türkisch ist jetzt, was sie spricht.

EYAL: Morgen fliege ich zurück nach Israel, mittlerweile wohnen wir nicht mehr zusammen.

MELIKE: Gestern hast du deine Bücher bei mir geholt. Zum Sprechen hatten wir keinen Mut, wir haben lieber miteinander geschlafen.

EYAL: Hand in Hand laufen wir zur Konzertarena. Der Sommer hat die Stadt noch nicht verlassen.

MELIKE: Nackt waren wir, dann haben wir den Abschied angezogen. Du hattest ein T-Shirt weniger. Ich weinte die ganze Nacht. Dein T-Shirt trocknete meine Wangen.

EYAL: Wir trinken Wein aus Plastikbechern und rauchen auf dem Balkon. Ein alter Kanadier kommt auf die Bühne. Leonard heißt er.

MELIKE: Leonard kommt auf die Bühne und zieht ein Flugzeug aus seinem Hut. Morgen fliegst du nach Israel, du weißt nicht, wann du zurückkommst. Vielleicht in vier Wochen, vielleicht gar nicht.

EYAL: Mit seinen Liedern bin ich aufgewachsen. Dir singt er nichts aus deiner Kindheit, mir die ganzen Wüstenjahre im Kibbuz. Seine Lieder sind jüdische Kinder, alle laufen barfuß auf dem Wüstensand. Du verstehst mich wie immer, hältst meine Hand.

MELIKE: Dein Kopf schläft auf meiner Schulter. Ein Davidstern aus Herzen schmückt mein Gesicht.

EYAL: Ein Davidstern aus Herzen schmückt dein Gesicht. Neben uns sitzt ein Paar aus Tel Aviv ein Wochenende lang. Flug plus Leonard 500 Euro. Liebe kostet nicht extra. Leonard singt. Nach jedem Lied grüßt Leonard uns mit seinem Hut. Kibbuzkinder kommen aus der Wüste zurück. Meine Tränen schlafen auf deiner rechten Schulter.

MELIKE: Ich gehe nach vorne, du bleibst stehen. Ich sehe Leonard aus der Nähe. Er ist ein alter, weiser Mann, er lügt nicht. Liebe ist kein Siegeszug…

EYAL: Leonard ist ein Zauberer und zieht den Abschied aus seinem Hut. Wir sind nackt und haben keinen Hut mehr um den Abschied einzustecken.

MELIKE: Wir verlieren uns nach dem Konzert. Die Berliner Nacht ist kalt und dunkel. Ich sehe keinen Stern. Ich lackiere noch Nägel, schneide Haare. Ich sehe dich nie wieder.

EYAL: Der Abschied ist der größte Brandherd. Der Abschied ist unsere Wüstensonne. Liebe ist kein Siegeszug.

8 – SCHULD UND SÜHNE

Die Nacht in der Turnhalle ist heiß, stickig und lang. Die Alpträume auch.

H&L: RUHE!!!

ADA: Ich erinnere mich, wenn ich trinke.

IHSAN: Ich möchte nur vergessen.

ADA: „Deine Haut riecht nach Chrysanthemen.“, hast du immer gesagt.

L: Und morgens habe ich meine Lieder in deinen Bauchnabel gesungen.

ADA: Was für ein hübscher Mann warst du! Mit einer Engelsstimme. Ich gab dir einen Sohn aus deiner Melodie.

H&L: Refrain, Refrain, Refrain.

ADA: Du bist der schönste Duft, die schönste Blume in meinem Garten! Ich habe dich geliebt. Du: deine Lieder.

L: Mein Lied ist ein Stich in das Fleisch. Kalt, blutig und weich.

ADA: Du hast abgenommen, deine Zähne sind verfault und deine Wangen sind leer. „Deine Haut riecht nach Chrysanthemen.“ hast du immer gesagt.

H&L: RUHE!!!

ADA: Ich erinnere mich, wenn ich trinke!

IHSAN: Ich möchte nur vergessen. Was für eine hübsche Frau warst du. Mit einem Engelsgesicht. Du hast mir zwei Töchter gegeben. Aber keinen Sohn!

