Vibrationshintergrund
Selim Özdoğan
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Acknowledgements:
This text originally appeared in Die Zeit and in freitext, no. 18 (October 2011).
Auch ich habe, wie wahrscheinlich alle Kinder, Worte so verstanden, wie sie nicht gesagt wurden. Lange Zeit dachte ich, es heißt Zivilgarage und habe mir immer eine Garage voller Polizisten ohne Uniform vorgestellt.
Meine Tochter Şiir hat in der Schule ein Wort gehört, unter dem sie sich nichts vorstellen konnte. Papa, sagte sie, die Lehrerin meinte, wir haben einen Vibrationshintergrund, was ist das?
Ich erzählte ihr, dass sie sich verhört hatte, versuchte zu erklären, was die Lehrerin mit dem Wort sagen wollte und da ich schon dabei war, gab es auch noch eine Lektion in Zivilgarage. Als Şiir dann ungeduldig wurde, wegen der vielen Worte, schickte ich sie Hausaufgaben machen und dachte über Vibrationshintergrund nach.
Es ist ein gutes Wort, viel besser als Zivilgarage. Migranten und Vibratoren haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Vibratoren werden meistens vor den Blicken der Öffentlichkeit versteckt, in Schubladen, in der hinteren Ecke des Schrankes, im Geheimfach des Schminkkoffers. Migranten wohnen auch oft versteckt, in Gegenden mit billigen Mieten, in den Ecken der Großstädte, die normalerweise selten ins Bewusstsein dringen.
Es sei denn, dort passiert etwas. Wenn ein Migrant im Ghetto sichtbar wird, weil er kriminell geworden ist, dann sind gleich diese Worte im Raum: Ehrenmord, Machogesellschaft, Zwangsheirat, mangelnde Integration.
Wenn der Vibrator sichtbar wird, der Zollbeamte ihn auf den Tisch legt, Mutter oder Ehemann ihn entdecken, sind da auch Worte, wenn auch vielleicht nicht ausgesprochen: Perversion, Ausschweifung, Treulosigkeit, Nymphomanie.
Den Vibrator holt man hervor, wenn man eine Lust befriedigen möchte. Den Migranten holt man hervor, wenn man eine befriedigende Erklärung braucht für Missstände, die man unmöglich selber mitverschuldet haben kann.
Sobald die Befriedigung eingetreten ist, verschwindet beides wieder, in Schublade oder Ghetto, bis zum nächsten Mal. Moral, Religion oder Sexualfeindlichkeit ändern nichts an den Kräften, die zur Vibration führen. Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung oder gar Gewalt ändern nichts an den Kräften, die zur Migration führen.
Abends saßen Şiir und ich auf der Terrasse des Eigenheims, die wir uns hatten kaufen können, weil ich islamkritische Comics veröffentlicht hatte, in denen Männer keine Achtung vor Frauen hatten und lange Bärte trugen, in die sie Miniaturen von Selbstmordattentätern mit Sprengstoffgürteln eingeflochten hatten.
Langsam ging die Sonne in unserem Vibrationshintergrund unter.