W oder die translinguale Erinnerung: Cécile Wajsbrot und die deutsche Sprache
Dirk Weissmann
Abstract
Mit ihrem im Januar 2013 erstmals ausgestrahlten zweisprachigen Hörspiel W wie ihr Name/Avec un double V wagt die 1954 in Paris geborene, französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot erstmal den Weg in die deutsche Sprache als literarisches Ausdrucksmedium. Diese Form zweisprachigen Schreibens stellt den Höhepunkt einer jahrelangen Annäherung der Schriftstellerin an Deutschland und die deutsche Sprache dar. Wie das Hörspiel auf eindrucksvolle Weise illustriert, avanciert hier die literarische Zweisprachigkeit zum privilegierten Vehikel eines Strebens nach Vermittlung und Versöhnung zwischen den Völkern und Kulturen. Durch das grenzüberschreitende und translinguale Schreiben Cécile Wajsbrots wird ein neuer französisch-jüdisch-deutscher Gedächtnisraum eröffnet, der es ermöglichen soll, nach vorne in eine gemeinsame Zukunft zu blicken. Der vorliegende Artikel bietet eine Analyse der Entstehung und Konzeption des Hörspiels und verortet ihn sowohl im historischen Kontext deutsch-französischer Mehrsprachigkeit wie auch im Werkzusammenhang und der (Sprach)Biographie der Autorin.
Je ne parle pas la langue de mes parents, je ne partage aucun des souvenirs qu’ils purent avoir, quelque chose qui était à eux, qui faisait qu’ils étaient eux, leur histoire, leur culture, leur espoir, ne m’a pas été transmis.
Georges Perec, Récits d’Ellis Island[1]
Meine Mutter hatte aufgehört, in ihrer Muttersprache zu sprechen, weil es zu gefährlich war. Lebensgefahr. Sie konnte aber ihre Mutter verstehen, die weiter so sprach, und ich verstand ein wenig, wie beabsichtigt, dank dir.
Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name/Avec un double V[2] (deutscher Originaltext)
Paris-Berlin
In einem im Jahre 2008 mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geführten Interview erklärte die 1954 als Kind jüdischer Eltern in Paris geborene französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot,[3] die damals als Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms ein Jahr in der deutschen Hauptstadt verbracht hatte:
Frankreich hat sich kaum mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt. In Berlin dagegen, ja in Deutschland generell, scheint mir die Konfrontation mit der Vergangenheit wirklich stattgefunden zu haben. Und sie findet bis heute statt. Deshalb gibt es hier Raum für Gegenwart und Zukunft. Und das kann ich hier spüren.[4]
Mit dieser herausfordernden Umkehrung der traditionellen deutsch-französischen Hierarchie in Sachen Geschichtslasten signalisiert die heute sowohl in ihrer Geburtsstadt Paris als auch in ihrer Wahlheimat Berlin lebende Autorin nicht nur ihre kritische Haltung gegenüber der französischen Vergangenheitsbewältigung, sondern unterstreicht auch die zentrale Rolle Berlins und Deutschlands für ihre persönliche Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Geschichte ihrer eigenen Familie. Der sich seit zwei Jahrzehnten unablässig intensivierende Kontakt zum heutigen Deutschland bis hin zur Ansiedelung in der ‚neuen alten’ Hauptstadt fungiert im Schreiben der Autorin polnisch-jüdischer Herkunft gleichsam als Katalysator von biographischen und historischen Erinnerungsprozessen, wie ein Blick auf ihre literarische Produktion der letzten Jahre zeigt.[5]
Dass sich die literarische Erinnerungsarbeit im Schreiben Cécile Wajsbrots nicht nur länder- und kulturübergreifend, sondern auch in Form eines partiellen Sprachwechsels vollzieht, soll im Folgenden am Beispiel des im Januar 2013 erstmals gesendeten zweisprachigen Hörspiels W wie ihr Name/Avec un double V[6] gezeigt werden. Der bereits im Titel dieses Werks exponierte Buchstaben W bzw. ‚Doppel-V’ verweist nicht nur auf den (geheimnisvollen) Familiennamen einer der beiden Protagonistinnen des Stücks. Anhand dieses je nach Kontext mehrdeutigen und geschichtlich stark aufgeladenen Buchstabens, dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens der Autorin, kristallisiert sich eine sprachlich-kulturelle Identitätsproblematik mit einer prononciert autobiographischen Dimension heraus.[7] In der Tat existiert eine intime Verknüpfung zwischen der zweisprachigen Faktur dieses Hörspiels und jener transkulturellen Suche und grenzüberschreitenden Bewegung, die Leben und Werk der Autorin charakterisieren.[8] Dieses Überschreiten kultureller und sprachlicher Grenzen ist gleichsam bereits in jenem von der Schriftstellerin ererbten und in W wie ihr Name/Avec un double V (implizit) thematisierten Patronym Wajsbrot angelegt, handelt es sich doch um einen französischen Familiennamen polnischer Herkunft, dessen sprachliche Wurzeln über das Jiddische letztlich auf das Mittelhochdeutsche zurückverweisen.[9]
Cécile Wajsbrots Status als ‚transfuge’[10] zwischen Paris und Berlin und der Umstand, dass sie heute rund die Hälfte des Jahres in Deutschland verbringt, bilden die lebensweltliche Voraussetzung für ihr jüngstes Erproben von Schreibformen zwischen der französischen und der deutschen Sprache. Noch ist offen, ob sich diese Art des mehrsprachigen Schreibens bei Wajsbrot als dauerhafte Praxis etablieren wird.[11] Im Januar 2013, zeitgleich mit dem 50. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags, wurde jedenfalls ihr zweisprachiges Hörspiel über die sich kreuzenden Lebenswege einer deutschen Lehrerin und einer in den 1950er Jahren geborenen französischen Schülerin jüdischer Herkunft[12] in Deutschland und Frankreich ausgestrahlt. Der Terminus ‚zweisprachig’ ist hierbei in doppelter Hinsicht zu verstehen: das Stück existiert in zwei unterschiedlichen Landesfassungen—eine für das deutsche, eine andere für das französische Publikum—, wobei jede dieser Versionen in sich bereits zweisprachig ist, also das Deutsche und das Französische in jeweils unterschiedlicher Gewichtung mischt.[13]
Durch das Schreiben dieses Hörspiels wird Cécile Wajsbrots Beziehung zu Deutschland um eine entscheidende Dimension erweitert und erhält eine dezidiert translinguale Komponente. Es handelt sich um den (vorläufigen) Höhepunkt einer jahrelangen—fast könnte man sagen lebenslangen—Annäherung der Schriftstellerin an Deutschland und die deutsche Sprache. In W wir ihr Name/Avec un double V avanciert die literarische Mehrsprachigkeit zu einem neuen effizienten Vehikel eines allgemeinen Strebens nach Vermittlung, ja Versöhnung zwischen den Völkern und Kulturen.[14] Die Wajsbrots Werk inhärenten transkulturellen Bewegungen werden durch eine solche Überbrückung von Sprachgrenzen nochmals intensiviert; es eröffnet sich ein deutsch-jüdisch-französischer Gedächtnisraum, der es laut Autorin ermöglichen soll, nach vorne in eine gemeinsame Zukunft zu blicken. Dabei sollen die Schatten der Vergangenheit—namentlich die des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts—keineswegs aus den Augen verloren oder gar verdrängt werden, wie die eingangs zitierte Aussage der Autorin deutlich macht. Allerdings soll diese Last der Vergangenheit nicht den notwendigen „Raum für Gegenwart und Zukunft“[15] zerstören, zu dessen Erschließung bzw. Erhaltung ein gemeinsames, mithin translinguales Erinnern beitragen kann. Oder wie es bezeichnenderweise die (deutsche) Sprache im Hörspiel ausdrückt: „Ich möchte dir helfen. […] Stütze dich auf mich“.[16]
Schreiben an der deutsch-französische Schnittstelle
Bevor ich näher auf Cécile Wajsbrots singuläre Beziehung zur deutschen Sprache bzw. zum Deutschen als Literatursprache eingehe, soll der Versuch eines skizzenhaften historischen Rückblicks auf den deutsch-französischen Sprach- und Literaturkontakt sowie auf Formen literarischer Mehrsprachigkeit an der deutsch-französischen Schnittstelle unternommen werden. Bekanntlich stehen das Französische und das Deutsche als Nachbarsprachen seit über tausend Jahren—spätestens seit den berühmten Straßburger Eiden von 842—in einem engen doch immer wieder von Konflikten und Kriegen geprägten Kontakt.[17] Ein entscheidender Faktor ist hierbei die anhaltende Nicht-Übereinstimmung staatlicher und sprachlicher Grenzen, d.h. die Überlappung politischer, sprachlicher und kultureller Territorien, wie es das Beispiel von Elsass und Lothringen seit spätestens 1648 besonders intensiv zeigt.