H: Ich habe dich geliebt. Du: den Mann in dir. Deine Pistole blendet wie ein goldener Gürtel in der Sonne.

IHSAN: Ich tanze Zeybek auf den Hochzeiten. Ehre begleitet mich. Ein Mann mit Ehre ist ein Mann. Meine Pistole ist mein Gürtel.

H: Du bist blau, dein Kopf tanzt, es wird ein Lied aus deiner Heimat gesungen, Sehnsucht gebiert einen Schuss in den Himmel auf einer türkischen Hochzeit. Dein rechter Zeigefinger ist schneller als die Hand. Sehnsucht erschießt deine ungeborenen Söhne in deinen Hoden.

(Ihsan fasst sich schmerzvoll an den Hoden. Es blutet.)

H: Ich habe dich geliebt. Ich habe dir zwei Töchter gegeben.

IHSAN: Wer hat mir das angetan? War ich das? Nein, das kann nicht sein. Blut wäscht meinen Stolz weg. Ein Mann ohne einen Sohn ist kein Mann.

H&L: RUHE!!!

ADA: Blut wäscht deine Liebe weg. Ich habe dich geliebt. Du: deine Lieder.

L: Deine Liebe tanzt in meinem Blut. Das Baby schreit in die trockene Nacht. Dein Kopf ist an der Fensterscheibe, die Augen in der Wüste.

ADA: Die Welt wohnt auf meinen Schultern! Ich bin so jung und so schwach. Er ist ein guter Mann, Papa. Du wirst sehen. Liebe erobert alle Burgen!

H: Lass den Jemeniten. Er ist ein Junkie. Er singt nur die Lieder des Todes.

ADA: Schau, Papa, ich habe ihm einen Sohn aus seiner Melodie geschenkt. Liebe hat alle Burgen erobert.

H: Die Tochter eines Jecken heiratet keinen Jemeniten. Lass den Jemeniten. Er ist ein Junkie. Lass den Jemeniten.

ADA: RUHE!!! Die Welt wohnt auf meinen Schultern! Ich bin so jung und so schwach.

H&L: Refrain, Refrain, Refrain.

ADA: Du bist der schönste Duft, die schönste Blume in meinem Garten!

L: Die kleinen Häkelsocken des Kindes sind auf dem Küchentisch, die Tür ist offen und dein Geruch ist weg. Der Abschied ist der größte Brandherd.

ADA: Du hast deine Lieder morgens in meinen Bauchnabel gesungen. Ich werde mich glücklich an dich erinnern. Glück ist ein Kindergesicht und die Welle am Strand von Tel Aviv.

L: Liebe tanzt in meinem Blut, Liebe wäscht mein Leben weg und Liebe erobert nur Burgen aus Sand! Der Abschied ist mein Liebesbrand.

H: RUHE!!!

IHSAN: Der Mann, der in mir wohnt, ist nicht mehr da. Ich kann dir kein Kind mehr geben. Blut wäscht meinen Stolz weg.

H&L: Ihsan ist kein Mann. Er ist ein Schaf. Er zeugt kein Kind mehr. Ihsan ist ein Schaf.

H: Ich habe dir zwei Töchter gegeben, aber keinen Sohn. Mein Schwager ist im Krieg gefallen. Meine Schwester gebar vier Söhne für ihn. Meine Schwester ist arm. Sie hat Süßigkeiten gebacken, ihre Tränen fließen nach innen und ihre Tischdecke ist gehäkelt. Sie schenkt uns ein Kind. Ismail ist jetzt unser. Du hast einen Sohn, Ihsan.

IHSAN: Ich habe keinen Sohn. Wie ein wildes Pferd würde ich in die Heimat reiten. Die Sonne geht unter. Bayrische Burgen grüßen meine Mähne, der Balkan wäscht meine Sehnsucht weg. Ich möchte vergessen.

H&L: Ihsan ist kein Mann. Er ist ein Schaf. Er zeugt kein Kind mehr. Ihsan ist ein Schaf.

H: Erinnere dich, Ihsan. Du kannst nicht rennen, du bist kein Pferd. Ein Schaf bist du. Deine Töchter rufen dich und dein Sohn Ismail. Es ist Opferfest.

