The Other Side of Things / Zafer Şenocak / translated by Ardo Ali, Oliver Arter, Deniz Göktürk, Jezell Lee, Elizabeth Sun, and Qingyang Zhou | TRANSIT

­The Other Side of Things
by Zafer Şenocak
TRANSIT Vol. 13, No. 1

Translated by Ardo Ali, Oliver Arter, Deniz Göktürk, Jezell Lee, Elizabeth Sun, Qingyang Zhou on Zoom and Google Docs in the seminar on “Modern German Literature: Archival Resistance”

Excerpt from the forthcoming novel Eurasia

[Related Links: Deniz Göktürk’s introduction; an earlier excerpt from Eurasia, translated by David Gramling and published in TRANSIT 5.1; a co-translation of Zafer Şenocak’s “The Hour of Assembly” by Oliver Arter and Elizabeth Sun; Kristin Dickinson’s translations of Zafer Şenocak’s “Empty Archives – Lost Letters” and “Church Bells in Istanbul”]


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I had inherited a case full of papers. A small black briefcase. One would expect it to contain, at best, official documents, certificates, bureaucratic language. But the case was full of poetry. The texts, handwritten on loose sheets of varied sizes in shades of discolored yellow, were addressed to me — “My dear son”– but they did not read like letters. Rather, they seemed to move away from the addressee and into a language more concerned with itself.

In such a language, the reader becomes entangled and can no longer leave the text. That is what happened to me. As I read, my thoughts let go of me, I hurried away from them and became perfectly thoughtless. The words I read spread themselves through the emptiness my thoughts left behind and built a new world for me, one that was not grandiose but still mysteriously intricate. It pulled me in like a magnet.

Though elusive to thought, it was a world that invited me to explore its uncharted side. This other side of things, forever in the dark, I could now discover. I only had to flip the sheets before me, decipher the script on the back, and wherever illegible, trust in the transparency of the papers that would reveal the secrets of a foreign tongue.

This is the father tongue. It possesses a powerful, mysterious, pervasive quality, without being invasive, for it belongs to a trusted voice on which one cannot help but lean–a voice to depend on without worry, knowing the risk of self-abandonment and effacement. Was there any way to rebel against such an impulse? Such a possibility does not exist against a magnet. Unless you relinquish your innermost ore and become ambiguous and impersonal.

I was happy to own these pages. Indeed, I was also somewhat proud. These pages with notes and entries from a far-away time, revealed not by a date but the yellowed paper; the sheets, completely covered in the script with which I learned to read, felt like my own skin. They now taught me a new mode of thinking. I had to forego the thoughts that had once brought order and security into my life, for they could no longer fulfill this role.  

The father tongue enables you to remain silent. It locks you in and protects you from being accessed. From the outside, you can no longer be seen. But within, you discover the highs and lows. At birth, you beheld the light of the world, but now you carry this light from one world to the other. The lost land, the forlornness of your father, such an unattainable distance becomes small as a signet ring, a chip of the nail, quick as a breath of air, distant as a polar star. The pain of your father becomes your inspiration—his homesickness is your longing for unexplored terrain.

Hence this fear to embark on a long journey. The false tracks you have laid out.

 


Die Rückseite der Dinge
by Zafer Şenocak

Auszug aus dem Romanprojekt Eurasia

Ich hatte einen Koffer voller Texte geerbt. Ein kleiner schwarzer Diplomatenkoffer. Man vermutet darin bestenfalls offizielle Dokumente, Zeugnisse, Amtsdeutsch. Doch der Koffer war voller Poesie. Die Texte, die handschriftlich festgehalten, auf den losen, unterschiedlich großen, mehr oder weniger vergilbten Blättern standen waren an mich gerichtet, da sie mit der Anrede „mein lieber Sohn“ begannen, aber sie lasen sich nicht wie Briefe, sondern schienen sich von dem Adressaten zu entfernen, in eine Sprache hinein, die mit sich selbst beschäftigt war.

In solch einer Sprache liest sich der Leser fest, er kommt aus dem Text nicht mehr heraus. So erging es mir, ich las und meine Gedanken ließen mich los, ich enteilte ihnen und wurde vollkommen gedankenlos und die Sprache, die ich gerade gelesen hatte, verteilte sich in die von meinen Gedanken hinterlassene Leere, baute eine neue Welt für mich, nicht großspurig, aber geheimnisvoll verwinkelt, übte sie eine fast schon magnetische Anziehung auf mich aus. Eine Welt, die sich denkend nicht erschließen würde, mich aber an der bislang unentdeckten Seite dieser Welt Teil haben ließ. Diese Rückseite der Dinge, die immer dunkel bleibt, konnte ich jetzt entdecken. Es genügte die Blätter, die vor mir lagen, zu drehen, die Schrift auf ihrer Rückseite zu entziffern, und dort, wo sie unleserlich blieb, auf die Durchsichtigkeit des Papiers zu vertrauen, die mir die Geheimnisse einer fremden Sprache enthüllen würde.

Das ist die Vatersprache. Sie hat etwas Mächtiges, Mysteriöses, Durchdringendes, ohne dringlich zu sein, denn sie gehört einer vertrauten Stimme an, an die man sich anlehnen muss. Sorglos anlehnen, wissend, dass dabei Selbstaufgabe und Auslöschung droht. Gab es denn eine Möglichkeit, sich aufzulehnen? Gegen einen Magneten gibt es keine solche Möglichkeit. Es sei denn, man gibt sein eigenes innerstes Erz auf, wird schwammig und unpersönlich.

Ich war froh, diese Blätter zu besitzen. Ja, ich war auch etwas stolz. Diese Blätter mit den Notizen und Eintragungen aus fernen Zeiten, dafür sprach zwar keine Datierung, aber das vergilbte Papier; die Seiten, vollgeschrieben in der Schrift, mit der ich das Lesen gelernt hatte, fühlten sich an wie die eigene Haut. Sie brachten mir jetzt neues Denken bei. Dafür musste ich ohne die Gedanken auskommen, die einst mein Leben geordnet und abgesichert hatten, diese Funktion aber nicht mehr erfüllten.

Die Vatersprache ermöglicht dir zu schweigen. Sie schließt dich ein und schützt dich vor Zugriffen. Von außen wirst du unsichtbar. In dir aber entdeckst du Höhen und Tiefen. Bei der Geburt hast du das Licht der Welt erblickt, jetzt aber trägst du es aus einer Welt in die andere. Das verlorene Land, das Verlorene deines Vaters, eine unerreichte Ferne wird klein wie ein Siegelring, ein abgeschnittener Nagel, kurz wie ein Atemzug, fern wie ein Polarstern. Was für deinen Vater Leiden war, wird dir zur Inspiration, sein Heimweh ist dein Fernweh.

Zugleich diese Angst, auf eine lange Reise zu gehen. Die falschen Fährten, die du gelegt hast.