Gleichzeitig führt diese Kontaktzone—bzw. allgemein der nachbarschaftliche Sprachkontakt und sprachübergreifende Austausch—im literarischen Bereich sehr früh zur Ausbildung intensiver Transfer-Bewegungen und damit zu genealogischen Beziehungen und fruchtbarer Hybridisierungen.[18] Dazu gehören neben vielen anderen Phänomenen Formen literarischer Zweisprachigkeit, die man auf dem deutsch-französischen Feld bis zum Mittelalter zurückverfolgen kann. Auch im Zeitalter des Barock und der Aufklärung war die translinguale Praxis in der Literatur verbreitet. Stellvertretend dafür stehen in der neueren Literatur- und Ideengeschichte u.a. die Brüder Humboldt, die Brüder Schlegel, Adalbert von Chamisso, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Hans/Jean Arp und Yvan Goll.[19]
Dieses Phänomen tritt in der deutsch-französischen Kontaktzone besonders häufig auf dem Boden des historischen Lotharingiens, des 842 gegründeten ‚Mittelreichs’ auf, wo die traditionelle und teilweise bis heute andauernde Bilingualität des sozialen Raums und intellektuellen Diskurses eine ideale Grundlage für die literarische Zweisprachigkeit bildet. Jedoch gibt es auch eine nicht unerhebliche Zahl von deutsch-französischen Autoren, die nicht bereits ab Geburt sondern z.T. erst spät die andere Sprache erworben oder als Literatursprache für sich entdeckt haben. Aktuelle Beispiele dafür sind Georges-Arthur Goldschmidt, Anne Weber, Peter Handke oder eben Cécile Wajsbrot.[20]
Historisch betrachtet überwiegt auf quantitativer Ebene eindeutig die Bewegung von der deutschen Mutter- bzw. Erstsprache hin zur französischen Literatursprache. Die Zahl der gebürtigen Frankophonen, die das deutsche als Literatursprache wählen, ist hingegen wesentlich kleiner. Soziolinguistisch betrachtet ist das größtenteils durch das jahrhundertealte Prestige des Französischen als Literatursprache bedingt, auch wenn andere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen, wie im Folgenden anhand der Beziehung von Sprache und Geschichte verdeutlicht werden soll.[21]
Sprache und (Familien)Geschichte
Zweifelsohne bilden die geschichtlichen Zerwürfnisse zwischen Deutschland und Frankreich, wie sie in den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts ihre katastrophale Klimax erreicht haben, die entscheidende Folie, vor der sich auch heute noch jede Art von deutsch-französischer Inter- und Transkulturalität situieren muss. Die sprachliche bzw. literarische Ebene ist unmöglich von diesen traumatischen historischen Erfahrungen und schmerzhaften, mit Ressentiments beladenen Erinnerungen zu trennen. Auch wenn der Erste Weltkrieg anlässlich der aktuellen Gedenkveranstaltungen zur Zeit erneut an Präsenz gewinnt steht aus französischer Perspektive das Verhältnis zur deutschen Sprache sicherlich zuvorderst im Schatten der deutschen Okkupation Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Die Erinnerung an die Zeit der deutschen Besatzung und ihre Gräuel betrifft dabei in besonderem Maße die Nachfahren der unter dem Vichy-Regime verfolgten oder ermordeten französischen Juden.[22]
Zu dieser Gruppe gehört auch Cécile Wajsbrot als Nachkommin polnischer Juden, die sich in den 1930er Jahren in Paris niedergelassen hatten. Die Tatsache, dass ihre Familie während der Okkupationszeit von 1940 bis 1944 von den NS-Besatzern verfolgt und ihr Großvater deportiert und in Auschwitz umgebracht wurde,[23] lastet als historische Hypothek und familiäres Trauma auf ihren Versuchen, sich Deutschland und dem Deutschen anzunähern. Der Weg der französisch-jüdischen Autorin hin zur deutschen Literatursprache darf somit als ‚steinig’ (durchaus auch im Sinne der berühmten Berliner Stolpersteine) bezeichnet werden. Obwohl Cécile Wajsbrot die deutsche Sprache bereits während ihrer Schulzeit erlernt hat, blieb ihr das Deutsche lange fremd,[24] so wie es ihr bis weit ins Erwachsenenalter hinein schwer fiel, den Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Erst der Fall der Mauer und die Öffnung des ehemaligen Ostblocks hat sie allmählich in die Lage versetzt, dem familiären Trauma ins Auge zu sehen und die Grenze zu Mittel- bzw. Osteuropa dauerhaft zu überwinden und damit das historisch-sprachliche Territorium ihrer Familiengeschichte neu zu erkunden.[25]
Es wäre jedoch sicherlich falsch, Wajsbrots primäre Beziehung zum Deutschen als rein negativ aufzufassen. Trotz der traumatischen, ja geradezu feindlichen Ausgangslage besitzt die deutsche Sprache auch eine gewisse—fast unheimlich zu nennende—Nähe für die französischen Nachfahren osteuropäischer Juden, deren Großeltern sämtlich das Jiddische zur Muttersprache hatten. Aufgrund dieser engen sprachlichen Verwandtschaft erscheint das Jiddische auch in Wajsbrots Augen als „Zwillingssprache“[26] des Deutschen, und einige Worte Jiddisch finden sich so auch im Text des Hörspiels wieder.[27] Die Sprache der Mörder wandelt sich dadurch zu einer Art „Schwester“ oder „Kusine“ der Muttersprache der eigenen Großeltern.[28] Nicht zuletzt kann das Erlernen der deutschen Sprachen auch die Kommunikation mit der jiddisch sprechenden Großmutter erleichtern, da das Deutsche als offizielle Schulsprache in Frankreich einfacher zu erlernen ist als die nahezu ausgerottete Minderheitensprache Jiddisch, die selbst dort, wo es noch möglich wäre, nicht immer an die Nachkommen weitervermittelt wurde.[29]
Diese an einen double bind erinnernde Konstellation betrifft im Grunde Cécile Wajsbrots gesamtes Verhältnis zu Deutschland, insofern als bei ihr auf paradoxe Weise Deutschland sowohl als Heimat der Nazischergen als auch als Land eines beispielhaften Umgangs mit eben dieser Vergangenheit erscheint.[30] Die französische Erinnerungspolitik nimmt sie hingegen als höchst defizitär wahr und scheut sich nicht, diese offen zu kritisieren. In diesem Zusammenhang wird ihr Berlin zu einem Palimpsest der Erinnerung,[31] und auch die deutsche Sprache selbst fungiert bei ihr immer wieder als Katalysator des Erinnerns, ja die Aufarbeitung der familiären und historischen Vergangenheit wird erst durch die Mittelung über Deutschland und die (abgründige) deutsche Sprache möglich: „Jedes [deutsche] Wort enthält eine Geschichte…“[32]