IHSAN: Ein Gefangener bin ich jetzt. Die Worte der Leute sind wie Gitter. Die Blicke schneiden meine Ehre in Stücke. Ich will aber kein Schaf sein, sondern ein Pferd. Mein Stolz reitet mich in die Fremde.

H&L: Ihsan ist kein Mann. Er ist ein Schaf. Er zeugt kein Kind mehr. Ihsan ist ein Schaf.

H: Warum grimmst du so, Ihsan? Umarme deinen Sohn. Umarme Ismail, Ihsan. Heute ist Opferfest.

H&L: Ihsan ist kein Mann. Er ist ein Schaf. Er zeugt kein Kind mehr. Ihsan ist ein Schaf.

IHSAN: RUHE! Heute ist Opferfest. Die Messer teilen die Schafe in zwei. Ein Kopf, ein Körper. Blut fließt wie ein Bach in den See. Da am Ufer spielt ein Junge alleine. Ismail. Mein geschenkter Sohn. Ismail, du fällst ins Wasser.

H: Bist du nicht der Vater, der meine Hand hält? Bist du nicht der Vater, der mein Leben rettet?

IHSAN: Das Unheil ist dein, Ismail und die Rache ist mein. Wie ein wildes Pferd würde ich in die Heimat reiten.

H: Die Messer teilen die Schafe in zwei. Ein Kopf, ein Körper. Blut fließt wie ein Bach in den See. Blut strömt mit Wasser in meine Lunge. Hier in diesem See endet mein kurzes Leben. Ich war dein geschenkter Sohn, Ihsan. Ich war fünf Jahre alt. Heute ist Opferfest und ich bin dein Opfer. Das Unheil ist dein, Ihsan, und die Rache ist mein. die Rache ist mein. die Rache ist mein. die Rache ist mein. die Rache ist mein.

H&L: Ihsan ist kein Schaf. Ihsan ist kein Pferd. Ihsan ist kein Mann. Nur ein Mann mit Liebe ist ein Mann. Ein Mann mit Gnade. Ihsan, du bist uns egal.

IHSAN: Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Mensch!

9 – OLIVENBÄUME LEBEN LANGE

Melike weckt den schlafenden Ihsan

(Melike bringt Ihsan ein Glas Wasser. Er trinkt.)

IHSAN: Melike!

MELIKE: Wasser.

IHSAN: Dein Pullover ist immer noch falschrum!

MELIKE: Ich weiß.

IHSAN: Was ist morgen, Melike?

MELIKE: Nicht was, sondern wo! Das ist die richtige Frage.

IHSAN: Und wo ist morgen?

MELIKE: Morgen ist ein Ort. Ein “Verkaufsoffener Sonntag” z.B. Kulmbacher und Gäste von auswärts werden in Scharen in die Innenstadt strömen. In vielen Straßenzügen wird es nicht nur offene Läden, sondern auch ein buntes Rahmenprogramm geben. Im Fritz- Einkaufszentrum wird die oberfränkische Bezirksfotoschau zu sehen sein. Es wird ein Richtfest für 24 neue Senioren-Wohnungen beim „Mainpark“ gefeiert. Die Nepalhilfe Kulmbach wird zu einem Vortragsabend ab 19 Uhr im Sitzungssaal des Kulmbacher Rathauses einladen. OB „der Oberbürgermeister“ wird mit Helfern neue Obstbäume in der Allee zwischen Melkendorf und Galgenberg pflanzen. Im Rathaus wird eine Auktion für Fundware stattfinden. Eine Oma, in der Hoffnung, ihren verloren gegangenen Stock zu finden, wird auch kommen… Wir Türken werden keinen Stock verloren haben, keine Obstbäume pflanzen, der Nepalhilfe Kulmbach nicht helfen. Wir werden denken, dass die neuen Seniorenheime Eigentumswohnungen sind und davon träumen, eines Tages auch so eine neue, schicke Wohnung zu besitzen…deswegen werden meine Eltern in der Nachtschicht arbeiten. Wir Kinder werden aufwachen, der Vater wird nach Hause kommen und direkt ins Bett gehen. Wir Kinder werden bis in den Nachmittag sehr leise sein. Leise essen, leise fernsehen, leise sprechen und leise laufen. Später wird Vater seine türkische Zeitung lesen, Mutter wird grüne Paprika mit Reis füllen und wir Kinder werden in der Ecke schweigen. Es wird Totenstille in der Wohnung sein. Morgen ist so ein Ort, Opa.

IHSAN: Ich mag dieses ‚morgen’ nicht.

MELIKE: Ich liebe es.

IHSAN: Olivenhain! Wir kehren beide zurück nach Urla und finden meinen Olivenhain. Olivenbäume sterben nicht, sie leben lange, hunderte, tausende, Millionen Jahre.

MELIKE: Opa, du kannst nicht gehen.

IHSAN: Guck, in dieser Flasche habe ich Geld… Es tut mir leid, mein Kind. Ich habe deine Mutter gemacht, sie hat dich gemacht. Wir haben dir dieses Morgen gemacht. Ich habe immer auf dich gewartet. Sonst wäre ich schon längst nicht mehr hier…Ich wusste, dass dieses Land uns schluckt. Aber noch sind wir in seinem Hals. Es wird einmal husten und wir gehen raus.

MELIKE: Opa.

IHSAN: Melike.

MELIKE: Opa, du bist ja alt ne. Ganz schwach und so. Du kannst kaum stehen, laufen etc. Wie ein Fossil halt! Dein Garten ist schön, und die Tomaten auch, sehr schön…. würdest du mir deinen Garten…, wenn du… könnte ja sein… kommt vor bei alten Leuten… manchmal öfters, bestimmt… würdest du, wenn du… eines Tages?

IHSAN: Was „eines Tages“?

MELIKE: Ich meine, Schlafen und nicht Aufwachen… und so.

IHSAN: Was willst du?

MELIKE: GELD! Ich brauche auch Geld! Ich brauche Geld, um in Istanbul mein professionelles Nagellackstudio aufzumachen!

IHSAN: Ich habe es schon geahnt! Du bist auch wie die anderen. Allein dein Pullover zeigt, dass bei dir was nicht stimmt. Gib mir die Flasche!

MELIKE: Gib mir den Garten!

IHSAN: Die Flasche!

MELIKE: Ich habe dir an deinem schlimmsten Tag im Leben ein Glas Wasser gegeben. Ist ein Garten zu viel dagegen? Wenn du mir deinen Garten nicht vererbst, werde ich dich schlimm verletzen.

IHSAN: Man hat mich mitten in einem türkischen Basar verprügelt, weil ich ein Fladenbrot geklaut habe. Das habe ich durchgemacht. Du denkst, du kannst mich mit deinen Wörtern verletzen. Himmelkruzitürkennocheinmal!

MELIKE: Ich warne dich, Opa.

IHSAN: Wovor?

MELIKE: Deine Teile von der Mauer, die du den Touristen verkaufst…

IHSAN: Ja?

MELIKE: …die klaust du von der Baustelle.

IHSAN: Ich weiß. Käufer ist glücklich. Verkäufer auch.

MELIKE: Ich habe in deinem Garten mit einem Mann geschlafen!

IHSAN: Na, und?

MELIKE: Gerade eben.

IHSAN: Ich auch. Witz!

MELIKE: Wir haben ganz viele Tomaten zerquetscht!

IHSAN: Was?

MELIKE: Vererbst du mir deinen Garten?

IHSAN: Nein.

MELIKE: Du hast in deiner Flasche nur verrottete D-Mark-Scheine. Null Wert!

(Ihsan schämt sich und versteckt die Flasche.)

MELIKE: Gib mir deinen Garten, sonst mache ich weiter! OPA!

IHSAN: Ich habe keinen Garten.

MELIKE: Wie?

IHSAN: Sie verkaufen den Garten! Man hat mich wie Sperrmüll auf die Straße gestellt.

MELIKE: Du hast überhaupt gar keinen Garten mehr?

IHSAN: Nein.

(Melike liest ihm das Gedicht auf der Rückseite des Fotos vor.)