Diese progressive Annäherung an—und durchaus auch Versöhnung mit—Deutschland mündet schließlich in den 2000er Jahren in die Übersiedelung Wajsbrots nach Berlin und ihre Wahl—im Alter von fast sechzig Jahren—des Deutschen als (sekundäre) Literatursprache, nachdem sie bereits begonnen hatte, als Übersetzerin aus dieser Sprache zu arbeiten.[33] Aus einer von der Last der Geschichte erstickten Sprache, die lange Zeit vor allem schmerzliche Gefühle verursacht hat, wird somit schließlich im Laufe der Zeit eine gleichsam intime bzw. ihre schriftstellerische Persönlichkeit bereichernde und ergänzende Sprache. Diese Bewegung hin zum Deutschen geht einher mit einer zunehmenden Distanz gegenüber ihrer französischen Heimat, die ihr immer mehr als ein Land erscheint, das sich seiner eigenen historischen Verantwortung entzieht. Hierzu schrieb sie bereits 1999 in ihrem polemischen Essay Pour la littérature:
Unsere Urszene heißt Vichy, und wie jede Urszene liegt sie im Halbschatten eines Unbewussten begraben, das darauf wartet, sie endlich vergessen zu können. Die Verdrängung hat den gesamten Platz eingenommen, und unter dem Deckmantel der Literaturtheorie hat die Schreibweise (écriture) die Literatur ersetzt—unter dem Vorwand der Intelligenz.[34]
Indem sie die Pflicht zum Erinnern in einen transnationalen, europäischen Rahmen einbettet, entzieht sich Wajsbrot nicht zuletzt einer in Frankreich noch immer weit verbreiteten historischen Mythenbildung und bezieht eine originelle Position innerhalb des intellektuellen Feldes in Frankreich.[35] Diese Position wird zudem durch ein allgemeines Gefühl der „Fremdheit“ in ihrem Geburtsland sowie durch ihre eher marginal zu nennende Situation im französischen Literaturbetrieb unterstrichen.[36]
Literatur in (Sprach)Bewegung
Ottmar Ette, einer der ersten Literaturwissenschaftler, der sich mit dem Werk Wajsbrots auseinandergesetzt hat, hat die Spezifika ihres Schreibens in die Entwicklung seiner Theorie einer „Literatur in Bewegung“ einbezogen. In seinen Analysen erscheint Wajsbrots Literatur als Beispiel jenes „ZwischenWeltenSchreibens“, das der Literatur „neue transkulturelle, translinguale und transareale Bewegungs-Räume“[37] eröffnet. In der Tat bewegt sich Wajsbrots Schreiben seit ihren in den 1990er Jahren veröffentlichten Romanen konsequent zwischen den Welten, d.h. zwischen verschiedenen Epochen, Ländern, Kulturen—und nunmehr auch Sprachen. Die Themen des Ortswechsels, der Reise, der Suche, zuweilen auch der Irrfahrt—die Fragen der Emigration und des Exils—beherrschen fast ausnahmslos ihre Bücher.[38] Die hauptsächlichen Vektoren ihrer schreibenden Bewegungsfiguren betreffen dabei die historische Verbindung von Gegenwart und Zweitem Weltkrieg bzw. Holocaust, sowie die deutsch-französischen Beziehungen—historisch, kulturell und sprachlich. In diesem Zusammenhang spielt Polen als Herkunftsland ihrer Vorfahren ebenfalls eine wesentliche Rolle, ein Land, wo ihr Name im Gegensatz zu Frankreich auf Anhieb richtig ausgesprochen wird, gleichzeitig aber für das steht—namentlich das polnische Judentum—, was dort nahezu vollständig vernichtet wurde.[39]
Durch die Bewegung zwischen Frankreich, Deutschland und Polen bildet sich eine Art literarisches und historisches Dreieck heraus, ein mehrdimensionaler Erinnerungsraum, in dem sich die Schriftstellerin auch immer autobiographisch ihre eigene Familiengeschichte zu verorten sucht. Diese Familiengeschichte steht von Beginn an unter dem Zeichen des (Ver)Schweigens bzw. des Unsagbaren, und Wajsbrots (nicht zuletzt sprachliche) Annäherung an Deutschland ist somit sicherlich auch als ein Ausdruck ihrer Anstrengungen zu werten, den geheimen Wegen und Erfahrungen ihrer Vorfahren, über deren Schicksal im Elternhaus geschwiegen wurde, auf die Spur zu kommen.[40] Aus einem anfänglichen Tabu oder Verbot heraus kommt es somit über das Deutsche zu einer Aneignung bzw. Wiederaneignung der historischen Wurzeln ihres Namens und ihrer Familie. Im Titel ihres deutsch-französischen Hörspiels, dessen mehrsprachige Faktur symbolisch den Gegenpol des Schweigens besetzt, wird diese Bewegung als Verschiebung bzw. Zwischenraum markiert, nämlich durch die (mündliche) Verdoppelung des Buchstaben W zu „double V“ (oder—rein phonetisch betrachtet—Doppel-W [v]). Dieser (un)gleiche Buchstabe steht letztlich für ein Patronym, das weder französisch noch polnisch noch deutsch ist, und doch wiederum all dies zugleich. In W wie ihr Name/Avec un double V, diesem sprachlich verdoppelten Text, den ich jetzt näher vorstellen möchte, wird Wajsbrots autobiographische ‚ZwischenWeltenSchreiben’ erstmals explizit als translinguales markiert.
Genese, Konzeption und Inhalt des Hörspiels
Das rund einstündige und in sieben „Szenen“ gegliederte Werk W wie ihr Name/Avec un double V von Cécile Wajsbrot ist nicht das erste Hörspiel dieser Schriftstellerin, die vor allem als Romanautorin bekannt geworden ist, jedoch seit langem eine sehr enge Beziehung zum Medium des Radios unterhält.[41] So hat sie zahlreiche Hörspiele verfasst und einige ihrer markantesten Texte, wie z.B. das 2004 veröffentlichte Beaune-la-Rolande, sind aus dieser Zusammenarbeit mit dem Hörfunk entstanden. Darüber hinaus sind diese Texte von einer großen künstlerischen Freiheit und Experimentierfreudigkeit geprägt und können als der Ort bezeichnet werden, an dem die autobiographischen Motive in Wajsbrots Werk am stärksten hervortreten.[42]
Bei W wie ihr Name/Avec un double V handelt es sich um eine von Anette Kührmeyer, der Leiterin der Hörspielredaktion beim Saarländischen Rundfunk initiierte und im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen dem SR2/Deutschlandradio und dem Sender France Culture realisierte deutsch-französische Auftragsarbeit. Der zweisprachige Charakter des Texts gehörte zu den Vorgaben des Projekts, auch wenn sich Cécile Wajsbrot laut eigener Aussage zum Zeitpunkt der Anfrage seit Längerem mit dem Gedanken trug, auch im Deutschen literarisch aktiv zu werden, weshalb das Angebot von Seiten des Radiosenders besonders willkommen war.[43]
Anstelle einer eigenen Synopsis möchte ich zur Einführung in Handlung und Aufbau des Hörspiels die Internetauftritte der an der Produktion beteiligten Radiosender zitieren. Zunächst die von der Hörspiel-Redaktion des SR2 erstellte deutsche Zusammenfassung:
Anfang der 60er-Jahre: Deutschunterricht an einem Pariser Gymnasium: Die Lehrerin ist Deutsche, verbirgt aber ihre Herkunft. Vor der Last der Geschichte, der deutschen und ihrer eigenen, ist sie nach Frankreich geflüchtet.