MELIKE: „Du schönes Land, fernes Land, du unbekanntes Land. Zu dir kam ich weder mit meinem Willen, noch auf einem edlen Pferd. Mich, diesen Burschen, hat das Jugendfieber zu dir gebracht und der Weinrausch.“

IHSAN: So ist es, mein Kind. Wir sind Besucher! Wir träumen immer von dem Ort, wo wir nie waren.

MELIKE: Ich habe geguckt, Opa, das Gedicht stammt nicht von dir. Von einem Russen: Puschkin…Und, weißt du was, Opa, dein Olivenhain in der Türkei existiert nicht mehr. Sie haben längst alle Olivenbäume gefällt. Stück für Stück! Dort steht jetzt eine große Fabrik für Tomatenmark.

10 – DECK DICH ZU

Ada hat Eyal einen Brief hinterlassen.

ADA: Dein Großvater wäre sehr traurig. Aber ich akzeptiere deine Entscheidung…

Miete keine Wohnung, wo viele Araber wohnen, das ist gefährlich… Ich schicke dir monatlich 500 Dollar… Eine schlechte Personal-Coacherin kann nicht mehr… Geh in die Synagoge, da findest du jüdische Freunde, hier sitzen Frauen und Männer zusammen, vielleicht auch ein hübsches Mädchen… lass dich nicht gehen, Ich besuche dich ab und an… öffne das Fenster, wenn du malst, dieses Zeug greift deine Lunge an… aber deck dich zu, Winter hier ist tödlich, nicht wie bei uns! Und ruf deine Mutter an.

11 – FLUGHAFEN

Melike und Ada sitzen auf einer Bank und warten auf den Flieger.

ADA: Es ist fast hell. Aber die Wolken sind noch da! Es regnet bestimmt gleich.

MELIKE: Hier regnet es oft! Hier regnet es nur!

ADA: Ja. So ein Land ist es. Es hat aber auch was Schönes! Bei uns in Tel Aviv regnet es nie! Abends grüßt dich der Wind aus der Wüste.

MELIKE: Bei uns ist es auch heiß. Bei uns in Istanbul!

ADA: Ich weiß nicht, wo Eyals Pass steckt.

MELIKE: Wenn ich Glück habe, kommt gleich eine Oma zu mir und fragt, ob ich ihren Koffer mitnehme. Die Passagiere dürfen nur 20 Kilo mitnehmen, aber die Türken tun das ganze Deutschland in die Koffer.

ADA: Es ist fast hell. Aber die Wolken sind noch da! Es regnet bestimmt gleich. Wenn ich in Tel Aviv bin, gehe ich an den Strand und laufe. Dann gehe ich schlafen. Lange! Ich werde alles vergessen.

MELIKE: Hier regnet es oft! Hier regnet es nur!

ADA: Unser Haus in Tel Aviv roch nach Europa. Bücher, Uhren, Besteck, Möbel, Spiegel sogar die Gardinen. Deutsche Wertarbeit. Meine Eltern konnten 11 Sprachen sprechen. Und keine durfte gesprochen werden. Europa war verboten. Versiegelt in den Büchern und in der Geschichte… Meine Wohnung in Tel Aviv sieht anders aus. Außer den gehäkelten Socken meines Sohnes gibt’s keine Geschichte! Ah, da ist er!

H: Wo ist dein Sohn Ada?

ADA: Er kommt gleich. Er wollte nur einen Anzug kaufen. In einem fremden Land. Bestimmt ist er gleich da!

H: Wo ist dein Sohn, Ada?

ADA: Er ist gleich da. Er wollte nur neue Möbel kaufen.

H: Wo ist dein Sohn, Ada?

ADA: Er wollte ein neues Haus kaufen.

H: Wo ist dein Sohn, Ada?

ADA: Er wollte neue Bücher, eine neue Sprache und eine neue Vergangenheit. In einem fremden Land.