Mit dem neuen Schuljahr bekommt sie eine neue Schülerin, eine Französin, deren Name aber mit dem im Französischen seltenen Buchstaben ‘double V’ beginnt. Der Name ‘mit W’ ruft in der Lehrerin Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach.
Die Begegnung von Schülerin und Lehrerin führt beide zu der Entdeckung, dass die deutsche Sprache einer rettenden Insel gleicht, wo überraschende Annäherung möglich werden.[44]
Durch die Konzentration auf die beiden Hauptpersonen—Schülerin und Lehrerin—verzichtet die deutsche Präsentation auf eine Erwähnung der drei allegorischen Nebenfiguren—„Die Zeit“, „Der Tod“ und „Die Sprache“—deren Kommentare und Aussagen im Hörspiel einen zentralen Stellenwert einnehmen. Besonders hervorzuheben ist in dieser Fassung für deutsche Hörer die das Werk prägende Idee der deutschen Sprache als „rettende Insel“.
Die von der Autorin selbst redigierte französische Synopsis nimmt diesbezüglich andere Akzentuierungen vor und divergiert von der deutschen Fassung:
Une élève, une professeur—dans la classe d’un lycée non mixte du début des années soixante. L’une enseigne l’allemand, l’autre l’apprend. La langue allemande n’est pas une langue innocente et chacune a ses raisons de l’éprouver. Les sept scènes de cette pièce radiophonique se déroulent à des époques différentes—des années soixante à nos jours—dessinant, à travers l’histoire en miroir des deux personnages, l’évolution d’un rapport à la langue, à l’histoire allemande.
Trois figures – die Zeit (le temps), der Tod (la mort), die Sprache (la langue) – les accompagnent sur le chemin de leur vie, dans leur traversée du temps.[45]
Im Vergleich zum deutschen Internetauftritt akzentuiert die an das französische Publikum adressierte Präsentation die geschichtliche Belastung der „nicht unschuldigen“ („pas une langue innocente“) deutschen Sprache. Daneben verdeutlicht sie die Struktur des Stücks, dass sich über einen Zeitraum von rund einem halben Jahrhundert erstreckt („se déroulent à des époques différentes—des années soixante à nos jours“), und betont die mit der Entwicklung der Figuren einhergehenden Veränderungen im Verhältnis zur deutschen Sprache und Geschichte („l’évolution d’un rapport à la langue, à l’histoire allemande“).
Diese einsprachigen Präsentationen der beiden Hörspielfassungen auf den Websites der jeweiligen Rundfunkanstalten beiderseits des Rheins illustrieren symbolisch den doppelten Adaptationsprozess, der der Genese des Doppelwerks Wie wie ihr Name/Avec un double V zugrunde liegt: Aus einer originären zweisprachigen Erstfassung des Hörspiels, die ursprünglich von der Autorin eingereicht wurde, entstanden im Laufe der redaktionellen Umarbeitung in Absprache mit den verantwortlichen Redakteuren zwei länderspezifische Fassungen, die vom selben Produktionsteam und derselben Gruppe von Schauspielern (darunter der berühmte David Bennent nebst seiner Schwester Anne) in Paris aufgenommen wurden. Ziel der länderspezifischen Anpassung war laut Aussage der Autorin, dass das jeweilige Publikum die zentralen Inhalte des Textes auch ohne Kenntnisse der Fremdsprachen verstehen könnte.[46] Allerdings ist der Grad der Sprachmischung in beiden ausgestrahlten Fassungen verhältnismäßig hoch, wobei sich die beiden Sprachen—manchmal nach Art eines Wörterbuchs oder einer Interlinearversion—gegenseitig beleuchten und ergänzen, wie dieses kurze Beispiel aus der Fassung für das deutsche Publikum zeigt:[47]
L’ELEVE—Ich hatte die Gelegenheit, ein wenig Zeit in Berlin zu verbringen, zur Untermiete, quelques semaines pendant lesquelles la locataire apprenait l’histoire de l’art à Rome. In einem Studentenviertel, für das ich schon zu alt war, voll von ehemals besetzten, jetzt geräumten Häusern. J’habitais un immeuble presque vide. Dans la rue, des jeunes promenaient deux ou trois chiens chacun, portaient de vieux surplus militaires customisés—mein erster Eindruck war Lichtjahre entfernt von dem, was ich mir vorgestellt hatte.[48]
Hier ein anderes Textbeispiel, diesmal aus der Fassung für die Ausstrahlung auf France Culture:
DER TOD—Manchmal gehe ich in andere Länder, d’autres temps, où on ne me reconnaît pas forcément. Sie haben keine Ahnung—ich begleite sie, ich schweige.
LE PROFESSEUR—Imaginez. Nous sommes sur un bateau et nous apercevons la côte. Un pays nous attend avec ses villes et ses fleuves, ses forêts, ses personnages, ses histoires. Sehen Sie, la langue est un continent – il y a tant à découvrir. Vous êtes des explorateurs et je peux vous guider à travers les dangers, durch die Fälle—ensemble nous pourrons surmonter les obstacles. Ein Abenteuer verspreche ich Ihnen. En vérité je ne dis rien de tout cela. Ce que j’ai préparé s’est évanoui à la vue d’un nom. Aber was ist schon ein Name?[49]
Trotz der zahlreichen im Text ablaufenden Sprachmittlungsprozesse zwischen dem Deutschen und dem Französischen sind die beiden länderspezifischen Fassungen insgesamt nicht spiegelbildlich konzipiert. Sie stehen sich nicht als Komplementärversionen in einer fotografischen Positiv-Negativ-Relation gegenüber. Einige Stellen sind in beiden Fassungen textidentisch, d.h. sie stehen im Wortlaut in derselben Sprache. Andere Stellen wurden in die andere Sprache übersetzt oder—wie z.B. die O-Töne—länderspezifisch angepasst. Andere Stellen wiederum fielen in einer der beiden Hörspielfassung Kürzungen zum Opfer, bringen also z.T. inhaltliche Abweichungen mit sich.
Die chiastische Einheit dieses gleichsam mehrfach verdoppelten Hörspiels wird letztlich durch den Buchstaben W (double V) hergestellt, der einerseits als ein dem Französischen ursprünglich fremder Buchstabe auf das Deutsche hindeutet,[50] andererseits aber auf die französische Herkunft der Autorin des Stücks verweist. So bildet wie bereits erwähnt das Nachdenken über die singuläre Identität dieses Buchstabens W den Dreh- und Angelpunkt des Hörspiels, das nicht zuletzt ein Werk über Sprache bzw. das Verhältnis von Sprache und Geschichte ist, wie u.a. diese Passage zeigt, wo ein deutsch-französischer Sprachvergleich mit dem Namen der jüdischen Schülerin und deren tragischer Familiengeschichte verknüpft wird, die stellvertretend für Abermillionen von ähnlichen Schicksalen steht:
LE PROFESSEUR—En entrant dans la classe, j’ai compris. In meinem Traum fingen alle Wörter mit dem Buchstaben W an. Wie ihr Name. Ein seltsamer Buchstabe, wie kein anderer. Auf Deutsch ist es ein einfacher Buchstabe, w, wie v auf Französisch. Aber auf Französisch nennt man ihn double V. Doppeltes V. Auf Englisch double U. Wozu braucht man un double v? Und warum haben wir ihn als einfaches V?[51]
Bezeichnenderweise beginnen zudem in beiden Sprachversionen die ersten Wörter, die jeweils zu hören sind, sämtlich mit dem Buchstaben W („Wunde, Wunder, Wahrnehmung, Wachsfigur…“), der im Hörspiel sowohl deutsche wie auch jüdische Identität markiert. Überhaupt spielen die immer wieder auftauchenden ‚W-Wörter’ im gesamten Text eine starke symbolische Bedeutung, u.a. im Verhältnis der beiden Hauptfiguren zueinander.
Autobiographie und Zeitgeschichte
Im Januar 2013 wurde das Hörspiel anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages erstmals ausgestrahlt. Wie aus der Zusammenfassung ersichtlich wurde, erstreckt sich die Handlung über einen historischen Zeitraum, den man als die Epoche der deutsch-französischen Versöhnung bezeichnen könnte. Dabei verfolgt der Plot gleichzeitig die Lebensgeschichte einer französischen Schülerin, die Mitte-Ende der 1960er Jahre in einem Pariser Collège mit dem Erlernen der deutschen Sprache begann und die mit einer leichten zeitlichen Verschiebung diejenige der Autorin Wajsbrot selbst sein könnte.[52] Das Hörspiel enthält nicht nur zahlreiche Bezüge zu anderen Werken der Schriftstellerin, es stellt nicht nur eine zweisprachige Variation über zentrale Themen ihres Oeuvres dar, sondern spiegelt auch sichtbar zentrale biographische Fakten wie z.B. ihre jüdische Identität und Familiengeschichte, die Bedeutung des Falls der Mauer für ihre Annäherung an Deutschland oder ihre Übersiedelung nach Berlin.
Der zeitliche Fokus des Hörspiels richtet sich zunächst auf die erste Begegnung zwischen Lehrerin und Schülerin und die Deutschstunden während der 1960er Jahre (Szenen 1-3). Einen weiteren Schwerpunkt bildet dann die Zeit nach dem Fall der Mauer—‚Wende’, nochmals ein W-Wort—, als sich die beiden Hauptfiguren in Berlin wieder begegnen (Szenen 5-7). Die dazwischen liegenden 1970er und -80er Jahre werden anhand prägender historischer Ereignisse (u.a. der RAF-Terrorismus) in Form von O-Tönen und mittels biographischer Figuren-Kommentare evoziert (Szenen 4+5), wobei sich die Wege von Schülerin und Lehrerin trennen. Von Beginn an werden die beiden Protagonisten von einem mythisch anmutenden Dreigestirn—bestehend aus den Figuren „Die Zeit“, „Die [deutsche] Sprache“, „Der Tod“—ergänzt. Im Unterschied zum anonymen Chor des antiken Dramas, an den diese Gestalten erinnern, handelt es sich um einzelne Personifizierungen, wobei die Figuren nur selten gemeinsam auftreten.
Insgesamt enthält das Hörspiel wenige Dialoge im eigentlichen Sinn, doch scheinen trotz der überwiegend monologischen Struktur alle Stimmen (vor allem die der drei allegorischen Figuren) innerhalb eines mentalen Erinnerungs- und Kommunikationsraums miteinander verbunden zu sein. Diese komplexe Verflechtung einer Vielzahl von Stimmen ist ein markantes Charakteristikum vieler Texte Wajsbrots.[53] Der Hörer ist dabei nicht immer bzw. nicht sofort in der Lage, die Zugehörigkeit der verschiedenen Stimmen auszumachen, zumal die Figuren keine feste sprachliche Identität besitzen, sondern permanent—z.T. innerhalb desselben Satzes—zwischen dem Deutschen und dem Französischen wechseln, wodurch eine transliguale Verflechtung der gesamten dramatis personae entsteht, wie sie bereits im Buchstaben W des Titels bzw. des Autorenpatronyms angelegt ist.
Zur Veranschaulichung dieser polyphonen Struktur möchte ich an dieser Stelle den Anfang des ‚deutschen’ Skripts zitieren, auch wenn diese schriftliche Form nicht in der Lage ist, die eigentümliche Faktur des realen Hörspiels wiederzugeben:[54]
DIE SPRACHE—Ich wache, ich warte. Die Jahre vergehen, und ich bleibe.
LE PROFESSEUR – So war es damals… Auf der Liste der Schülerinnen (elles sont toutes en blouse beige, uniforme) sieht ein Name mich an, und wartet auf mich, macht mir Angst. Je ne sais pas encore à qui il correspond.
DIE ZEIT—Ich war, ich bin—je serai.
DER TOD—J’ignore la première personne ou plutôt, la première personne m’ignore.
L’ELEVE—Apprendre la langue d’un pays contre lequel tout et tout le monde nous dresse. La guerre est pourtant terminée depuis quinze ans. Plus que mon âge. Ich lerne die Sprache eines Landes, gegen das alles und alle uns aufbringen wollen, obwohl der Krieg seit fünfzehn Jahren vorbei ist. Ich bin noch nicht mal fünfzehn. Und fürchte mich mehr vor den Fällen als vor der Erinnerung an den Krieg.
DIE SPRACHE—Die Fälle, die Grammatik. Aber nicht nur. Ich bin die Sprache.
LE PROFESSEUR—Ich bin ans Lehrerpult getreten, habe mich an den Schreibtisch gesetzt, habe das Klassenbuch aufgeschlagen und die Namen gelesen, einen nach dem anderen, und er war der letzte, tapi comme l’animal dans la forêt qui guette le chasseur ou qui guette sa proie, den Namen habe ich wie die anderen ausgesprochen, im gleichen Ton, d’une voix égale, sans tremblement et sans hésitation—nur ein wenig zu laut.
DIE ZEIT—Warten, leben, überleben. Ich vergehe—ich bin die Zeit. Le temps qui reste en suspens, le temps qui passe. Le temps.
DER TOD—Au bout d’un long tunnel, au bout d’une longue route, j’attends. Certains voient en moi la lumière, d’autres la grande ombre sur leur vie. Ich bin der Tod, manchmal eine alte Frau, manchmal ein junger Mann—anwesend, unsichtbar.
L’ELEVE—„Anwesend“, habe ich geantwortet, wie sie alle antworten, die Lehrerin hat mich lange angesehen—je suis la dernière de la liste alphabétique—die Stille dauerte an. Une pause avant de passer à autre chose. Son regard s’est perdu dans le vague.[55]
„Es war ein langer Weg“:[56] auch ein Werk der Versöhnung
Wie hier gezeigt wurde, stellt das zweisprachig Hörspiel W wie ihr Name/Avec un double V den vorläufigen Höhepunkt im langjährigen Prozess der Annäherung Cécile Wajsbrots an Deutschland dar, wobei die progressive Aneignung der deutschen Sprache als Idiom des literarischen Ausdrucks einen bemerkenswerten Schritt darstellt. Zwar erscheinen seit 2002 Übersetzungen ihrer Bücher in Deutschland,[57] doch werden ihre transkulturellen Bewegungen im deutsch-französischen Spannungsfeld durch die hier analysierte Form unmittelbarer Mehrsprachigkeit auf eine ganz neue Stufe gestellt.
Aus der Familiengeschichte heraus verlief die späte Herausbildung dieser literarischen Zweisprachigkeit zunächst über die Mittelung einer dritten Sprache, einer Phantomsprache gleichsam. Das Jiddische als verlorene Sprache der polnischen Vorfahren bildete den biographischen Ausgangspunkt, die genealogische ‚Kontaktzone’ sozusagen, über die der Bezug zum Deutschen als Sprache der persönlichen Geschichte begann. So bot das Deutsche umgekehrt auch die Möglichkeit, über das zunächst fremde, ja feindliche Idiom einen neuen Zugang zur Sprache der eigenen Vorfahren zu finden. Es darf vermutet werden, dass diese symbolische Rückeroberung eines Teils der Familiengeschichte eine entscheidende Rolle bei Wajsbrots Aneignung des Deutschen gespielt hat. Mehrsprachiges Schreiben bedeutet in diesem Sinne auch eine (partielle) Aufhebung des Schweigens, gleichsam einen Kontrapunkt zum Topos der Abwesenheit, der ein zentrales Moment der Ästhetik Wajbrots darstellt.