H: Dein Sohn ist in Deutschland. Als er durch die Straßen lief und an seine Freunde dachte, die gerade im Libanon kämpften, sah er eine Schultüte, dann erstarrte er plötzlich – das erste Foto seines Großvaters von 1914 zeigte ihn, seine eigene schwarzweiße Schultüte haltend. Es war überwältigend für ihn, zu sehen, wie sein Leben und seine persönliche Erinnerung und das Leben und die Erinnerung der Deutschen so nah beieinanderlagen. Dein Sohn ist in Deutschland.

MELIKE: Mein Sohn wird nicht in Deutschland sein.

L: Wo ist dein Flugticket, Melike?

MELIKE: Meine Eltern haben mein Flugticket. Sie kommen gleich. Sie wollten nur neue Gartenmöbel kaufen…für unser neues Gartenhaus in Kulmbach.

L: Wo ist dein Friseurzeugnis, Melike?

MELIKE: Meine Eltern haben mein Friseurzeugnis. Die kommen gleich. Sie wollten nur Weihnachtsbäume kaufen.

L: Was machst du hier vor dem Reisebüro, Melike. Was schaust du dir an?

MELIKE: Ich warte auf meine Eltern. Sie kommen gleich.

L: Warum bist du jede Woche hier, Melike? Deine Eltern sind jeden Samstagvormittag hier im Fritz- Einkaufszentrum. Es war einmal eine Spinnerei hier. Jetzt Fritz! Du kaufst dir hier vor diesem Reisebüro neue Leben. Du fliegst mal zu den Malediven und mixt Cocktails. Dann nach Korsika, Malta, und Funchal. Du fliegst für eine Woche zu zweit pro Person 899 Euro, alles inklusive. Deine Hand wühlt in der Tasche, 95 Cent tanzen hin und her, ein Busticket zum Bahnhof! Du träumst so. Wenn man pauschal träumt, ist das Fliegen immer inklusiv.

ADA: Es ist fast hell. Aber die Wolken sind noch da! Es regnet bestimmt gleich.

MELIKE: Hier regnet es oft! Hier regnet es nur!

12 – WO IST SIE?

Morgengrauen im Tomatengarten. Atze sucht Melike aber findet den Eyal.

(Eyal ist im Tomatengarten. Atze kommt.)

H: Verchromter Auspuff, getunter Motor, lackiertes Dach, Dolby, vier Boxen… Ihr habt immer so schöne Namen…, Namen, die was bedeuten. Wie heißt du?

EYAL: Eyal.

L: Ist mir eyal! Wo ist sie. Ich habe euch vorhin zusammen gesehen.

EYAL: Wie teuer ist die Fahrt von Kulmbach nach Berlin?

H: 20 Euro.

EYAL: Ich gebe dir 20 Euro.

H: Beim Tanken habe ich ihr Haribo geholt, an der Tanke, das hat sie auch nicht bezahlt.

EYAL: Das zahle ich auch.

L: Aber ich muss diese Schlampe finden, sie hat gegen die Tür meiner Karre getreten.

H: (Atze drückt Eyals Hoden zusammen.) Sing uns die deutsche Nationalhymne.

L: Jetzt Rückwärts.

(Eyal schlägt mit einem Stein ins Atzes Gesicht. Atze stirbt.)

H&L: Ich hatte mal ein Gesicht, vor langer Zeit. Ich habe jetzt kein Gesicht, ich erinnere mich nicht mehr. Ein Tuch auf meinem Gesicht, mein Mund riecht nach Gummibärchen. Zuerst wurde meine Nase gebrochen, dann meine Zähne, meine Wangenknochen… Mein Schädel, meine Nasenhöhle waren voller Stein, mit Fleisch, mit meinem Gehirn. Bei jedem Schlag des kalten Steins in mein Gesicht, habe ich meine Erinnerung verloren. Mein Kopf war eine Masse später, wie Matsch, aus Blut und Fleisch. Meine Zähne waren in meinem Hals. Ich konnte nicht mehr atmen. Alles Blut, rot und warm, ich bin gestorben. Ich weiß nicht, wie mein Gesicht aussah. Ich erinnere mich nicht mehr.

13 – DAS UNBEKANNTE LAND

Ihsan guckt in seinem Garten die kaputten Tomaten an.

EYAL: (zu Ihsan) Schöner Garten!