Insgesamt handelt es sich um eine komplexe, fast aporetisch zu nennende Relation zur deutschen Sprache, die an die sprachliche Situation vieler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborener deutsch-jüdischer Schriftsteller erinnert, wie z.B. an die des Lyrikers Paul Celan (1920-1970), der im Hörspiel zitiert wird. Das von Wajsbrot verwendete deutsche Idiom ist eine von der Geschichte gezeichnete, gleichsam umflorte Sprache. Doch ist es auch eine Sprache, die es den Menschen erlaubt, im Unterschied zum Engel der Geschichte Walter Benjamins (der ebenfalls im Stück zitiert wird), durch den schonungslosen Rückblick in die Vergangenheit auch wieder die Möglichkeit zum vertrauensvollen Blick nach vorn, in die Zukunft zu bekommen. Wie sie es bereits 2002 den deutschen Erzähler in Caspar Friedrich Strasse sagen lässt: „Wir werden allmählich den uns lähmenden Horror in uns aufnehmen und uns aus der Erstarrung befreien können, in der wir uns befanden.“[58] Selbst wenn der Titel des Romans, aus dem dieses Zitat stammt, eben auch deutlich macht, dass etwas unwiederbringlich verloren ist, denn der vollständige Name der Berliner Straße lautet eben: Caspar David Friedrich-Straße.[59] Der vertrauensvolle Blick nach vorn geschieht also im Wissen um das Geschehene, auf Grundlage eines geschichtlichen Bewusstseins, das nicht zuletzt in der deutschen Sprache selbst verankert ist.
Mit ihrem zweisprachigen Hörspiel gelingt es der sprachlich-kulturellen Mittlerin Cécile Wajsbrot einen Teil jenes gemeinsamen Bodens wiederherzustellen, auf dem die durch die historischen Katastrophen gezeichneten und entzweiten Kulturen, Sprachen und Literaturen einmal hervorgegangen sind. Dabei überwindet ihr literarischer Beitrag zur deutsch-französischen Versöhnung letztlich den autobiographischen und jüdischen Rahmen und erreicht eine universelle Dimension in Bezug auf Fragen des Erinnerns, der geschichtlichen Gewalt und der Möglichkeit des Vergebens.[60] Wie die letzten Worte des Hörspiels zeigen, versteht sich ein solches Schreiben auch als Sieg über die Geschichte, die Sprache und die Zeit, insofern als es diese für neue Horizonte und Erfahrungen öffnet:
DER TOD—Une victoire sur l’histoire.
DIE ZEIT—Sur la langue.
DIE SPRACHE—Ein Sieg über die Zeit.[61]
So vollzieht sich am Ende die Bewegung von der „Wunde“ zum „Wunder“, die bereits zu Beginn des Hörspiels angedeutet wurde—jene Bewegung von der Last der (Familien)Geschichte zur „rettenden Insel“[62] der deutschen Sprache, wo neues (Zusammen)Leben möglich scheint.
Die aus Doppelungen und Verflechtungen bestehende Struktur des Hörspiels überwindet symbolisch die von der Geschichte der Nationalstaaten und deren kriegerischen Auseinandersetzungen festgeschriebenen Grenzen und schafft einen gemeinsamen deutsch-französischen Erinnerungsraum im Vertrauen auf eine gegenseitige Verständigung über Sprachgrenzen hinweg. Trotz des pessimistischen Tons, der Wajsbrots Gesamtwerk dominiert, darf W wie ihr Name/Avec un double V daher als positiver Zukunftsentwurf gelesen werden. Bleibt zuletzt die Frage nach dem adäquaten Publikum für eine solche mehrsprachige Literatur der Versöhnung, angesichts der Tatsache, dass die Beherrschung der Sprache des Nachbarn in jüngster Zeit eher ab- als zunimmt und somit auch die sprachlichen Möglichkeiten einer fortdauernden gemeinsamen Erinnerungsarbeit. In diesem Sinne könnte das Hörspiel nicht zuletzt als ein Appell für den Fortbestand bzw. die Wiederbelebung des Geistes des Elysée-Vertrags und seines historisch einmaligen kultur- und sprachpolitischen Programms gelesen werden.
[1] „Ich spreche nicht die Sprache meiner Eltern, ich teile mit ihnen keine der Erinnerungen, die sie besaßen, etwas, das zu ihnen gehörte, etwas, das sie zum dem machte, was sie waren, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Hoffnung, wurde nicht an mich weitergegeben.“, Georges Perec (und Robert Bober), Récits d’Ellis Island, Histoires d’errance et d’espoir, Paris: P.O.L, 1994 (1980), S. 59 (Übersetzung durch den Verfasser; die deutsche Ausgabe ist 1997 unter dem Titel Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht in der Übersetzung von Eugen Helmlé bei Wagenbach in Berlin erschienen). Ein näherer Vergleich von Georges Perecs Werk mit der Sprach- und Erinnerungsproblematik bei Cécile Wajsbrot wäre sicherlich lohnenswert, kann aber im Rahmen dieses Beitrags nur suggeriert und nicht geleistet werden.
[2] „Die Schülerin“ („l’élève“) zur „[deutschen] Sprache“, in: Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name. Unveröffentlichtes Hörspielskript. Ich danke der Autorin für die freundliche Bereitstellung des unveröffentlichten Skripts der beiden Hörspielfassungen. Die Aufnahme der beiden Versionen des Hörspiels sind im Internet abrufbar. Abgerufen am 15.8.2015.
[3] Cécile Wajsbrot hat seit 1982 rund ein Duzend Romane bzw. Prosatexte, zehn Hörspiele (aus denen z.T. ihre Prosapublikationen hervorgegangen sind) und eine Reihe von Essays verfasst. Daneben ist sie als Übersetzerin aus dem Englischen und dem Deutschen tätig.
[4] Cécile Wajsbrot, „Wer über die Vergangenheit schweigt, riskiert sein Leben. Gespräch mit der Schriftstellerin Cécile Wajsbrot“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.4.2008, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gespraech-mit-der-schriftstellerin-cecile-wajsbrot-wer-ueber-die-vergangenheit-schweigt-riskiert-sein-leben-1545123.html. Abgerufen am 15.8.2015.
[5] Der 2002 erschienene Roman Caspar Friedrich Strasse (Paris: Zulma) kann als ihr erstes Buch über Berlin und die deutsche Geschichte gelten. Die Idee zu diesem Buch kam ihr nach ihrem zweiten Deutschlandbesuch, einem mehrwöchigen Berlinaufenthalt im Jahre 2000. Als zweiter Berlin-Roman kann das 2008 erschienene L’Île aux musées (Paris: Denoël) genannt werden, dessen Entstehung in die Zeit ihrer Ansiedelung in der bundesdeutschen Hauptstadt fällt. Die deutsche Übersetzung von Caspar Friedrich Strasse ist 2003 unter dem Titel Mann und Frau den Mond betrachtend bei Liebeskind in München erschienen (Übersetzung Holger Fock und Sabine Müller).
[6] W wie ihr Name/Avec un double V, eine Koproduktion von Saarländischer Rundfunk, Deutschlandradio und France Culture; Produktion: 22.10.-19.11.2012, Paris, Maison de la Radio; Ursendungen: 13.01.2013 auf SR2 KulturRadio (deutsche Fassung); 16.01.2013 auf DeutschlandRadio Kultur (deutsche Fassung); 23.01.2013 auf France Culture (französische Fassung); Regie: Marguerite Gateau; Assistenz: Benjamin Hû, Jakob Diehl; Musik: Jakob Diehl; Ton: Bruno Mourlan; Technik: Martin Delafosse. Schauspieler: Aurélie Youlia, l’élève/die Schülerin; Andrea Schieffer: le professeur/die Lehrerin; Geno Lechner: la Langue/die Sprache; David Bennent: le Temps/die Zeit; Anne Bennent: la Mort/der Tod.
[7] Wie in ihrem Gesamtwerk die eigene Familiengeschichte generell einen zentralen Platz einnimmt. Siehe Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Du silence à la voix, Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot. Göttingen: V+R Unipress, 2010, S. 7-28, hier S. 8.
[8] Damit soll nicht die Gleichwertigkeit von Sprache und Kultur postuliert, sondern Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel vielmehr als die intensivste Form des Kulturkontakts betrachtet werden. Siehe hierzu u.a. Edzard Obendiek, Der lange Schatten des babylonischen Turmes. Das Fremde und der Fremde in der Literatur. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2000, S. 161.
[9] Hier muss angefügt werden, dass viele Menschen in Frankreich spontan dazu neigen, anstelle der von der Autorin erwünschten Aussprache [vaisbʀɔd] die im Französischen ‚korrekte’ phonetische Umsetzung [vaʒbʀɔ] für dieses Patronym zu verwenden, was bereits zu einer Art jiddisch-französischen Verdoppelung des Namens in Frankreich führt.
[10] Siehe Patricia Oster, „’Transfuges’ entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs im Werk Cécile Wajsbrots“, in: Roswitha Böhm/Stephanie Bung/Andrea Grewe (Hrsg.), Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr 2009, S. 237-256.
[11] Nach Abschluss der Arbeit an vorliegendem Beitrag entstand beim Saarländischen Rundfunk unter dem Titel Sirenengesang ein neues zweisprachiges Hörspiel Cécile Wajsbrots, wobei diesmal die deutsche Sprache dominiert. Ursendung am 4.10.2015; abgerufen am 1.10.2015.
[12] Die jüdische Identität der ‘Schülerin’ wird im Hörspiel nicht explizit thematisiert, darf jedoch aufgrund zahlreicher Indizien und angesichts der autobiographischen Grundierung dieser Figur als erwiesen gelten.
[13] Daneben kann man im Text auch die Präsenz anderer Sprachen ausmachen, des Jiddischen vor allem, aber auch des Englischen, das in Form eines mehrsprachigen Wortspiels auftaucht: „[Le professeur:] Jetzt bin ich hier, und trage, übertrage die deutsche Sprache—als Geschenk, als Gift?“, Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit. Hervorhebung durch den Verfasser.
[14] Siehe Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 7.
[15] Cécile Wajsbrot, „Wer über die Vergangenheit schweigt, riskiert sein Leben“, op. cit.
[16] Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit. Am Ende des Stücks lässt sie die (deutsche) Sprache sagen: „Bei mir bist du viel mehr zuhause [als im Französischen]“. Zusatz vom Verfasser.
[17] Siehe u.a. Jeanine Treffers-Daller und Roland Willemyns (Hrsg.), Language Contact at the Romance-Germanic Language Border. Clevedon, Buffalo/Toronto/Sydney: Multilingual Matters 2002.
[18] Siehe u.a. Marcel Krings und Roman Luckscheiter (Hrsg.), Deutsch-französische Literaturbeziehungen, Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007.
[19] Siehe u.a. Leonard Forster, Dichten in fremden Sprachen. Vielsprachigkeit in der Literatur. München: Francke 1972; Georg Kremnitz, Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Wien: Edition Praesens 2004.
[20] Siehe hierzu auch meinen Aufsatz „La création translingue dans les relations littéraires franco-allemandes aujourd’hui“, in: Olga Anokhina und François Rastier (Hrsg.), Ecrire en langues, littératures et plurilinguisme, Paris: Editions des Archives contemporaines, 2015, S. 19-28.
[21] Siehe Kremnitz, op. cit., 120ff.
[22] Siehe hierzu u.a. Ahlrich Meyer, Täter im Verhör. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich 1940—1944. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005.
[23] Die wesentlichen Elemente dieser Familiengeschichte sind u.a. in ihrem autobiographischen Roman Mémorial (Paris: Zulma 2005) verarbeitet worden. Das Buch ist 2008 unter dem Titel Aus der Nacht in deutscher Übersetzung bei Liebeskind in München erschienen (Übersetzung Holger Fock und Sabine Müller).
[24] Siehe u.a. die Aufzeichnungen in dem für das französische Radio geschriebenen, tagebuchähnlichen Text Beaune-la-Rolande. Paris: Zulma 2004, S. 36. Die deutsche Übersetzung des Hörspieltextes erschien 2012 unter dem Titel Die Zeremonie im Heft 2 der Zeitschrift Sinn und Form (Übersetzung Hans Thill).
[25] Zu ihrer progressiven Annäherung an Deutschland siehe Elke Richter und Natascha Ueckmann, „’Das unwiderruflich Verlorene und das alltägliche Leben’, Interview mit Cécile Wajsbrot“, in: Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 79-87, hier S. 79-80.
[26] Im Hörspiel legt Wajsbrot diesen Ausdruck („Zwillingssprache“/“langue jumelle“) bezeichnenderweise in den Mund der stark autobiographisch gefärbten Figur der Schülerin. Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit.
[27] Wozu jedoch nach Aussage der Autorin erst der Wunsch der Regie den Anlass gab. Cécile Wajsbrot, Interview mit dem Verfasser, Paris, 04.04.2014. Ich möchte der Autorin an dieser Stelle ausdrücklich für dieses Gespräch und ihre großzügige Hilfe bei der Arbeit an vorliegendem Beitrag danken.
[28] Diese Ausdrücke werden ebenfalls wortwörtlich im Hörspiel gebraucht.
[29] In W wie ihr Name (op. cit.) berichtet die Schülerin: „Die Sprache des Feindes. Die aber ähnelt der Sprache meiner Familie. Comme une cousine, une soeur. Ich möchte gern, dass du mich verstehst, wenn ich in dieser Sprache spreche, sagt meine Großmutter. Aber nie hätte sie daran gedacht, sie mir beizubringen. Diese Sprache lehrt man nicht, nein, man muss den Weg über die andere Sprache nehmen, über die offizielle, die adlige, diejenige, die im Gymnasium ein Aufenthaltsrecht besitzt.“ Siehe auch Cornelia Geißler, „’Ich lerne Deutsch, um Jiddisch zu verstehen.’ Zu Gast in Berlin: Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot stellt Fragen nach der Erinnerung.“ Berliner Zeitung, 27.06.2006. URL: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/zu-gast-in-berlin–die-franzoesische-schriftstellerin-c-cile-wajsbrot-stellt-fragen-nach-der-erinnerung-ich-lerne-deutsch–um-jiddisch-zu-verstehen,10810590,10398374.html. Abgerufen am 15.8.2015.
[30] In Caspar Friedrich Strasse (op. cit., S. 51) lässt sie den Erzähler diese Vorreiterrolle Deutschlands im Bereich der Erinnerungskultur wie folgt beschreiben: „Par notre histoire tragique et l’effroi que nous avons suscité, par les ruines et les blessures qui s’en sont suivies, nous sommes devenus, en Allemagne, particulièrement à Berlin, des éclaireurs parce que nous sommes allés au bout de quelque chose que personne, avant nous, n’avait osé explorer aussi systématiquement, nous sommes descendus au fond du gouffre pour en rapporter les rais éblouissants d’une lumière noire, nous avons extrait les diamants les plus sombres, et l’or et plus impur.“/„Durch unsere tragische Geschichte und die Schrecken, die wir erzeugt haben, durch die Trümmer und die Wunden, die daraus hervorgegangen sind, sind wir in Deutschland, vor allem in Berlin, zu Aufklärern geworden, denn wir sind vollständig in etwas vorgedrungen, was niemand vor uns so vollständig zu ergründen gewagt hatte, wir sind in die Tiefe des Abgrunds hinabgestiegen, um daraus die blendenden Strahlen eines schwarzen Lichts heraufzuholen, wir haben die dunkelsten Diamanten und das unreinste Gold zu Tage gefördert.“ (Übersetzung durch den Verfasser).
[31] Siehe Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 9. In Caspar Friedrich Strasse (op. cit., p. 27) schreibt Wajsbrot über Berlin: „aucune ville au monde n’a autant de plaques, de mémoriaux“/“Keine Stadt auf der Welt besitzt so viele Gedenktafeln und Denkmäler“ (Übersetzung durch den Verfasser).
[32] Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit. An einer anderen Stelle lässt die Autorin die Figur des Todes sagen: „J’ai étendu mon règne. Mein Schatten hat sich auf die Sprache gelegt, begleitet sie mit Treue.“
[33] Seit dem Jahr 1993 ist Cécile Wajsbrot als Übersetzerin aus dem Englischen tätig. Seit 2005 übersetzt sie auch aus dem Deutschen (u.a. Werke von Peter Kurzeck und Marcel Beyer).
[34] „Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à l’oublier. Le refoulement a pris toute la place et sous couvert de théorie littéraire, l’écriture s’est substituée à la littérature—sous prétexte d’intelligence“, Cécile Wajsbrot, Pour la littérature, Paris: Zulma, 1999, S. 27. Übersetzung durch den Verfasser. Siehe auch ihren 1997 erschienenen Roman La Trahison (Paris: Zulma, 1997), in dem sie das französische Schweigen über die Mit-Verantwortung des Vichy-Regimes an der Deportation der französischen Juden thematisiert. Auch in ihren darauf folgenden Werken wird dieser Topos wiederkehren, so z.B. in L’Île aux musées (op. cit., S. 126). Die deutsche Übersetzung von La Trahison ist 2006 unter dem Titel Der Verrat bei Liebeskind in München erschienen (Übersetzung Holger Fock und Sabine Müller).
[35] Siehe auch Henry Rousso, Le syndrome de Vichy : de 1944 à nos jours. Paris: Le Seuil, 1987; Jürg Altwegg, Der lange Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Verdrängten. München: Hanser, 1998.
[36] Über Wajsbrots Gefühl der ‚Fremdheit’ gegenüber ihrem Heimatland Frankreich siehe Richter/Ueckmann, op. cit., S. 80-81. Das Thema der Fremdheit taucht im Hörspiel auch in Form eines intertextuellen Bezuges zu Wolfgang Borcherts berühmten Theaterstück Draußen vor der Tür (1947/1949) auf.
[37] Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos, 2005, S. 199.
[38] Siehe Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 8.
[39] Siehe hierzu Beaune-la-Rolande, op. cit., S. 42 und Mémorial, op. cit., S. 121.
[40] Zur fehlenden bzw. problematischen Weitergabe der traumatischen Erinnerungen der Eltern- und Großelterngeneration siehe Mémorial, op. cit., S. 87.
[41] Nach dem Studium der Komparatistik sowie der Arbeit als Französischlehrerin hatte Cécile Wajsbrot eine Zeit lang als Literaturredakteurin für den Hörfunk gearbeitet. Als Autorin hat sie seit 1991 mehr als zehn Hörspiele verfasst, wovon einige in deutscher (Allo)Übersetzung vom Saarländischen Rundfunk ausgestrahlt wurden. Interessanterweise meint die jahrelange Produzentin der französischen Hörspiele Wajsbrots eine Nähe zwischen dem Stil dieser französischen Hörspiele und den Eigenheiten der deutschen Sprache feststellen zu können. Siehe Marguerite Gateau, “La place de la radio dans l’oeuvre de Cécile Wajsbrot“, in: Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 157-164, hier S. 158.
[42] Siehe Marguerite Gateau, op. cit.
[43] Cécile Wajsbrot, Interview mit dem Verfasser, Paris, 04.04.2014.
[44] Präsentation des Hörspiels auf der Website von Deutschlandradio Kultur („W – wie ihr Name. Avec un double V (Ursendung) von Cécile Wajsbrot“). URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/w-wie-ihr-name-avec-un-double-v.964.de.html?dram:article_id= 230706. Abgerufen am 15.8.2015.
[45] Präsentation des Hörspiels auf der Website von France Culture („L’Atelier fiction: Avec un double V de Cécile Wajsbrot“). URL: http://www.franceculture.fr/emission-l-atelier-fiction-l-atelier-fiction-avec-un-double-v-2013-11-12. Abgerufen am 15.8.2015. Um den translingualen Charakter des Werks zu würdigen, werden die Zitate aus den beiden Fassungen des Hörspiels generell nicht übersetzt bzw. ‚vereinsprachigt.’
[46] Ibid.
[47] Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht näher auf die medialen Eigenheiten der Gattung Hörspiel eingegangen werden, welches in Punkto Mehrsprachigkeit den Einsatz künstlerischer Mittel erlaubt, die dem schriftlichen Text versagt bleiben. In dieser Hinsicht wäre auch die Frage des Akzents der an der Produktion beteiligten Schauspieler zu analysieren.
[48] Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit.
[49] Cécile Wajsbrot, Avec un double V, unveröffentlichtes Hörspielskript.
[50] Bis in die jüngste Sprachgeschichte hinein wurde dieser Buchstabe in den französischen Wörterbüchern nicht als eigenständiger Buchstabe behandelt, sondern dem V assimiliert, was im Hörspiel explizit thematisiert wird: „L’ELEVE—Weißt du, wann das W im Alphabet als eigener Buchstabe eingeführt wurde? Als dreiundzwanzigster? / DIE SPRACHE—Keine Ahnung. / L’ELEVE—1964. Offizielles Geburtsdatum, später als meines.“ W wie ihr Name, op. cit.
[51] Ibid.
[52] Doch lassen sich auch in den Äußerungen der „Lehrerin“ durchaus Anklänge an Wajsbrots Biographie und an manche ihrer andernorts gemachten Selbstäußerung finden.
[53] Siehe Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 9.
[54] Hier sei erneut auf die im Internet abrufbaren Hördateien verwiesen. Siehe Anm. 2.
[55] Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit.
[56] Ibid.
[57] Siehe oben in den Fußnoten die bibliographischen Angaben zu den deutschen Übersetzungen der hier zitierten Werke Wajsbrots.
[58] „nous pourrons peu à peu absorber l’horreur qui nous hypnotise et nous défaire de la pétrification où nous étions“, Cécile Wajsbrot, Caspar Friedrich Strasse, op. cit., S. 111. Übersetzung durch den Verfasser.
[59] Siehe Ottmar Ette, „’Caspar-David-Friedrich-Strasse’: Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit“, in: Böhm/Zimmermann, op. cit., S. 223-239.
[60] In diesem Sinne unterscheidet sich ihre Position als Jüdin entscheidend von der eines Vladimir Jankélévitch, der nach 1945 und Zeit seines restlichen Lebens vehement jede Möglichkeit einer deutsch-französischen Versöhnung ablehnte. Siehe hierzu Jacques Derrida, Pardonner. L’impardonnable et l’imprescriptible, Paris: Galilée 2012.
[61] Cécile Wajsbrot, W wie ihr Name, op. cit.
[62] Siehe Anm. 44.